Offener Brief an die ISSE

03.05.2011, Lesezeit 10 Min.
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// Offener Brief zur Erklärung meines Austritts aus den International Students for Social Equality //

Nach über einem Jahr der politischen Arbeit und Schulung in der deutschen Sektion der International Students for Social Equality (ISSE) habe ich mich von diesen und ihrer internationalen Organisation, dem International Committee of the Fourth International (ICFI) getrennt. Im Folgenden sollen die Gründe dafür als kurze, solidarische Kritik erläutert werden.

Das ICFI ist eine internationale, marxistische Organisation, die sich an dem Erbe Leo Trotzkis zu orientieren sucht und sich als die historische Fortführung der 1938 gegründeten Vierten Internationale versteht. Ihr in mehreren Sprachen publizierendes Organ ist die World Socialist Web Site (WSWS). Seit den 1990′er Jahren verfolgt sie den weltweiten Aufbau nationaler Sektionen in Form der Socialist Equality Parties (SEP).

Das ICFI sieht sich als alleiniger Träger des revolutionären Erbes der marxistischen Weltbewegung. Jedoch, an der Zahl ihrer Kader oder auch dem Grad ihrer Bekanntheit gemessen, gehört sie heutzutage eindeutig zu den kleineren trotzkistischen Organisationen. Auch eine materielle Verankerung in der ArbeiterInnenklasse lässt sich nicht erkennen. Damit steht sie im Gegensatz zu trotzkistischen Organisationen, wie der Lutte Ouvrière (LO) oder der Fracción Trotskista – Cuarta Internacional (FT-CI), die zumindest in Teilen der ArbeiterInnenklasse eine merkbare Verankerung besitzen. In dieser Tatsache sieht das ICFI jedoch keinen Grund zur kritischen Neubewertung der eigenen Taktik/Situation.

Statt dessen werden die Ursachen der offensichtlichen Schwäche der eigenen Organisation in den objektiven Bedingungen oder direkt im “Verrat” der anderen trotzkistischen Organisationen gesucht. Bei all den tatsächlich an z.Bsp. der Organisation LO zu kritisierenden Punkten, erscheint mir dies im Konkreten jedoch als Beschuldigung anderer zur Leugnung der eigenen Schwäche und wäre somit nichts Neues in der Geschichte der unzähligen trotzkistischen Kleinorganisationen.

Zum historischen Erbe

Wie oben geschrieben, sieht sich das ICFI als alleinige Kontinuität der marxistischen Weltbewegung. Um diese Aussage zu untermauern, veröffentlichen die einzelnen SEPs des ICFI seit einiger Zeit ihre “historischen und internationalen Grundlagen”[1]. Darin suchen sie die eigene Geschichte zu rekonstruieren und ihren Anspruch auf die alleinige Verkörperung des trotzkistischen Erbes zu legitimieren.

Ich halte dabei das Vorhaben der Aufarbeitung der eigenen Geschichte für sehr lobenswert, denke allerdings, dass einige der kritischsten Punkte zu oberflächlich behandelt werden. So zum Beispiel das sympathisierende Verhältnis der ICFI der späten ‘70er und frühen ‘80er Jahre zu diversen nationalistischen Regimes im Nahen Osten und Nordafrika; welches der internationalen Organisation über mehrere Jahre hinweg bedeutende Unterstützungszahlungen u.a. von Muammar al-Gaddafi einbrachte[2]. Im historischen Dokument der deutschen Sektion wird David North – bis heute der führende Kader des ICFI – zitiert, wie er sich zeitgleich von dieser – angeblich der englischen Sektion WRP eigenen – Politik distanzierte. Den kritischen Gehalt dieser Aussage finde ich jedoch fragwürdig, da David North selbst zur damaligen Zeit Artikel im Sinne dieser Politik veröffentlichte. Treffendster Ausdruck dafür scheinen mir seine Artikel zur “SWP-CIA Operation” zu sein.[3] In diesen Artikeln unterstützt er nicht nur offen die islamische Revolution im Iran, sondern verteidigt die dortigen Todesstrafen gegen Mitglieder der ebenfalls trotzkistischen Socialist Workers Party, im angeblichen Interesse der “Revolution”.

Auch andere Beispiele solcher Art (z.Bsp. das Verhältnis zum Regime Titos) finden sich in der Geschichte des ICFI. Jedoch – nach meiner Meinung – nicht oder nicht ausreichend behandelt in den historischen Dokumenten der SEPs. Es gibt genug Gruppen und Organisationen, die in Bezug auf diese Punkte die Diskussion suchen. Ich halte es für unbedingt notwendig, dass sich das ICFI dieser Diskussion stellt, um sein Selbstbild von der historischen Kontinuität der Vierten Internationale, verkörpert in der eigenen Organisation, wirklich legitimieren oder eben hinterfragen zu können.

Das ICFI heute

Seit dem Zusammenbruch der einst zahlenmäßig starken Sektion WRP (geführt von Gerry Healy) und dem Bruch der ICFI mit dieser, spielt das ICFI in der heutigen Politik keine merkbare Rolle mehr.

Seit den 1990′er Jahren sucht es weltweit nationale Sektionen in Form legal gemeldeter, revolutionärer Parteien aufzubauen. Diese verzeichnen allerdings keinen besonderen Zulauf. So hatte die deutsche Sektion PSG (Partei für soziale Gleichheit) bei der Europawahl 2004 ihren bisher höchsten Wahlerfolg, der sie allerdings trotzdem nicht aus dem Spektrum der Splitterparteien hervorhob. Bei ihrer bisher aktuellsten Wahlbeteiligung zur Europawahl 2009 erhielt sie weit weniger als 50% der Stimmen von 2004.[4]

Auf der Bühne der offiziellen Politik quasi nicht vorhanden, genießt das ICFI in Kreisen der radikalen Linken kritische bis ablehnende Bekanntheit. Gründe dafür sind zum Einen die eigene radikale Abgrenzung zu anderen, linken Organisationen und Initiativen. Zum Anderen, die ebenso radikale Politik gegen jedwede Gewerkschaft. Die durchaus richtige Kritik an der – ihrer ökonomischen Stellung nach bedingten – rechten Gewerkschaftsbürokratie ist für die Kader des ICFI offizieller Grund, jedwede Arbeit in den Gewerkschaften zu verweigern. Das ICFI argumentiert, dass die noch gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen zahlenmäßig vernachlässigbar wären. Bei über sechs Millionen solcher[5] erscheint dies eindeutig als verpasste Gelegenheit. Betrachtet man dabei noch die hohen Anteile an jungen Mitgliedern, den allzeit aktivsten, oder die generelle Tatsache, dass – z.Bsp. in Deutschland – die gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen die beinahe einzig aktiven sind, verstärkt sich der Eindruck einer Fehlentscheidung auf Seiten des ICFI.

Dabei hatte diese Organisation nicht immer diesen Standpunkt. Er wurde erst in den 1990′er Jahren artikuliert. Viele marxistische Organisationen sehen hier eine bedeutende, zeitliche Parallele zum Aufstieg des die Organisation führenden Kaders David North zum Geschäftsführer eines amerikanischen Unternehmens, mit einem jährlichen Umsatz von 25 Millionen Dollar[6]. Die in diesem Unternehmen beschäftigten ArbeiterInnen sind nach meinem Wissen nicht gewerkschaftlich organisiert oder in egalitären Lohnverhältnissen; von ArbeiterInnenkontrolle gar nicht zu reden.[7] Bedenkt man die marxistische Einsicht, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, erscheint die Annahme dieser Parallele zumindest einer kritischen Diskussion wert.

Die ISSE

Die ISSE wird als Jugendorganisation des ICFI erklärt. Nach meiner Erfahrung, scheint sich dies weder in der Theorie, noch in der Praxis zu bestätigen.

So diskutieren die Jugend-Kader der ISSE zwar wöchentlich, selbstständig die politischen Geschehnisse, verfügen allerdings über kein eigenes, unabhängiges Medium um ihre Ansichten zu veröffentlichen bzw. sich in der Arbeit politischer Veröffentlichungen und Propaganda zu schulen. Auch entfalten sie keinerlei eigene Agitation. Zwar liefen bereits einige Veranstaltungen unter dem Banner der ISSE. Beschlossen, inhaltlich gestaltet und verwirklicht wurden diese Vortragsveranstaltungen (zumindest in Deutschland) allerdings stets von den Kadern der deutschen Sektion PSG. Tatsächliche Veranstaltungen der ISSE waren es nur insofern, als die Jugend-Kader ihre Arbeitskraft auf die Mobilisierungen verwenden durften. Mobilisiert wurde dementsprechend dann auch über Flyer und Plakate sowie zu Terminen, zu denen die ISSE oft nicht mehr beitrug, als unbeachtete Kritik an offensichtlichen Fehlentscheidungen:

So zum Beispiel einer Vortragsveranstaltung, zeitlich Parallel zu antifaschistischen Nazi-Blockaden und der 1. Mai-Demo(!), Mobilisiert über schwarz-weiße Papier-Plakate mit über 500 Wörtern Text (!). Nach meiner Meinung, propagandistische Fehlentscheidungen, die vor allem von einem Unverständnis gegenüber der Kultur der Jugend zeugen. In besonderem Maße kritisch, weil das ICFI eigentlich durchaus über jugendliche Kader verfügt.

“Es kommt oft vor, dass Vertreter der Generation der Erwachsenen und Alten es nicht verstehen, in richtiger Weise an die Jugend heranzutreten, die sich zwangsläufig auf anderen Wegen dem Sozialismus nähert, nicht auf dem Wege, nicht in der Form, nicht in der Situation, wie ihre Väter.” (Hervorhebung im Original) W.I. Lenin[8]

In direktem Anschluss an diese Worte betont Lenin, dass KommunistInnen “unbedingt für die organisatorische Selbstständigkeit des Jugendverbandes eintreten” müssen. (ebd.)

So wurde dies auch von anderen historischen RevolutionärInnen, wie Karl Liebknecht und Leo Trotzki gefordert.[9]

Des Weiteren heißt es in den 1920 vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale angenommen Thesen zur Jugendbewegung in Beschluss 6, dass in den Ländern, in denen die kommunistische Partei selbst schwach ist, die Jugendorganisation auch politisch unabhängig sein muss.[10] Heutzutage gilt dies wohl ausnahmslos für jedes Land auf der ganzen Welt.

Auch hat sich die Bedeutung dieser organisatorischen und politischen Unabhängigkeit in den entscheidensten Momenten in der Geschichte der marxistischen Weltbewegung bewiesen:

Als die sozialdemokratischen Parteien 1914 ihre entscheidenden Zustimmungen zum ersten Weltkrieg gaben und damit die revolutionäre ArbeiterInnenbewegung auf Kosten von Millionen von Kriegsopfern verrieten, waren es die sozialistischen Jugendorganisationen, welche sich bereits 1915 als revolutionäre Jugend-Internationale gründeten und in der Illegalität die Zeitung “Jugend-Internationale” europaweit publizierten. Nachdem sie ihre politische Unabhängigkeit gegenüber den sozialdemokratischen Parteien jahrelang hart verteidigen mussten[11], zeigte sich nun der Wert ihrer Eigenständigkeit. Sie bildeten einen der wenigen Widerstände gegen die Sozialpatrioten und den bis dahin opferreichsten Krieg in der gesamten Geschichte der menschlichen Zivilisation.

Das ICFI sieht sich in direkter Tradition des Revolutionärs Leo Trotzki. In einem seiner Schlüsselwerke “Verratene Revolution”, weißt dieser im Kapitel “Der Kampf gegen die Jugend” zum Einen auf das gewaltige, revolutionäre Potential der Jugend hin. Zum Anderen macht er ganz besonders deutlich, dass die politische Entmündigung der Jugend einer der entscheidenden Schritte der Degeneration der UdSSR im Sinne der Machterlangung der stalinistischen Bürokratie war.[12]

Genauere Einblicke in Schicksal und Bedeutung der kommunistischen Jugend-Internationale finden sich in der umfangreichen Aufarbeitung ihrer Geschichte “Von Neukölln zur Weltrevolution”, herausgegeben von der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO).[13]

Dies ist nicht die Stelle, an der noch mehr aus diesen Schriften paraphrasiert werden sollte. Vielmehr rate ich es den Erwachsenen- und Jugend-Kadern des ICFI sich diese entscheidenden Schriften anzulesen. Gesammelt sind diese in der Broschüre “Unabhängigkeitserklärungen” von der Vorläuferorganisation von RIO zu erlesen, welche selbst frei im Internet zu finden ist. (siehe Fußnote 9)

Genossen von RIO haben die Erfahrungen des Unabhängigkeitskampfes der Jugend-Kader ebenso am eigenen Leib erlebt, wie dessen politische Bedeutung. Heute steht RIO relativ weit links von ihrer einstigen Mutterorganisation, der Liga für die Fünfte Internationale (LFI).

Jetzt oder nie

Ich richte alle die oben genannten Kritikpunkte offen als solidarische Kritik an die Mitglieder des ICFI und im Besonderem an die Jugend-Kader der ISSE. Die kommenden Zeiten werden von sozialen Kämpfen historischen Ausmaßes geprägt sein. Dabei sind die revolutionären Anfänge in Nordafrika, wie zu allen Zeiten der Geschichte, zu bedeutenden Teilen von der Jugend getragen. Schon 1907 waren die Bolschewiki eine Partei mit 60% Mitgliedern unter 25 Jahren. In den kommenden Kämpfen kann es sein, dass die ISSE die Chance und Aufgabe haben wird, politische Verantwortung in entscheidendem Maße zu übernehmen.

Dieser Aufgabe gerecht zu werden, wird eine große Herausforderung sein. Den Kampf überhaupt erst aufnehmen zu können, wird allerdings in kritischem Maße davon abhängen, jetzt die Bereitschaft zu zeigen, sich kritisch mit den oben genannten Punkten auseinanderzusetzen und die politischen und organisatorischen Verhältnisse der eigenen Gruppierung zu überdenken.

In diesem Sinne rufe ich besonders die Jugend-Kader der ISSE zur offenen Diskussion auf.

Fußnoten

[1] http://wsws.org/de/2010/jun2010/hd01-j29.shtml
[2] http://www.icl-fi.org/deutsch/spk/wahl/psg.html
[3] http://www.internationalist.org/wherewasdavidnorth.html
[4] http://www.bundeswahlleiter.de/de/europawahlen/EU_BUND_09/ ergebnisse/bundesergebnisse/index.html
[5] http://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen/2010
[6] http://www.bolshevik.org/1917/no30/no30-GRPI-WSWS.html
[7] http://www.revolution.de.com/revolution/0909/wahlen/ linkeparteien.html
[8] http://www.onesolutionrevolution.org/index.php?p=71&language=de
[9] http://www.onesolutionrevolution.org/?p=87&language=de
[10] http://www.onesolutionrevolution.org/index.php?p=69&language=de
[11] http://www.onesolutionrevolution.org/index.php?p=75&language=de
[12] Vgl.: Trotzki, Leo: Verratene Revolution. 3. Auflage. Mehring-Verlag. Essen. 2009. S 180.
[13] http://www.revolution.de.com/broschueren/kji/index.html

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