„Organizing“ oder Selbstorganisation? – eine Debatte mit Marx21

09.10.2020, Lesezeit 15 Min.
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Jane McAlevey bei der Konferenz «Aus unseren Kämpfen lernen» Foto: Niels Schmidt

Seit einigen Jahren schon treibt das Schlagwort „Organizing“ besonders Linke in den Gewerkschaften um. Auch durch die aktuellen TVöD-Streiks geistert der Begriff. Aber was ist eigentlich gemeint, wenn von Organizing die Rede ist? Und was finden Gruppen wie Marx21 daran so gut?

Kaum eine Diskussion über die Zukunft der Gewerkschaften kommt heute ohne dieses Schlagwort aus: „Organizing“. Dabei ist häufig gar nicht so klar, was damit gemeint ist. Eine Definition ist tatsächlich nicht ganz einfach, eine deutsche Übersetzung hilft auch nicht wirklich weiter. Mal heißt es, es sei „nichts anderes, als die Organisierung der Beschäftigten im Betrieb für eine starke Gewerkschaft.“ Oder aber: „Organizing lässt sich in der Aussage ‚Wir selbst bilden die Gewerkschaft im Betrieb‘ zusammenfassen.“ Oder etwas umfassender: „Eine systematische Kampagnenführung unter Einschluss gesellschaftlicher Bündnispartner, neue Formen der Ansprache betrieblich Aktiver, die gezielte Erschließung unorganisierter Bereiche und der Fokus auf den Aufbau betrieblicher Aktivenstrukturen.“

Ganz allgemein gesprochen ist Organizing also Teil einer Diskussion um gewerkschaftliche Erneuerung. Die Gewerkschaften befinden sich in einer schwierigen Lage: schwindende Mitglieder, Rückgang von Tarifbindung, mangelnde Verhandlungsmacht. Organizing ist ein Versuch, die gewerkschaftliche Misere durch Aktivierung bestehender und Gewinnung neuer Mitglieder aufzuhalten. So weit, so gut.

Eine gewisse Aufmerksamkeit hat auch in Deutschland die US-amerikanische Gewerkschaftsbürokratin Jane McAlevey auf das Thema gelenkt. Vergangenes Jahr erschien auf Deutsch ihr Buch „Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing“ als Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit einer Einleitung von Florian Wilde. An mehreren Beispielen der letzten zwanzig Jahre versucht sie zu zeigen, wie ihr Ansatz des Organizings in der Praxis zu Erfolgen für Beschäftigte und Gewerkschaften geführt habe. Anfang 2019 war sie auf der „Streikkonferenz“  der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in Braunschweig zu Gast und erntete für ihren Vortrag über die großen Lehrer:innenstreiks in den USA viel Zuspruch. Derzeit läuft online eine „Streikschule“ mit McAlevey, an deren Organisation auch die RLS beteiligt ist.

Dieser Artikel erhebt nicht den Anspruch, eine umfassende Rezension von McAleveys Buch zu leisten. Interessant ist aber, welche Elemente ihres Arguments in Deutschland aufgegriffen wurden. Für das posttrotzkistische Magazin Marx21 des gleichnamigen Netzwerks in der Partei Die Linke haben Katharina Stierl, Kerem Billor und Anton Dormann (von dem auch die Einschätzung von Marx21 zur TVöD-Runde stammt) eine begeisterte Besprechung verfasst. Sie schreiben: „Das Buch ist eine absolute Pflichtlektüre – nicht nur für gewerkschaftliche Aktive.“

Sie rekapitulieren McAleveys Kategorisierung in drei unterschiedliche Ansätze gewerkschaftlicher Politik. Da ist einerseits die reine Stellvertreter- oder Lobbypolitik („Advocacy“), bei der die Beschäftigten kaum eine Rolle spielen und gelegentlich sogar hinderlich sein können. Etwas mehr Beteiligung erlaubt dann das „Mobilizing“, eine tatsächliche Mitgliederbeteiligung bietet dann aber erst das Organizing.

Der Versuch einer Definition nach McAlevey

Einige Stichworte dessen, was Organizing ausmachen soll, sind bereits gefallen: Kampagnenführung, gesellschaftliche Bündnispartner, Erschließung unorganisierter Bereiche, Mitgliederbeteiligung. McAlevey diskutiert ihre Vorstellung des Organizing vor allem in Abgrenzung von dem ihrer Meinung nach in den Gewerkschaften vorherrschenden Mobilizing-Ansatz. Was sie unter diesem Stichwort zusammenfasst, klingt mehr als bekannt: wenige, meist nur „symbolische“ Streiks, Beteiligung einer Minderheit von Beschäftigten, die Bereitschaft zu beträchtlichen Zugeständnissen in Verhandlungen.

Organizing nach McAlevey will das Gegenteil davon sein. Die Beschäftigten sollen eine zentrale Rolle spielen, die Verhandlungen partizipativ sein, Mehrheitsstreiks sollen zur erheblichen Verbesserung der Arbeits- und Lebensqualität der Beschäftigten geführt werden. Zentrale Aufgabe der haupt- oder ehrenamtlichen Organizer:innen ist es, unter den Beschäftigten „organische AnführerInnen“ auszumachen. Diese sollen dann ausgebildet werden („Führungstraining“) und im Betrieb Teil der Führung der Organizing-Kampagne werden.

Der Sozialpartnerschaft einfach den Rücken kehren?

Was gefällt den Rezensent:innen von Marx21 nun an dem Buch? McAlevey mache unmissverständlich klar, dass „die Gewerkschaften sich grundlegend erneuern müssen, wenn sie für die kommenden Kämpfe gewappnet sein wollen.“ Die Gewerkschaften müssten demokratischer gestaltet werden und ihren Fokus weg von Stellvertretertum und Sozialpartnerschaft legen. Da kommt McAlevey Marx21 gerade recht, schließlich legt das Netzwerk einen besonderen Fokus darauf, „das zarte Pflänzchen der gewerkschaftlichen Erneuerung zu pflegen.“

Marx21 hat recht, wenn es die Sozialpartnerschaft als ein zentrales Problem der Arbeiter:innenklasse in Deutschland identifiziert. Marx21 versteht darunter, wenn „Vereinbarkeit der Interessen von Kapital und Arbeit unterstellt und mit einer Politik des Stellvertretertums kombiniert“ (ebd.) wird. Aufgabe sei es folglich, „einen Pol links von der Sozialdemokratie in den Arbeitnehmerorganisationen aufzubauen.“

Der Hinweis auf die enge Verbindung zwischen der Sozialdemokratie und der Ideologie der Sozialpartnerschaft ist völlig gerechtfertigt. Doch die Schlussfolgerung, man müsse, um dem Herr zu werden, lediglich einen linken Pol bilden, ohne zu präzisieren, wie ein solcher aussehen soll, ist nicht hilfreich.

Denn die Ideologie der Sozialpartnerschaft existiert jedoch nicht in einem Vakuum. Vielmehr gibt es in den Gewerkschaften eine Schicht, die sie trägt: die Bürokratie. So ist das Problem nicht etwa nur, dass SPD-Mitglieder ihre sozialdemokratischen Gedanken in den gewerkschaftlichen Apparat tragen. Dieser Apparat selbst existiert dazu, einen Ausgleich zwischen den Klassen zu schaffen. Seine Existenz ist an diese Rolle der Vermittlung gebunden. Wenn Marx21 hingegen von Bürokratie spricht, so handelt es sich für sie nicht etwa um eine materielle Position, sondern eher um ein Problem des falschen Bewusstseins.

Es verwundert nicht, dass Marx21 sich in dieser Frage so für McAlevey erwärmen kann. Auch für sie ist die Ideologie der Klassenkollaboration ein wenig wie ein Paar unbequeme Schuhe – wenn man sie loswerden möchte, muss man sie einfach ablegen. Oder in ihren Worten: „Motivation und/oder Ideologie der Führung [sind] ausschlaggebend dafür, ob eine Gewerkschaft sich oligarchisch entwickelt oder nicht.“ (S. 50). Bürokratie ist für sie wie für Marx21 keine materielle Frage, sondern eine des Bewusstseins.

Die Beschäftigten ins Zentrum – und was passiert mit der Bürokratie?

Das Konzept des Organizing behauptet, wie bereits erwähnt, die Beschäftigten ins Zentrum zu stellen. Erinnern wir uns aber an das eingangs gebrachte Zitat: „Wir selbst bilden die Gewerkschaft im Betrieb“. Diese Definition stammt aus der Broschüre „Organizing. Gewerkschaft als soziale Bewegung“ der ver.di-Sekretärin Agnes Schreieder aus dem Jahr 2005. Sie reflektiert darin ihre Erfahrungen ihrer Beteiligung an Organizing-Kampagnen in den USA im Jahr zuvor.

Auch diese Definition klingt erst einmal vielversprechend – nach Selbstorganisation und Basisdemokratie. Vielsagend ist jedoch vor allem, was die Definition impliziert: Wir bilden die Gewerkschaft im Betrieb, d.h. über den Betrieb hinaus bleibt die Gewerkschaft – der Apparat.

Dass es sich hierbei nicht etwa nur um eine böswillige Auslegung eines aus dem Kontext genommenen Zitats handelt, macht eine aufmerksame Lektüre von McAleveys Ausführungen deutlich. Auch sie schlägt bei Weitem nicht vor, die Basis aus den Betrieben solle die Kontrolle über die Gewerkschaft erlangen. Es geht McAlevey also nicht etwa darum, den bürokratischen Apparat der Gewerkschaften unnötig zu machen, sondern lediglich darum, seine Präsenz im Betrieb zu verändern: „Erfahrene Hauptamtliche machen definitiv einen Unterschied, doch ihre Rolle sollte die eines oder einer TrainerIn, MentorIn, GeschichtslehrerIn für die organischen Führungspersonen der Basis zu sein.“ (S. 233). Im Organizing bedeutet, die Beschäftigten ins Zentrum zu stellen, dass die Vertreter:innen der Gewerkschaftsbürokratie ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken sollten.

Auch Katharina Stierl, die zu der Rezension von McAleveys Buch in Marx21 beigetragen hat, teilt diese Perspektive. Ihr geht es darum, „nicht die per se schon in einer monetären Abhängigkeit hängenden Funktionäre zu empowern, sondern vor allem die Kolleg*innen im Betrieb.“ Das Wort Bürokratie bringt sie zwar nicht zu Papier, sie spricht jedoch immerhin die „monetäre Abhängigkeit“ der Gewerkschaftsfunktionär:innen aus. Aber auch bei Stierl gilt: Empowerment (was auch immer das konkret bedeuten mag) statt Konfrontation.

Strategie und Macht

McAlevey betont immer wieder die besondere Rolle der Strategie in Organizing-Kampagnen. Dafür greift sie auf eine Definition von Marshall Ganz zurück. Dieser beriet ab 2007 u.a. auch Barack Obama und bildete die Organizer:innen aus, die Obama zur US-Präsidentschaft verhalfen. Seine Definition klingt eingängig. Es gehe um „die Verwandlung dessen, was man hat, in das, was man braucht, um das zu kriegen, was man will.“ (S. 29)

Mit diesem Verständnis von Strategie eng verbunden ist für McAlevey der Begriff der Macht (power).  Wilde versucht, im Vorwort zusammenzufassen, dass es sich hierbei „nicht staatliche Macht, sondern Selbstermächtigung, Gegenmacht und Durchsetzungsfähigkeit einfacher, arbeitender Menschen und ihrer Organisationen“ (S. 9) handelt. Es geht also nicht um Macht über, sondern um Macht zu. Nur – was will McAlevey, was will Marx21 denn eigentlich? Worauf zielt die Strategie, wozu soll die Macht eingesetzt werden?

Wilde selbst zufolge gehe es um den „Aufbau von betrieblicher Arbeitermacht durch die Selbstaktivität und Selbstermächtigung der Beschäftigten“ (S. 12.). Das scheint noch einmal radikaler als das, was McAlevey selbst schreibt. „Arbeitermacht“, das klingt nach Sozialismus, nach Sowjetrepublik. Es wirkt so, als seien Wilde als Veteran des Linksruck, der Vorgängerorganisation von Marx21, hier Versatzstücke des marxistischen Vokabular von damals herausgerutscht. Mit McAleveys eigenen Ausführungen hat dies jedoch eher wenig zu tun.

Wozu sollen McAlevey zufolge die einfachen, arbeitenden Menschen ihre Macht also einsetzen? Man müsse „genug Macht aufbauen, um auf Augenhöhe am Verhandlungstisch sitzen und Verbesserungen erzielen zu können.“ McAlevey nennt dies „Konzessionskosten“, also die „[b]enötigte Macht, um erfolgreich zu sein“ (S. 87) Diese ergeben sich aus dem ideologischen Widerstand des Arbeitgebers einerseits und den „Einigungskosten“, also die finanzielle Belastung, die eine Umsetzung der Forderung für den Arbeitgeber bedeuten würde. Habe ich es also mit einem hartnäckigen Gewerkschaftsfeind zu tun und will ihm große Zugeständnisse abringen, muss ich also mehr Druck aufbauen, um eine Einigung zu erzwingen.

Darum geht es also zuletzt: den Aufbau von Druck für den Verhandlungstisch. So sehr sie betont, im Organizing stünden die Beschäftigten im Zentrum, geht es am Ende doch nur darum, sie soweit zu mobilisieren (und sie bestenfalls selbst in die Mobilisierung einzubinden), dass sich der Druck auf die Kapitalseite soweit erhöht, dass Gewerkschaftsvertreter:innen bessere Verhandlungsergebnisse erzielen können.

Ein damit verbundenes Problem des Organizing nach McAlevey, das in Deutschland bisher kaum diskutiert worden ist, ist seine Ablehnung von Minderheitsstreiks. In McAleveys Vorstellung stehen vor einem erfolgreichen Streik Aktionen wie Fotopetitionen der Beschäftigten, die allmählich eine Mehrheit im Betrieb herstellen sollen, bevor es zur Arbeitsniederlegung kommen kann. Tatsächlich jedoch können Minderheitsstreiks durchaus darin erfolgreich sein, in prekären, schlecht organisierten Sektoren der Klasse eine kämpferische Avantgarde zu kristallisieren. Statt auf die Herstellung einer Mehrheit durch andere Mittel zu warten, besteht vielmehr die Aufgabe, durch Solidaritätsstreiks die voranschreitenden Beschäftigten zu unterstützen und ihre Kämpfe zu verallgemeinern.

Und in Deutschland? Kaum mehr als eine Karikatur

Auch wenn sich die Sozialpartnerschaft in Deutschland zunehmend verengt: Verglichen mit der Situation in den USA ist die institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Kapital und Arbeit hierzulande noch immer weitaus stabiler. Es verwundert also nicht, wenn das Organizing unter deutschen Bedingungen eine andere Form annimmt.

Trotzdem taucht in den aktuellen Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst der Begriff des Organizing immer wieder auf. McAleveys Definitionen aufgreifend könnte man formulieren, dass die Einigungskosten in diesen Verhandlungen höher sind als noch in den vorangegangenen – die kommunalen Arbeitgeberverbände verweisen stur darauf, dass die Kassen leer seien. Also muss mehr Druck aufgebaut werden, um zu einem Verhandlungsergebnis zu gelangen. Dabei kommt dem Gesundheitswesen eine besondere Bedeutung zu.

Es ist kein Zufall, dass das Organizing häufig mit dem Gesundheitssektor in Verbindung gebracht wird. McAlevey argumentiert, dass innerhalb des Dienstleistungssektors Gesundheit/Pflege eine strategische Branche ist. Schließlich gebe es keine Gefahr, dass Krankenhäuser ins Ausland verlegt werden könnten. Außerdem gebe es ein relativ enges Verhältnis zwischen den Beschäftigten und ihrer Community. Krankenhäuser seien eben keine umzäunten privaten Industrieparks. Mit der Coronakrise wird der Fokus auf das Gesundheitswesen als Feld der gewerkschaftlichen Aktion nur noch wichtiger: Das Renommee der „Held:innen“ wird in gesellschaftliche Solidarität oder wenigstens eine Toleranz gegenüber den Streiks umzumünzen versucht.

Wenn jedoch nur externe Organizer:innen – im Grunde der unterste Teil des gewerkschaftlichen Apparats – über die Stationen trotten und Arbeiter:innen von einer Gewerkschaftsmitgliedschaft und der Teilnahme an einem Streik überzeugen wollen, hat das mit dem oben skizzierten Idealbild des Organizings nur wenig zu tun. Folgt man McAleveys Kategorisierung, handelt es sich dabei bestenfalls um eine Form des „Mobilizing“. Auch das Konzept der Tarifbotschafter:innen, die ver.di in der aktuellen Tarifrunde unter den Beschäftigten gesammelt hat, um in den Belegschaften der Krankenhäuser für die Forderungen zu trommeln, ist bestenfalls ein schwacher Nachhall der Organizing-Diskussionen der vergangenen Jahre.

Welche Blüten das Organizing-Konzept in seiner praktischen Anwendung treiben kann, zeigt das Beispiel des Unternehmens „Organizi.ng“. Selbst beschreibt sich das Unternehmen als „der deutschlandweit einzige Spezialist für Telefoncampaigning, betriebliche Erschließung und für die Konzeption von gewerkschaftspolitischen Kampagnen.“ Als „Kollektiv von Organizer*innen“ arbeite man an gewerkschaftlicher Erneuerung. Die Selbstbeschreibung mag von einem „Kollektiv“ sprechen, doch ändert es nichts an der Tatsache, dass es sich um ein Unternehmen handelt.

Dass die Schlagworte hier sehr denen von Marx21 ähneln, hat einen einfachen Grund: es stecken dieselben Leute dahinter. Max Manzey, „Lead Organizer“ bei „Organizi.ng“, sowie Oskar Stolz und Luigi Wolf, beide Geschäftsführer, sind allesamt im redaktionellen Beirat von Marx21. Wolf ist außerdem Vorstand des Herausgebervereins der Printausgabe. Auf dem diesjährigen von Marx21 ausgerichteten „Marx is Muss“-Kongress standen gleich zwei Workshops zu Organizing mit Personen von „Organizi.ng“ im Programm. Es scheint kaum übertrieben zu behaupten, dass es sich bei „Organizi.ng“ um ein Marx21-Unternehmen handelt.

Das Empowerment der Basis nach Marx21 beläuft sich letztlich also darauf, dass von einem privaten, also gewinnorientierten Unternehmen bezahlte „Organizer:innen“ mit Beschäftigten telefonieren und SMS-Verteiler bedienen. Sie übernehmen die Arbeit, die ansonsten von Gewerkschaftssekretären geleistet werden müsste. Gleichzeitig versuchen sie junge, an gewerkschaftlichen Fragen interessierte Aktivist:innen für diese Perspektive zu rekrutieren und sie damit für eine bürokratische Perspektive zu vereinnahmen. Ein Marx21-Unternehmen bietet also der Gewerkschaftsbürokratie Dienstleistungen an – und führende Köpfe von Marx21 verdienen daran. Statt einen Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie zu führen, schafft das Organizing von Marx21 ein neues bürokratisches Anhängsel und verdient an einer Institutionalisierung des Aktivismus in der deutschen Linken auch noch mit.

Diese Anlehnung an den gewerkschaftlichen Apparat macht letztlich eine Kritik an dessen Politik unmöglich. In Berlin kämpfen die Beschäftigten der Charité Facility Management seit Jahren für eine Wiedereingliederung in den Mutterkonzern. Ihr Kampf wurde immer wieder von der Gewerkschaftsbürokratie ausgebremst, das Outsourcing fand damals unter einer Berliner Regierung mit Beteiligung der Partei Die Linke bzw. ihrer Vorgängerpartei statt. Marx21 hat sich in all dieser Zeit nie zu diesem Konflikt geäußert – sie wären gezwungen gewesen, Kritik zu üben. Ein Bündnis mit den Bürokratien in Gewerkschaft und Reformismus kann einem nur die Hände binden.

Wie die Arbeiter:innen ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen können

Wie oben bereits angedeutet, ist der von Marx21 angestrebte linke Pol kein gutes Mittel, um aus den Gewerkschaften wieder Kampforgane der Arbeiter:innen zu machen. In einem solchen Pol müssen sich notwendigerweise linke Bürokrat:innen und Arbeiter:innen gemeinsam wiederfinden (wie es auch bei Marx21 der Fall ist). Diese eint vielleicht eine „linke“ politische Perspektive, – ihre unterschiedlichen materiellen Interessen jedoch trennen sie.

Um die Gewerkschaften wirklich für die Arbeiter:innen zurückzuerobern, ist es nicht genug, darauf zu hoffen, dass ein Teil der Bürokratie durch die Kraft des reinen Arguments davon überzeugt wird, dass Konflikte mit der Kapitalseite die Gewerkschaften stärken würden und die Beschäftigten in Streiks eine größere Rollen spielen sollten. Diese Rückeroberung der Gewerkschaften muss viel umfassender sein und sie kann nur dadurch gelingen, die Bürokratie in den Gewerkschaften als separate Kaste überflüssig zu machen.

Dabei muss betont werden, dass der politische Inhalt der Gewerkschaftsbürokratie der Reformismus ist. Marx21 treibt das Organizing auch deshalb voran, weil ihre politische Perspektive darauf gerichtet ist, eine reformistische Partei – in diesem Fall Die Linke – für die Erfüllung des politischen Programms zu wählen. Die Wahl der linkeren Bürokratie ist dabei parallel zur Wahl der linkeren Variante der Sozialdemokratie. So wie Marx21 ablehnt, dass Arbeiter:innen die Bürokratie in ihren Gewerkschaften konfrontieren, so lehnt sie auch die politische Vereinigung der Arbeiter:innen in einer vom Kapital und seinen Vertretungen vollständig unabhängigen Organisation ab.

Wie eine politisch unabhängige Organisation mit dem Kampf für Streikdemokratie zusammenhängt, zeigt auch ein Beispiel aus Frankreich. Über den Jahreswechsel 2019/20 hinweg kam es dort zu einem 50-tägigen Streik der Beschäftigten der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF und der Pariser Verkehrsgesellschaft RATP gegen die Regierung von Emmanuel Macron und dessen geplante Rentenreform. An den Demonstrationen an einem einmaligen gewerkschaftlichen Aktionstag beteiligten sich bis zu 1,5 Millionen Menschen in ganz Frankreich. Bei der SNCF und der RATP jedoch konnte die Basis einen „verlängerbaren“ Streik erzwingen. Vorangetrieben von der Revolutionär-Kommunistischen Strömung (Courant Communiste Révolutionnaire, CCR), der Schwesterorganisation der RIO, gelang es den Beschäftigten wichtige Elemente der Selbstorganisierung herauszubilden, vor allem das „RATP-SNCF-Koordinations-Komitee“. Dort kamen Vertreter:innen aus mehreren Standorten zusammen, was der Mobilisierung gegen Macron einen starken Aufschwung brachte. Die Arbeiter:innen machten eine elementare Erfahrung mit der Streikdemokratie und konnten so ihren Streik auch gegen den Willen der gewerkschaftlichen Bürokratien so aufrechterhalten.

Um auch hierzulande zu tatsächlichen Formen der Streikdemokratie zu kommen, die über Zugeständnisse der Bürokratie hinausgehen, gilt es schwache Ansätze wie die Tarifbotschafter:innen radikal auszuweiten. Diese könnten als Vertreter:innen ihrer Stationen nicht nur als Transmissionsriemen für die Forderungen der Bürokratie fungieren, sondern als tatsächliche Delegierte ihrer Kolleg:innen. Sie sollten auf Versammlungen in den Betrieben (oder aufgrund des Infektionsschutzes nötig online) gewählt werden. Sie sollten diejenigen sein, die die tariflichen Forderungen diskutieren und festlegen, die einen Kampfplan nicht nur zur Erkämpfung der unmittelbaren Ziele, sondern gegen die Angriffe der Kapitalist:innen auf die gesamte Arbeiter:innenklasse entwerfen könnten.

Eine solche Organisierung hätte einen völlig anderen Inhalt als das Organizing à la McAlevey und Rosa-Luxemburg-Stiftung – und sie hätte auch eine ganz andere Form der Macht zur Folge.

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