Organizing für den Sozialismus?
Organizing ist in aller Munde: ob bei Genug ist Genug, in den Entlastungsbewegungen, bei der Konferenz Gewerkschaftliche Erneuerung oder beim "Marx is‘ Muss"-Kongress. Hilft uns Organizing für eine revolutionäre Perspektive?
In den Gewerkschaften organisieren sich alleine in Deutschland mehrere Millionen Arbeiter:innen. Viele revolutionäre Aktivist:innen sind sich einig, dass diese Organisationen, trotz ihrer Trägheit und bürokratischen Führungen, zentrale Orte für revolutionäre Politik sind. Wie diese auszusehen hat, darüber gibt es viele Differenzen. Eines der aktuell meist diskutierten Konzepte ist das Organizing.
Dabei handelt es sich sowohl um einen Methodenkoffer als auch um eine Strategie. In Deutschland wird Organizing insbesondere von der Rosa-Luxemburg-Stiftung vorangebracht. Die Verbindung zur reformistischen LINKEN ist hierbei kein Zufall. Insbesondere aus dem post-trotzkistischen Netzwerk Marx21 sind in den letzten Jahren Stimmen laut geworden, die Organizing zur Allheilmethode für die Probleme der Arbeiter:innenbewegung und Linken erklären wollen. Taugt Organizing für Revolutionär:innen als Strategie? Oder hält es schlussendlich doch reformistische und bürokratische Funktionsweisen aufrecht?
Der Diskurs um gewerkschaftliches Organizing wurde von der US-Amerikanerin Jane McAlevey geprägt. Sie ist Mitglied der Demokratischen Partei, hat als Community-Organizerin gearbeitet und ihre Erfahrungen mit Organizing-Kampagnen in mehreren Büchern zusammengefasst und theoretisiert. An den von ihr und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten Seminaren unter dem Motto „Organizing for Power“ (O4P) haben weltweit bereits über 27.000 Menschen teilgenommen. Auch in Deutschland lässt sich ein linker oder gewerkschaftlicher Kongress aktuell kaum ohne Organizing-Workshop vorstellen, in nahezu allen letzten Streikbewegungen spielten Organizer:innen eine Rolle. Doch zuerst: Was ist mit dem Begriff eigentlich gemeint?
Was ist Organizing?
Wir beziehen uns hier auf den Organizing-Begriff von McAlevey und dessen Interpretation für den deutschen Kontext. Unter Organizing lassen sich auch viele andere Konzepte fassen, von denen McAlevey ihr Konzept jedoch klar abgrenzt und die deshalb hier ausgelassen werden. Florian Wilde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung schreibt im Vorwort zu McAleveys „Macht Gemeinsame Sache“, dass das „Organizing Herangehensweisen und Werkzeuge [vereint], um Menschen zusammenzu-bringen und zu befähigen mithilfe kollektiven Handelns ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten.“ 1
Es geht also darum, Gewerkschaften in einer krisenhaften Situation zu stärken. Die sinkenden Mitgliederzahlen sollen gestoppt, der Rückgang der Tarifbindung bekämpft werden. McAlevey sieht auch in der Zunahme von gewerkschaftsfeindlichen Methoden, dem Union Busting, wie es von Großkonzernen wie Amazon und Tesla betrieben wird, eine Herausforderung, der Gewerkschaften entgegentreten müssen.
McAlevey ist überzeugt, dass es dafür auch in den Gewerkschaften Veränderung braucht. Die Herausgeber:innen der deutschen Übersetzung ihres aktuellen Buchs, Stefanie Holtz und Florian Wilde, beschreiben diese Perspektive im Vorwort so:
Die Autorin vertritt einen Organizing-Ansatz, der die Arbeitnehmer:innen und ihre Machtressourcen in den Mittelpunkt stellt: Beschäftigte müssen auf allen Ebenen selbst zu den zentralen Akteur:innen ihrer Bedürfnisse werden. Sie hat also nicht in erster Linie die Hauptamtlichen und auch nicht nur die langjährig bewährten Gewerkschaftsaktiven als Zielgruppe der Organisierung vor Augen, sondern die große Masse derer, die bislang nicht politisch oder gewerkschaftlich aktiv waren. Diese müssen gewonnen werden, denn nur mit ihnen zusammen lassen sich Mehrheiten in den Betrieben aufbauen. Eine Schlüsselrolle nehmen dabei in den Belegschaften besonders respektierte Kolleg:innen ein, die sogenannten organic leaders, und mit ihnen die möglichst vollständige Organisierung eines Betriebes, um erfolgreiche Streiks mit Beteiligung nahezu aller Arbeiter:innen durchsetzen zu können. Nach McAlevey sind wichtige Elemente des Aufbaus echter Gegenmacht: × die Nutzung inner- wie außerbetrieblicher Netzwerke der Beschäftigten, × ihre Mitwirkung an der Strategieentwicklung und × die direkte Teilnahme der Beschäftigten an Tarifverhandlungen.
Organizing bedeutet Aufbau von systematischer Gegenmacht. Deshalb steckt im Organizing sehr viel Potenzial für die Erneuerung bzw. Modernisierung der Gewerkschaftsarbeit.2
McAlevey definiert drei Kategorien von gewerkschaftlicher Politik. Die erste, meist gängige Praxis sei Advocacy, eine Stellverter:innen- oder Lobbypolitik, wo die Gewerkschaftsführungen für ihre Mitglieder entscheiden und diese keine Rolle spielen. Im Mobilizing würden Arbeiter:innen zwar zu Aktionen aufgerufen werden, doch nur im Organizing hätten sie die echte Möglichkeit, mitzubestimmen.
In „Macht. Gemeinsame Sache“ spricht McAlevey von der Notwendigkeit, dass Gewerkschaften ihr politisches Mandat wahrnehmen.3 In Deutschland, wo politischer Streik als verboten gilt und die Verbindung von gewerkschaftlichen und politischen Forderungen in der Regel vermieden wird, ist das eine Forderung, die wir unbedingt auch stellen müssen. Denn die Arbeitsbedingungen lassen sich nicht von politischen Fragen trennen. Als Beispiel nennt McAlevey Organizing-Kampagnen zum Schutz von Hotelangestellten gegen sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz. Sie legt einen hohen Fokus auf Sektoren, in denen besonders viele weibliche Arbeiterinnen beschäftigt sind. Diese sind historisch häufig die schlecht gewerkschaftlich organisierten Sektoren, wie Pflege, Erziehung, Reinigung, Service. Ein großes Maß an Prekarisierung, Teilzeit oder Leiharbeit erschweren die gewerkschaftliche Organisierung. Doch auch von Seiten der Gewerkschaftsführungen wurden sie häufig wenig beachtet: niedrige Löhne bringen niedrige Mitgliedsbeiträge und ihre Kampfkraft ist materiell gesehen niedriger als in den großen Industriezweigen, wo ein paar Stunden Streik Millionenverluste für die Kapitalseite bedeuten. McAlevey sieht in den feminisierten Bereichen auch eine strategische Macht: während Fabriken ins Ausland verlagert werden können, um Tariflöhne zu umgehen, ist das bei Krankenhäusern nicht möglich.
Dass Krankenhausbeschäftigte eine besondere Rolle einnehmen können, haben wir spätestens seit der Corona-Pandemie gesehen. Ihre Forderung „Gesundheit statt Profite“ hat deutlich gemacht, dass sie das Interesse der Mehrheit der Bevölkerung gegen die Kapitalseite vertreten. Damit ihre Kämpfe langfristig siegreich sind, brauchen sie die Verbindung zu den anderen Sektoren der Arbeiter:innenklasse, die ihre Forderungen aufnehmen und mit dafür streiken. Was dieses langfristige Ziel ist, darüber sind sich zumindest in Worten viele einig: der Sozialismus. Um dahin zu kommen, muss der Kapitalismus durch die Arbeiter:innenklasse gestürzt werden. Was ist im Organizing das langfristige Ziel?
Was will das Organizing?
Organizing wird häufig benutzt, um einen Methodenkoffer zu beschreiben, in dem sich sogenannte Stärketests, Anspracheleitfäden oder Telefonketten befinden. Diese Methoden sind hilfreich für die gewerkschaftliche Basisarbeit, jedoch eher eine Sammlung von Praktiken, die seit Jahrzehnten in der gewerkschaftlichen Arbeit angewandt werden. Doch schon in den Methoden stecken Hinweise auf die dahinterliegende Strategie: Ein zentraler Schritt in Organizing-Kampagnen ist es, die „organic leaders“ ausfindig zu machen. Gemeint sind Kolleg:innen, die ein besonders hohes Ansehen in der Belegschaft genießen, die etwa besonders charismatisch sind. Diese für die Kampagne zu gewinnen, ist eines der Ziele. Natürlich ist ein Verständnis von den Strukturen unter den Kolleg:innen wichtig, um eine gute betriebliche Arbeit machen zu können. Im Organizing spielen allerdings die inhaltlichen Positionen dieser „organic leaders“ keine Rolle. Es geht dort also nicht darum, die Kolleg:innen mit dem größten Bewusstsein für die Probleme der Belegschaft, mit Sensibilitäten für Unterdrückung oder mit demokratischen Ansprüchen zu stärken, sondern diejenigen zu überzeugen, die aufgrund ihrer Persönlichkeitseigenschaften „führen“ können. Diese „organic leaders“ sollen dann eingebunden werden und nach Möglichkeit selber Organizer:innen werden. In der Berliner Krankenhausbewegung, einer der großen, erfolgreichen Organizing-Kampagnen der letzten Jahre, ist das besonders deutlich geworden, wo Beschäftigte jetzt selber als Organizer:innen auftreten.
Auch bei Organizing-Schulungen geht es primär um Methoden und nicht um die Inhalte. Selten wird gefragt, was unser inhaltliches Ziel ist. Explizit politische Themen werden mit dem konkreten Kampf nicht verbunden, Diskussionen etwa über die Höhe von Lohnforderungen stehen im Vordergrund. So kommt es zu einer falschen Trennung von Politik und Ökonomie. Die Frage vom Krieg, vom Staat, alle tiefen marxistischen Themen sollen nicht beim Streik oder in der Organizing-Kampagne behandelt werden, um „mehrheitsfähig“ zu bleiben. Die Trennung von Form und Inhalt, wie sie bei Organizing-Schulungen stattfindet, ist jedoch nicht hilfreich. Wir müssen uns fragen: Wofür soll hier wer organisieren und organisiert werden?
Das von McAlevey ausgegebene strategische Ziel von Organizing ist die (Wieder-)Erlangung von Verhandlungsmacht, damit die Beschäftigten ihre Interessen durchsetzen können. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, ist es notwendig, sich einmal klar zu machen: Jane McAlevey ist keine Revolutionärin. Sie äußert sich gegen den Neoliberalismus, gegen die schlimmsten Auswirkungen des Kapitalismus, aber nicht gegen das grundlegende System dahinter. Ihrer Meinung nach müsse „die Demokratie“ gestärkt werden, weil die Gesellschaft auseinanderfalle. Die ungleiche Verteilung von Reichtum sieht sie als Gefahr für „die Demokratie“, beispielsweise durch den Einfluss von Superreichen auf Wahlkampfkampagnen oder Medien. Ihr Organizing-Konzept hat sie aus dem sogenannten „Community Organizing“ weiterentwickelt. Das jedoch ist kein per se linkes Konzept. Hier werden Menschen als zufällige Subjekte angesprochen, als Nachbar:innen oder Eltern, und nicht als Klasse, was also ihre kollektive Macht, die sie aufgrund ihrer gemeinsamen Stellung im Produktionsprozess haben, ignoriert. Zu dieser Frage des Subjekts schreibt Wilhelm Schulz von der Gruppe ArbeiterInnenmacht in „Wunderwaffe Organizing?„:
„Wie Marx in der Deutschen Ideologie gezeigt hat, tritt im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung das Individuum doppelt in Erscheinung, als Klassenindividuum und als zufälliges oder persönliches (frei von allen ständischen und feudalen Bindungen). […] Das Community Organizing spricht die Menschen – auch die Lohnabhängigen – letztlich als zufällige Subjekte an, also als Nachbar:innen, Kinder, Eltern, Freund:innen oder Bekannte. […] Ihre Stellung ist nicht primär die sich dialektisch bedingender sozialer Klassen, sondern eine positiv bestimmbare Kategorie des Habens. Die Methoden des Organizings bewegen sich tendenziell mehr auf dieser Ebene, die der der Verteilung (Zirkulation) entspricht.“
Obwohl das gewerkschaftliche Organizing natürlich auf Beschäftigte abzielt, geht es wie beim Vorläufer viel darum, in Arbeitskämpfen auch die Communitys anzusprechen. Doch auch die Beschäftigten werden keineswegs als Subjekte der Geschichte, sondern bestenfalls als Subjekte ihrer unmittelbaren Arbeitsbedingungen angesprochen. Bleiben wir aber auf dieser Ebene, kämpfen wir einen aussichtslosen Kampf. Solange der Kapitalismus herrscht, sind Verbesserungen temporär, und das Elend lacht uns aus der nächsten Krise entgegen.
Für welche Demokratie wollen wir uns organisieren?
Dass es McAlevey nicht darum geht, die Arbeiter:innenklasse zu befähigen, das kapitalistische System zu überwinden, wird auch in ihrem positiven Bezug zur bürgerlichen Demokratie deutlich:
„Wir stehen vor einer Wahl: Entweder gute Gewerkschaften aufbauen, robuste Tarifverhandlungen und Streiks möglich machen – oder aber uns von der Demokratie verabschieden.“4
Wir wollen nicht diese Demokratie stärken, in der wir alle paar Jahre mitentscheiden können, wer den Kapitalismus verwaltet. Wir wollen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beenden. Wir stellen uns nicht nur gegen den Neoliberalismus, sondern gegen den gesamten Kapitalismus, nicht nur gegen seine furchtbarsten Versionen, sondern gegen das ganze System. Unser Ziel ist es, von Lohnstreiks zur Selbstorganisation der Arbeiter:innen zu kommen. Selbstorganisierung und Organizing sind allerdings nicht dasselbe – nicht nur wegen der unterschiedlichen Ziele. In der Selbstorganisierung, wie wir sie vertreten, geht es darum, in jedem Arbeitskampf für demokratische Strukturen einzutreten, damit die Kolleg:innen lernen, über ihre Probleme nicht nur zu diskutieren, sondern auch bindende Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie sie bekämpfen wollen. Diese Erfahrungen sind Gold wert, wenn der Klassenkampf sich verschärft. Letztlich stehen sie bereits in der Perspektive des aufständischen Generalstreiks für den Sturz des Kapitalismus.
Für McAlevey hingegen besteht zwischen ihrer Vorstellung der Demokratisierung der Gewerkschaften und der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie ein untrennbarer Zusammenhang. Sie schreibt:
„Wie eine Regierung […] auch eine Gewerkschaft gut oder schlecht sein [kann], je nachdem, wie sie ihre Wahlen regelt, ob die Zusammensetzung ihrer Gremien demokratisch erfolgt und wie sehr ihre Entscheidungsprozesse tatsächlich den Menschen offenstehen, die sie vertreten.“5
Ihr Demokratiebegriff abstrahiert von jedem Klassencharakter. Die Gewerkschaften sind heute nicht nur wenig demokratisch, sondern über die Bürokratie, mit Antonio Gramsci gesprochen, selbst Teil des erweiterten Staates. Um sie zu tatsächlichen Organen der Arbeiter:innenklasse zu machen, genügt es nicht, nur für „Entscheidungsprozesse“ einzustehen, die „tatsächlich den Menschen offenstehen, die sie vertreten.“ Nichts weniger ist nötig als die vollständige Entmachtung der Gewerkschaftsbürokratie, derjenigen Schicht in unseren Organisationen, die von der Vermittlung zwischen Kapital und Arbeit lebt. Aber: Sie können zurückerobert werden.
Für den bürgerlichen Staat gilt das nicht. Hier ist es noch viel falscher – wenn das denn möglich ist – davon zu sprechen, man müsse eine Regierung danach beurteilen, ob ihre Entscheidungsprozesse „tatsächlich den Menschen offenstehen, die sie vertreten.“ Die Verwirrung beginnt schon bei den Begriffen. Die Entscheidungsprozesse einer Regierung im bürgerlichen Staat stehen den Menschen niemals offen. Es ist schließlich das Wesen der sogenannten repräsentativen Demokratie, dass das Wahlvolk sich auf die Willensbekundung durch die regelmäßige Abgabe von Stimmzetteln zu beschränken hat. McAlevey scheint statt der Regierung das politische Regime insgesamt zu meinen. Doch auch hier: Ein bürgerlich-parlamentarisches Regime kann demokratischer oder weniger demokratisch sein, er kann begrenzte Elemente der partizipativen Demokratie integrieren, seine Wahlgesetze können mehr oder weniger exklusiv sein – doch es bleibt ein bürgerlich-parlamentarisches Regime. Sein Zweck besteht darin, die Massen von den politischen Entscheidungen fernzuhalten und das Eigentumsrecht der Kapitalist:innen zu wahren. Zwischen diesen Formen der politischen Herrschaft und der tatsächlichen Demokratie der Mehrheit im Sozialismus, die auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln fußt, tut sich eine Schlucht auf, die keine Form des Organizing überbrücken kann.
McAleveys Ziel hingegen sind Reformen oder nur höhere Löhne. Jeden Kampf, den wir führen, wollen auch wir natürlich gewinnen. Doch auch eine Niederlage in einem Teilkampf, etwa wenn eine Lohnforderung nicht durchgesetzt werden kann, kann eine Lehre sein – wenn daraus eine bewusste Organisierung im Betrieb entsteht und es so ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Revolution ist.
McAlevey formuliert ihr strategisches Ziel noch einmal deutlich:
Wir brauchen keine Roboter, die sich um die alternde Bevölkerung kümmern, wie es uns das Silicon Valley einzureden versucht, sondern gut ausgebildete und gut bezahlte Pflegekräfte. Wir brauchen die richtigen Gesetze, damit die Reichen ihre Steuern zahlen. Und wir brauchen Gewerkschaften, die all das durchsetzen und die Macht der Konzerne brechen.6
McAlevey und wir haben unterschiedliche Konzeptionen davon, was es bedeutet, die Macht der Konzerne zu brechen. Wenn wir die Macht der Konzerne wirklich gebrochen haben, braucht es keine „richtigen Gesetze“ mehr, „damit die Reichen ihre Steuern zahlen“, sondern dann leben wir in einer Welt, wo es keine Unterscheidung in reich und arm mehr braucht. Für sie dienen Gewerkschaften also dazu, in der Verhandlung zwischen Kapital und Arbeit die Arbeits-Seite zu stärken, aber ihr geht es nicht darum, den grundlegenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aufzuheben und die Klassengesellschaft zu überwinden.
Dass McAlevey offensichtlich keine revolutionären Ansichten vertritt, wird aus ihren Texten sehr schnell deutlich. Dennoch ist es notwendig, dies hier einmal klar herauszustellen, da Teile der sich selbst als revolutionär verstehenden Organisationen und Aktivist:innen sich sehr positiv auf sie beziehen und die notwendige klare Trennung zwischen nützlichen Methoden und abzulehnender strategischer Perspektive nicht immer deutlich wird.
Der ganze Begriff von Demokratie in Gewerkschaften und der Mitsprache von Beschäftigten bleibt in Organizing-Konzepten in der Regel bei der Demokratie im Streik stehen. So geht es darum, dass Beschäftigte stärker gefragt werden sollen, dass Versammlungen stattfinden sollen, wenn es um die konkrete Kampagne im Betrieb geht. Die Mitsprache soll also nicht ausgeweitet werden auf bspw. jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit der Gewerkschaftsfunktionär:innen. Die Entscheidung darüber, wo Organizing-Methoden angewandt werden und wer die Organizer:innen bezahlt, bleibt also bei der Gewerkschaftsbürokratie. Diese ist in Deutschland eng verflochten mit der Sozialdemokratie, in ihren linkeren Teilen aber auch mit der LINKEN. Für diesen Teil der Gewerkschaftsbürokratie, die einen Anspruch an gewerkschaftliche Erneuerung haben, ist Organizing das Konzept schlechthin. Nicht nur inhaltlich, sondern auch personell gibt es enge Verflechtungen von Gewerkschaftsbürokratie zum LINKE-Vorstand.
Macht für wen?
Wenn es also diese Verbindungen zu den reformistischen Apparaten gibt und McAlevey mit Verhandlungsmacht keineswegs Machtübernahme durch das Proletariat meint, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, welchen Machtbegriff sie stattdessen verwendet. Sie schreibt, dass es darum gehe, „genug Macht auf[zu]bauen, um auf Augenhöhe am Verhandlungstisch sitzen und Verbesserungen erzielen zu können.“7 Für sie gehe es um „Gegenmacht in den Betrieben“, „[d]enn Macht, also die Möglichkeit oder Fähigkeit zu haben, etwas zu bewirken oder beeinflussen zu können, ist die Grundvoraussetzung, um Veränderungen zu schaffen.“8
Wie vage ihr Machtbegriff ist, zeigt sich schon in dieser letzten Formulierung: Etwas bewirken zu können, ist die Voraussetzung, um etwas zu verändern. Jenseits solcher Zirkelschlüsse geht es McAlevey aber darum, im Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit etwas mehr Macht auf die Seite der Arbeit zu verteilen. Anders gesagt besteht das Ziel im Aufbau institutioneller Macht, wie das beispielsweise der deutsche Soziologe Klaus Dörre in seinem „Jenaer Machtressourcenansatz“ theoretisiert hat. So soll Verhandlungsmacht entstehen, die schlussendlich eine Stärkung der Arbeiter:innenposition im vorgegebenen, sozialpartnerschaftlichen Rahmen bedeutet.
Die Ideologie der deutschen Sozialpartnerschaft besteht gerade darin, dass es zwischen Kapital und Arbeit zwar einen Interessenkonflikt gebe, man diesen aber in konstruktiven Verhandlungen immer wieder aufs Neue zur Zufriedenheit beider Seiten aushandeln könnte. In den Jahrzehnten des Nachkriegsbooms mag diese Ideologie eine gewisse Glaubwürdigkeit besessen haben. Nicht zuletzt die Ergebnisse der Konzertierten Aktion haben diese Idee jedoch erneut als Illusion entlarvt. In den USA, wo McAlevey ihre Idee entwickelt hat, liegt diese Hoffnung noch einmal deutlich ferner. In einer kapitalistischen Welt, in der die eine Seite alles besitzt und die andere nichts, ist auf Dauer keine Verhandlung auf Augenhöhe möglich.
Ein Teil des Machtaufbaus im Organizing ist es, den gesellschaftlichen Diskurs zu verschieben und Mehrheiten zu finden. Es wird an ein gesamtgesellschaftliches Subjekt appelliert, die Arbeiter:innen besser zu behandeln. Das läuft in den konkreten Organizing-Kampagnen auf Vorstellungen hinaus, die das Gemeinwohl statt den Klassenkampf in den Vordergrund stellen. Das zeigt sich in Slogans wie von der Berliner Krankenhausbewegung: „Mehr von uns ist besser für alle“. Ein solcher Slogan kann unterschiedlich mit Inhalt gefüllt werden. Appelliert dieses „alle“ an ein gesamtgesellschaftliches Interesse, also auch an die Reichsten, die gar kein Interesse an besseren Arbeitsbedingungen für Krankenhausbeschäftigte haben, weil sie sich ohnehin die beste Behandlung leisten können? Oder meint es die arbeitende Mehrheit, also alle potenziellen Verbündeten in den Entlastungskämpfen? Ein Appell an die Gesellschaft ist nicht das Gleiche wie unser Verständnis von Hegemonie. Denn dabei geht es auch darum, wer (potenziell) anführt: Soll sich die Arbeiter:innenklasse diskursiv in einer Vorstellung des „Wir sind die 99 Prozent“ auflösen? Oder soll sie in Kampagnen, ausgerüstet mit einem hegemonialen Programm, alle Sektoren der Ausgebeuteten und Unterdrückten hinter sich vereinen?Es gibt einen klaren Klassenfeind und den können wir nur als Klasse bekämpfen, wenn wir gewinnen wollen.
Organizing in Deutschland
In deutschen Debatten um Organizing ist auffällig, dass der Begriff für so ziemlich alles verwendet wird, so auch für Methoden, die nach McAlevey klassisches Mobilizing sind. Eine 1-zu-1-Übertragung von dem für die US-amerikanische Gewerkschaftslandschaft entwickelten Konzept auf die deutsche sozialpartnerschaftliche Lage ist auch unmöglich. Wie oben beschrieben, finden sich enge Verstrickungen in DIE LINKE.
McAlevey spricht immer von Mehrheitsstreiks. Sie will gewinnbare Kämpfe führen. Diese Rhetorik haben wir im deutschen Kontext bei der unter anderem von Ines Schwerdtner angestoßenen Kampagne gegen die Preissteigerungen „Genug ist Genug“ erlebt: Es sollen nur Forderungen aufgestellt werden, die unter den aktuellen Gegebenheiten möglich erscheinen. Es soll bloß nicht über den angeblichen aktuellen Bewusstseinsstand hinaus gegangen werden, bloß keine zu radikalen Forderungen erhoben werden. So werden keine Übergangsforderungen aufgestellt, die das Bewusstsein auch weiter entwickeln, und es kann dazu kommen, dass sie eine bremsende Rolle einnehmen, wenn wie in Streikbewegungen die Annahme eines Ergebnisses von vielen abgelehnt wird diese Position nicht unterstützt wird, um die „Mehrheiten“ nicht zu verlieren.
Im revolutionären Marxismus ist es unser Ziel, eine Gesellschaft im Interesse der Mehrheit der Menschheit zu errichten. Im Kapitalismus wird die revolutionäre Bewegung immer in der Minderheit sein, obwohl die Errichtung des Sozialismus im objektiven Interesse der Mehrheit der Menschheit liegt. Nur für „gewinnbare“, „mehrheitsfähige“ Positionen zu kämpfen ist eine Anpassung an den aktuellen Bewusstseinsstand. Wir dürfen keine Angst haben, dass wir „Mehrheiten“ verlieren, weil es nicht darum geht, einfach irgendwo für die Mehrheit zu mobilisieren. Sondern darum, für revolutionäre Ideen zu gewinnen. Damit werden wir auf Widerstand treffen, von den Gewerkschaftsführungen, von den Bürokratien in den sozialen Bewegungen, von der Regierung und dem Staat. Wenn wir diesen Gegenwind nicht bekommen, sollten wir uns fragen, wie revolutionär unsere Politik eigentlich noch ist.
Was für den politischen Kampf gilt, kann auch auf betrieblicher Ebene gelten: Wenn es in einem Betrieb zum Streik kommt, beginnt dieser oft als Minderheitenstreiks. Der „wilde“ Streik bei Pierburg in Neuss wurde 1973 von einem kleinen Teil der Belegschaft begonnen: von den besonders schlecht bezahlten, weiblichen „Gastarbeiterinnen“. Ihr Streik war siegreich, gerade weil er sich auf die anderen Beschäftigten ausweitete. Dass er als Minderheitenstreik begann, war keine Hürde für den Sieg, sondern seine Voraussetzung, weil es nur so überhaupt zum Kampf kommen konnte.
Organizing hat in Deutschland eine besondere Form angenommen, vertreten insbesondere, aber nicht ausschließlich, durch die Firma Organizi.ng. Hier werden Aktivist:innen, insbesondere Studierende, de facto als Leiharbeiter:innen an die Gewerkschaftsbürokratie verliehen, um in Betrieben Organizing-Kampagnen durchzuführen. Geführt wird dieses Unternehmen auch von Mitgliedern von Marx21, die so der Gewerkschaftsbürokratie Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Für uns als Revolutionär:innen ist klar, dass gewerkschaftliche Arbeit nicht per Outsourcing und Leiharbeit funktionieren sollte. Wir brauchen Gewerkschaften, die wir selber kontrollieren, und nicht Apparate, die bürokratisch vom Reformismus kontrolliert werden.
Hier liegt ein zentraler Unterschied zwischen unserem Konzept der Selbstorganisierung und dem des Organizings. McAlevey schreibt:
„Motivation und/oder Ideologie der Führung [sind] ausschlaggebend dafür, ob eine Gewerkschaft sich oligarchisch entwickelt oder nicht.“9
Wir sagen ganz klar, dass das so nicht stimmt. Wie demokratisch die Gewerkschaften funktionieren, hängt nicht maßgeblich von der persönlichen Motivation der Bürokrat:innen ab, sondern von materiellen Strukturen und Kräften. Einerseits befinden sich gerade höherrangige Gewerkschaftsfunktionär:innen in einer Position, die zur Selbsterhaltung in dieser Position anreizt: Ihre gute Bezahlung ist gerade vom Fortbestehen des Klassenantagonismus abhängig. Gleichzeitig ist ihre Existenz eher von einer Trennung von großen, gerade den unteren Teilen der Arbeiter:innenklasse geprägt: Es ist wohl einfacher für Frank Werneke, dem Vorsitzenden von ver.di, ein Meeting mit Olaf Scholz einzuberufen, als es für die durchschnittliche Arbeiter:in ist, ein Gespräch mit Frank Werneke zu bekommen. Andererseits hängt die gewerkschaftliche Demokratie von der Stärke der demokratischen Strukturen von unten ab, wo Streikdemokratie, Versammlungen, und imperative Mandate eine zentrale Rolle spielen. Es sind diese und weitere Elemente, und nicht das Bewusstsein der Führung, welche den Charakter der Gewerkschaft ausmachen.
Die Gewerkschaftsbürokratie als Ganzes ist ein Hindernis, das wir überwinden müssen. Organizing will die Gewerkschaftsbürokratie neu legitimieren. Wir wollen sie aus den Gewerkschaften hinauswerfen. Wir können natürlich Methoden benutzen, die aus dem Organizing kommen und hilfreich sind. Als Revolutionär:innen sind wir bereit alle Methoden zu benutzen, die sinnvoll für die Stärkung der Arbeiter:innenklasse und ihrer Organisationen und für den Aufbau der revolutionären Bewegung sind, das ist für uns keine Prinzipienfrage. Bei der Frage der Streikdemokratie handelt es sich jedoch nicht um ein methodisches, sondern um ein materielles Problem: Die Gewerkschaftsbürokratie ist die materielle Kraft, die das Proletariat ins bürgerliche Regime integrieren will. Dagegen müssen wir unsere eigene materielle Kraft aufbauen, also antibürokratische Strömungen in den Gewerkschaften und revolutionäre Organisationen. Sonst erreichen wir nur eine etwas demokratischere Einbindung in ein immer noch kapitalistisches System.
Fußnoten
1. Jane McAlevey: Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie, Herausgegeben von Stefanie Holtz (IG Metall Jugend) und Florian Wilde (Rosa-Luxemburg-Stiftung), VSA: Verlag, Hamburg 2021, S. 11. Das Buch ist im Volltext auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung abrufbar: https://www.rosalux.de/fileadmin/images/publikationen/sonstige_texte/VSA_McAlevey_Macht_Gemeinsame_Sache.pdf
2. Florian Wilde: Vorwort. Macht gemeinsame Sache!, in: Macht. Gemeinsame Sache, S. 6-18, hier S. 11.
3. McAlevey: Macht. Gemeinsame Sache, S. 195.
4. Ebd., S. 5.
5. Ebd., S. 37.
6. Ebd., S. 33.
7. Keine halben Sachen, S. 29
8. Wilde, Macht. Gemeinsame Sache. S. 18
9. Keine halben Sachen. S. 50