Offener Brief eines jahrzehntelangen trotzkistischen Aktivisten zur Krise der französischen NPA

09.06.2021, Lesezeit 10 Min.
Gastbeitrag
Übersetzung:

Rob Lyons ist ein ehemaliges Mitglied der kanadischen Sektion des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale und ehemaliger Internationaler Koordinator der Sozialistischen Aktion / Ligue pour l'Action Socialiste. Mit diesem Brief, der vor allem an die Strömungen A&R (Antikapitalismus und Revolution) und L'Etincelle (Schwesterorganisation der RSO in Deutschland) gerichtet ist, antwortet er auf die Angriffe auf die Revolutionär-Kommunistische Strömung (CCR) in Frankreich durch Sektoren der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA). Seine Reflexionen sind Teil einer laufenden Debatte über den Aufbau einer internationalen revolutionären sozialistischen Organisation in Frankreich – eine Diskussion von strategischer Bedeutung für Sozialist:innen auf der ganzen Welt.

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Bild: La Izquierda Diario

Liebe Genoss:innen:

Ich schreibe Euch diesen Brief angesichts der jüngsten Aktivitäten und der Ausrichtung der Strömungen in der Neuen Antikapitalistischen Partei, von denen eine zur TRI (Tendenz für eine Revolutionäre Internationale) gehört, die Strömung Antikapitalismus und Revolution (A&R).

Wie ihr zweifellos wisst, führt die Führung der ehemaligen Mehrheit der NPA – die politischen Überbleibsel der Strategie des Aufbaus „breiter Parteien“ der eurozentrischen USFI/VSVI (Vereinigtes Sekretariat der Vierten Internationale) – einen Angriff gegen eine Strömung durch, die in den Arbeiter:innensektoren und sozialen Bewegungen sehr aktiv ist. Diese Strömung hat es geschafft, Dutzende von jungen Arbeiter:innen umzugruppieren und in die NPA zu bringen. Wir sprechen nicht nur von Anasse Kazib und dem Rest der Eisenbahner:innen, sondern auch von den Genoss:innen der RATP (Pariser Verkehrsbetriebe), von TOTAL Grandpuits (Raffinerien), aus den Sektoren der Luftfahrt, des Bildungswesens und der Jugend. Ich beziehe mich auf die Genoss:innen der Revolutionär-Kommunistischen Strömung (CCR), Redakteur:innen der digitalen Tageszeitung Révolution Permanente.

Das Motiv für diesen Angriff ist jedem klar, der sich mit der Geschichte der revolutionären marxistischen Bewegung beschäftigt. Das politische Projekt der ehemaligen Mehrheit ist unvereinbar mit der Mehrheit der Parteimitglieder, und um ihr Projekt durchzusetzen, müssen sie künstliche Mehrheit schaffen, indem sie eine Strömung von Mitgliedern ausschließen, die die größte der linken Strömungen ist, die CCR.

Der Rest der Gründe sind nur Memes, die dazu dienen, den wahren Grund zu verschleiern. Jeder auf der Linken, der diese Dummheiten wiederholt, ist entweder nicht politisch bewusst oder benutzt sie für sektiererische und zynische Zwecke.

Was für ein Projekt will die ehemalige Mehrheit durchsetzen? Um es noch mal deutlich zu sagen: Es ist kein Geheimnis, dass sie einen politischen Block mit La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) und anderen neoreformistischen und zentristischen politischen Projekten wie dem der Parti de Gauche (Linkspartei) bilden wollen. Man muss sich nur die Aktivitäten der NPA in Okzitanien anschauen, um zu sehen, in welche Richtung die ehemalige Mehrheit gehen will. Mit anderen Worten, sie unterstützen eine aktualisierte neoreformistische Version von Mitterrands „Einheit der Linken“, das heißt eine „große Einheit der Linken“, an der letztlich auch die Sozialistische Partei und die Grünen beteiligt sind. Das ist doch die Logik ihrer Ausrichtung, oder?

Sie sehen Mélenchons Projekt als eine Erweiterung ihrer Strategie der „breiten Partei“, die sich von Brasilien bis Spanien, von Mexiko bis Frankreich als katastrophal erwiesen hat. Die Krise innerhalb der NPA ist genau ein Produkt dieser Strategie.

Sie kehren den Genoss:innen der CCR den Rücken zu

Während der rechte Flügel der NPA diese Angriffe durchführt, haben sich leider einige Teile der Linken zurückgezogen, insbesondere die Strömungen A&R und L’Étincelle (Der Funke) (deren deutsche Schwesterorganisation die RSO ist). Während sie Phrasen über Einheit äußern, die ihnen Deckung geben sollen, sprechen ihre Handlungen bei der letzten Sitzung des Nationalen Politischen Rats (CPN) der NPA Bände. Zwei Handlungen stechen besonders hervor: Die erste ist ihre Weigerung, eine Resolution der CCR-Genoss:innen zu unterstützen, die der ehemaligen Mehrheit oder irgendeinem Parteigremium ausdrücklich verbietet, die CCR oder ihre Genoss:innen von Parteiversammlungen auszuschließen. Sowohl A&R als auch L’Étincelle weigerten sich, diese klare und unmissverständliche Resolution zu unterstützen.

Die zweite Handlung ist die Unterstützung dieser beiden Strömungen für das, was ein fiktiver nationaler Kongress der NPA-Versammlungen zu werden scheint – ein Prozess, der eindeutig dazu dient, die CCR-Genoss:innen auszuschließen. Diese Aktionen sprechen weit lauter als alle Protestschreie der Genoss:innen von A&R und L’Etincelle über die Verteidigung der Parteidemokratie oder der Integrität der NPA.

Sie kehren dem Projekt der TRI den Rücken zu

Man muss kein politisches Genie sein, um die Motivation hinter den Aktivitäten dieser beiden Gruppen zu verstehen. Besonders traurig ist der Fall von A&R. „Antikapitalismus und Revolution“ ist eine Mitgliedsorganisation einer linken Strömung innerhalb des USFI/VSVI (Vereinigtes Sekretariat der Vierten Internationale), deren Hauptziel es ist, gegen die Orientierung der „breiten Partei“ zu kämpfen und diese Orientierung durch die des Aufbaus von Arbeiter:innenparteien leninistischen Typs zu ersetzen.

Dies erfordert die Absetzung der derzeitigen USFI/VSVI-Führungsgruppe – inklusive ihrer Vertreter:innen innerhalb der NPA, die ehemalige Mehrheit, deren Nachtrabpolitik hinter Mélenchon ein direktes Resultat dieser Strategie ist.

Die Frage, die sich alle Mitglieder der TRI stellen sollten, ist also, warum sich A&R von diesem Projekt zurückzieht, wenn die Linke die Möglichkeit hat, die Führung der NPA – des „Flaggschiffs“ der Strategie der breiten Partei des USFI/VSVI – zu übernehmen und sie auf den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei neu auszurichten?

Man muss sich fragen, warum A&R angesichts dieses Angriffs beschlossen hat, einzuknicken und die Kandidatur von jemandem aus der ehemaligen Mehrheit zu akzeptieren, einem Kandidaten, der nicht die Orientierung der Mehrheit der NPA-Aktivist:innen widerspiegelt und der stattdessen den Weg öffnet, um zur Wahl von Mélenchon aufzurufen, wenn er die Chance hat, so weit zu kommen.

Prinzipienloser Zynismus

Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben, und die ist in der Tat sehr traurig. Die Leute, die A&R leiten, sind gute Aktivist:innen, wie ihr Kampf im Konflikt bei der Post aufzeigt.

Ihre politische Vision sollte jedoch wirklich hinterfragt werden. Zur Zeit der Gründung der TRI argumentierten die A&R-Genoss:innen, dass sie doppelt so groß seien wie die CCR. Heute ist die CCR deutlich größer als A&R und die größte linke Strömung innerhalb der NPA. Tatsächlich schlugen die CCR-Genoss:innen einen Prozess der Fusion mit den A&R-Genoss:innen vor, da es (und anscheinend bis vor kurzem) keine grundlegenden politischen Differenzen gab (abgesehen von taktischen Meinungsverschiedenheiten in irgendeiner bestimmten Frage).

Jetzt aber nimmt das politische Gewicht der CCR zu, sowohl wegen des Wachstums der CCR durch ihre Intervention in den Klassenkampf, als auch wegen des Verlustes eines Teils der A&R-Militanz an L’Etincelle, CCR oder eine andere Gruppe.

Die Unfähigkeit der A&R-Führung, sich mit der neuen Arbeiter:innen- und Jugendavantgarde der Massenbewegung zu verbinden, veranlasst sie zu zynischen Manövern innerhalb der NPA, um zu versuchen, den Vormarsch der CCR zu verlangsamen. Das ist, offen gesagt, ein erschreckender Zynismus ohne politisches Prinzip.

Abgesehen von der Frage des mangelnden Mutes der A&R-Genoss:innen, die Gelegenheit zu ergreifen, in die Strategie der „breiten Partei“ einen Keil zu treiben – etwas, dem die ganze TRI gewidmet war –, wird das elementare Prinzip der Verteidigung der Arbeiter:innendemokratie – das Recht der Arbeiter:innenklasse, die unterschiedlichen Ansichten der politischen Vertreter:innen der Klasse zu hören, zu diskutieren und zu debattieren – von denen mit Füßen getreten, die ihre sektiererischen organisatorischen Ängste über die politische Integrität stellen.

Ich habe über 54 Jahre als politischer Aktivist verbracht, 50 davon als trotzkistischer Organisator. Ein integraler Bestandteil des Trotzkismus ist die Verteidigung der Rechte politischer Strömungen, mit denen wir nicht einverstanden sind, an politischen Debatten innerhalb der Massenbewegung teilzunehmen. Indem sich die Genoss:innen von A&R und L’Étincelle weigern, die Genoss:innen der CCR zu verteidigen, „werfen sie Steine, während sie im Glashaus sitzen“.

Mut wird geehrt, Feigheit bleibt in Erinnerung

Abschließend möchte ich diese Genoss:innen daran erinnern, dass die Linke ein langes Gedächtnis hat und dass Feigheit im Angesicht eines Angriffs nie vergessen wird. Dieser Brief wird am letzten Tag des Monats Mai geschrieben. Vor dreiundfünfzig Jahren erhoben sich die Student:innen des Quartier Latin (Paris) in gerechtem Zorn gegen die Brutalität der flics (der Polizei). Sie errichteten Barrikaden, entzündeten Feuer und zertrümmerten Pflastersteine, was zu dem Slogan „sous le pave, la plage“ (unter dem Pflaster liegt der Strand) führte, wo sie tapfer kämpften. Dieser Mut wurde mit dem größten Generalstreik in Frankreich seit den 1930er Jahren belohnt.

Zu jener Zeit gab es eine Gruppe, die sich Föderation der revolutionären Student:innen (FER) nannte, eine Sektion der trotzkistischen Bewegung, die von Pierre Lambert geleitet wurde. In der Nacht der Barrikaden marschierte die FER mit ihrem Kontingent zu den Barrikaden, sah die heftigen Kämpfe und zog ab. Obwohl sie von der FER und Lambert als „Ultralinke“ denunziert worden waren, kämpften die Student:innen, allen voran in den vordersten Reihen die Genoss:innen der Jeunesse Communiste Revolutionnaire (Revolutionär-Kommunistische Jugend), die historische JCR, die für ihre Tapferkeit in Erinnerung geblieben sind. Die FER ihrerseits hat ihre Feigheit vor einer echten Schlacht nie überwunden, weder damals noch heute.

Die Handlungen der Genoss:innen von A&R und L’Etincelle werden auf der ganzen Welt beobachtet. Sie können vor den Angriffen der ehemaligen Mehrheit in die Knie gehen und versuchen, sie zu beschwichtigen, indem sie ihrem politischen Projekt zustimmen, in der Erwartung eines politischen Vorteils gegenüber den Genoss:innen der CCR, oder sie können sich dafür entscheiden, durch ihre Aktionen die Rechte der CCR zu verteidigen, voll in der NPA zu wirken und einen linken Block aufzubauen, der der Strategie der breiten Parteien in Frankreich ein Ende setzt.

Ob ihr als JCR oder als FER in Erinnerung bleibt, bleibt Euch überlassen. Entscheidet Euch weise, Genoss:innen.

Traut euch zu kämpfen, traut euch zu gewinnen!

Revolutionäre Grüße,
Rob Lyons

Dieser Brief erschien unter anderem am 5. Juni bei La Izquierda Diario.

Rob Lyons

Rob Lyons trat 1971 der kanadischen Sektion des USFI/VSVI bei, nachdem er als Journalist über den Prager Herbst 1968 berichtet hatte und als politischer Organisator für die New Democratic Youth, die gewerkschaftsnahe linke Jugendgruppe der kanadischen Labour Party, tätig war. Bis vor Kurzem war er Internationaler Koordinator für Socialist Action/Ligue pour l’Action Socialiste, eine kanadische trotzkistische Organisation, die aus dem USFI/VSVI ausgeschlossen wurde, und nahm in dieser Funktion an der Gründungskonferenz der Tendenz für eine Revolutionäre Internationale teil.

Er war Rettungsflugzeug- und Wildnispilot, Gewerkschaftsorganisator und wurde auch zum Gewerkschaftsführer gewählt. Zehn Jahre lang war er gewähltes Mitglied des Provinzparlaments von Saskatchewan, Kanada, und vertrat einen stark gewerkschaftlich geprägten Wahlkreis der Arbeiter:innenklasse. Derzeit schreibt er politische Artikel und organisiert aus einem Arbeiter:innenviertel im Süden Costa Ricas.

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