Angriff auf Rafah: Israel nimmt Gazas letzte Zuflucht ins Visier

09.02.2024, Lesezeit 8 Min.
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Quelle: Anas-Mohammed / Shutterstock.com

Am Mittwoch befahl Benjamin Netanjahu der israelischen Armee, eine Offensive auf Rafah vorzubereiten. In die Stadt im Süden des Gazastreifens ist ein Großteil der Palästinenser:innen geflohen, die durch die Bombardierungen im Norden und in Khan Younes vertrieben worden waren.

Inmitten der Verhandlungen zwischen der US-Diplomatie und einigen arabischen Regierungen kündigte Benjamin Netanjahu am Mittwochabend an, dass er die genozidale Offensive der israelischen Armee (IDF) in der palästinensischen Enklave Gaza ohne Pause fortsetzen werde. Die israelische Armee hat den nördlichen Teil des Gazastreifens dem Erdboden gleichgemacht, die Bewohner:innen in den Süden vertrieben und die Stadt Khan Younes verwüstet, in die Hunderttausende Palästinenser:innen geflohen waren. Am Mittwoch erhielt sie nun den Befehl, eine Offensive auf die Stadt Rafah sowie „zwei Flüchtlingslager“ vorzubereiten, die als „letzte Bastionen der Hamas“ betrachtet werden.

Die Offensive bringt ein neues Massaker

Während bereits 27.700 Palästinenser:innen getötet und 67.000 verletzt wurden sowie 85 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens durch die genozidalen Operationen der IDF zwangsumgesiedelt wurden, wird die Offensive auf Rafah neue Massaker mit sich bringen. So hat die Stadt seit Beginn des Krieges über 1,3 Millionen Palästinenser:innen aufgenommen – 60 Prozent der Gesamtbevölkerung des Gazastreifens –, was dem Fünffachen ihrer ursprünglichen Bevölkerung entspricht. Die Lebensbedingungen der Geflüchteten sind dort schrecklich, fließendes Wasser ist rar, es gibt nicht genügend sanitäre Einrichtungen und frische Lebensmittel sind für die meisten zu teuer. Die Bewohner:innen sind hauptsächlich von den zeitweiligen Lieferungen von Lebensmitteln und Medikamenten abhängig, die dank der humanitären Konvois per LKW transportiert werden.

Gegenüber dem französischen Radiosender RFI berichtet Faten, eine Palästinenserin aus Khan Younes, die mit ansehen musste, wie eine israelische Bombe ihr Haus zerstörte, über das Leben in Rafah: „Damit die Kinder duschen können, muss man sehr viel Geld bezahlen; damit sie essen können, muss man ebenfalls bezahlen. Wir leben am Existenzminimum, überall gibt es viele Mikroben und Bakterien. Es gibt nur eine Gemeinschaftstoilette. Wir mussten ein Zelt kaufen. Wir haben sehr, sehr viel dafür bezahlt.“ Sie fügt hinzu: „Als wir von zu Hause weggingen, war es sehr heiß. Jetzt sind wir mitten im Winter, im Regen, mit Sommerkleidung und in Sandalen. Die Kinder leiden unter der Kälte.“ Om Khaled Ashour, eine Mutter von drei Kindern, erklärte der Financial Times, dass sie die Fragen ihrer Kinder beantworten musste, ob „die Panzer nach Rafah kommen und sie töten werden, wie sie es im Norden getan haben“.

Während die humanitäre Katastrophe in Gaza immer größer wird, droht die Offensive auf Rafah die geschundene Bevölkerung, deren Lebensbedingungen schon jetzt entsetzlich sind, völlig auszulöschen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, warnte vor den „unkalkulierbaren regionalen Folgen“ der Offensive, die „den humanitären Albtraum exponentiell verstärken würde“.

Intensivierung der ethnischen Säuberung des Gazastreifens

Die neue Offensive findet vor dem Hintergrund statt, dass die israelische Armee ihre strategischen Ziele bisher nicht erreicht hat: Die Gewinne aus der Bodenoffensive bleiben begrenzt, die Hamas hat bei weitem nicht alle ihre Kampfressourcen eingebüßt und die Regierung Netanjahu steht vor einer schweren Legitimitätskrise. Das Portal Orient XXI erklärt folgendermaßen, warum die ursprünglichen Ziele der IDF nicht erreicht wurden: „Der ursprüngliche ‚Plan‘ der israelischen Armee sah die vollständige ‚operative Kontrolle‘ über die drei großen Städte des Gazastreifens (Gaza-Stadt, Khan Younes und Rafah) bis Ende Dezember vor. Die Frist wurde um einen Monat überschritten und das Ziel nicht erreicht. Es wurde auch bekannt, dass das Tunnelnetz der Hamas-Streitkräfte viel größer war als bisher angenommen, und dass die Einnahme des Tunnelsystems durch Bodenoperationen viel mehr Opfer fordern würde als bisher angenommen. Vor allem aber enthüllte das Wall Street Journal, dass in mehr als drei Monaten nur 20 Prozent der Tunnel zerstört worden seien.“ Innerhalb der Regierung werden oppositionelle Stimmen lauter. „Dieser Krieg hat weder ein Ziel noch eine Zukunft, er ist nur ein Mittel für Netanjahu, um die Frage seiner Verantwortung aufzuschieben“, sagte ein Regierungsmitglied der israelischen Zeitung Haaretz.

In diesem Zusammenhang würde die Einnahme von Rafah durch die israelische Armee es der Regierung Netanjahu ermöglichen, die ethnische Säuberung des Gazastreifens und die Vertreibung der Bewohner:innen der Enklave weiter voranzutreiben. Am 30. Oktober hatte die Website +972 ein Dokument des israelischen Geheimdienstministeriums veröffentlicht, in dem die verschiedenen Optionen für die Zukunft der Bewohner:innen des Gazastreifens aufgelistet wurden. Darin wurde eine erzwungene und dauerhafte Umsiedlung der 2,2 Millionen Einwohner:innen des Gazastreifens in die ägyptische Sinai-Wüste favorisiert. Dieser „Umsiedlungsplan“ sollte in mehreren Schritten umgesetzt werden: Evakuierung der Bevölkerung im Süden, um die Luftangriffe im Norden zu verstärken, Ausweitung der Bodeneingriffe und schließlich die Besetzung des gesamten Gazastreifens. „Das Dokument empfiehlt Israel, während des Krieges ‚die Zivilbevölkerung auf den Sinai zu evakuieren‘, Zeltstädte und dann dauerhaftere Städte im Nordsinai zu errichten, die die vertriebene Bevölkerung aufnehmen, und dann ‚eine kilometerlange unfruchtbare Zone … innerhalb Ägyptens zu schaffen und die Rückkehr der Bevölkerung zu Aktivitäten/Wohnsitzen in der Nähe der Grenze zu Israel zu verhindern'“, so +972.

Dieses Ziel wird heute von den extremsten Teilen der Regierung verfolgt und wurde am 29. Januar auf einer „Konferenz für den Sieg Israels“ in Jerusalem bekräftigt. Diese Konferenz wurde von der israelischen extremen Rechten als Reaktion auf die Anordnung des Internationalen Gerichtshofs bezüglich der Klage Südafrikas, die den Krieg in Gaza als „Völkermordrisiko“ bezeichnete, organisiert. Der Anwalt Aviad Visoli erklärte, dass „eine Nakba 2.0 durch die Gesetze des Krieges vollständig gerechtfertigt“ sei, während der Siedler Eliahou Libman erklärte, dass „diejenigen, die nicht getötet werden, vertrieben werden müssen, es gibt keine Unschuldigen“. Der israelische Minister für nationale Sicherheit plädierte hingegen zynisch für eine „freiwillige Auswanderung“ der Bewohner:innen Gazas.

Um die Palästinenser:innen in den Sinai abschieben zu können, ist jedoch die Kontrolle des Philadelphia-Korridors und des Rafah-Grenzübergangs, des Hauptübergangs zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, von entscheidender Bedeutung. Der Philadelphia-Korridor, ein 14 Kilometer langer und 100 Meter breiter Landstreifen, der die Grenze zwischen Ägypten und Gaza bildet, dient seit dem Friedensabkommen von Camp David aus dem Jahr 1979 als Pufferzone. Seit 2005 unter ägyptischer Kontrolle, hat die israelische Armee Kairo wiederholt beschuldigt, keine ausreichend effektive Kontrolle über den Korridor auszuüben, was es der Hamas ermögliche, Waffen von Ägypten in den Gazastreifen zu schmuggeln. Am 30. Dezember machte Benjamin Netanjahu seine Absichten deutlich: „Der Philadelphia-Korridor muss in unseren Händen und unter unserer Kontrolle sein, und jede andere Vereinbarung als diese wird von Israel nicht akzeptiert werden.“ Seit der Warnung des ägyptischen Informationsministers Diaa Rashwan, der Israel vor einer „Verletzung des Friedensvertrags“ warnte, steigt die Spannung an der Grenze zunehmend, da Ägypten den palästinensischen Widerstand aufgefordert hat, sich vom Korridor fernzuhalten, um den israelischen Streitkräften keinen Vorwand für ein Eingreifen zu liefern.

Aus diesem Blickwinkel könnte die Offensive gegen Rafah die Deportation der Gaza-Bewohner:innen – selbst ohne es offiziell „zuzugeben“ oder als „freiwillige“ Ausreise – und die Auswirkungen einer immer massiveren Konzentration an der ägyptischen Grenze beschleunigen, die schließlich die Grenzbeamt:innen überfordern würde. Eine Situation, die zu einer Verschärfung der regionalen Spannungen führen würde, da die USA nach dem Tod von drei Soldaten in Jordanien immer massiver in der Region intervenieren und pro-iranische Milizen in Syrien, im Irak, im Jemen und im Roten Meer angreifen. Währenddessen nehmen auch die Spannungen an der israelisch-libanesischen Grenze zu, wo die Hisbollah die Intensität ihrer Angriffe auf die IDF erhöht hat, in der Hoffnung, Israel von einem neuen Krieg abzuhalten. Eine Verschärfung der Kämpfe an der ägyptischen Grenze könnte noch eine weitere Front eröffnen: Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sissi, der kein Interesse daran hat, mehr als zwei Millionen Menschen aufzunehmen und die Folgen eines Konflikts zu tragen, der die Unzufriedenheit des ägyptischen Volkes schüren könnte, hat bereits seinen Widerstand gegen den israelischen Vorschlag zum Ausdruck gebracht.

In diesem Rahmen ist es dringend notwendig, den Aufbau einer internationalen Bewegung der Solidarität mit Palästina fortzusetzen und sich dem laufenden Genozid zu widersetzen. Eine Bewegung, die auf die objektive Komplizenschaft der arabischen Regime mit dem Kolonialstaat hinweisen muss, aber auch auf die immense Verantwortung der imperialistischen Mächte, die das israelische Regime aufrüsten und bedingungslos unterstützen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 8. Februar auf Französisch bei Révolution Permanente.

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