Nur 10,5 Prozent mehr im TV-L: Der ver.di-Forderungsbeschluss ist unzureichend

13.10.2023, Lesezeit 8 Min.
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Foto: fotandy/Shutterstock.com

Die Bundestarifkommission der ver.di hat ihre Forderungen für die Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst der Länder beschlossen. Die Beschäftigten zeigen sich enttäuscht. Ein Reallohnverlust ist vorprogrammiert.

Am vergangenen Mittwoch, dem 11. Oktober, hat die ver.di-Bundestarifkommission ihre Forderungen für die anstehende Tarifrunde vorgestellt. Verhandelt wird für 2,6 Millionen Beschäftigte im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) sowie erstmals für die Möglichkeit eines bundesweiten Tarifvertrags für studentische Beschäftigte (TVStud). Der erste Verhandlungstermin mit der “Arbeitgeberseite”, der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), steht am 26. Oktober an. Während auch GEW und DBB Beamtenbund die Beschäftigten vertreten, ist die ver.di verhandlungsführend.

Die offiziellen Forderungen sind: 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 500€ mehr, 200€ mehr für Nachwuchskräfte, sowie eine Übernahme von Auszubildenden bei einer Laufzeit von 12 Monaten. Das sind im Kern die gleichen Forderungen, mit denen im Frühjahr auch die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst (TVöD) gestartet wurden. Wo diese geendet sind, wissen viele Kolleg:innen wahrscheinlich noch gut: Nach einem Schlichtungsprozess hat die Führung der ver.di einem de facto Reallohnverlust zugestimmt. Statt in den Erzwingungsstreik zu gehen, hat man sich damit auf einen Kompromiss eingelassen, der die Lebensrealität von vielen hunderttausend Kolleg:innen angesichts von Inflation und allgemeiner Kostenexplosion nicht im Ansatz verbessern konnte.

Für studentische Beschäftigte ist erstmals eine bundesweite Tarifierung vorgesehen, bei mindestens 16,50 Euro und einer Mindestvertragslaufzeit von 24 Monaten. [Edit: Inzwischen hat ver.di die konkrete Lohnforderung aus ihrem Statement gelöscht; dort steht jetzt nur noch: “Für Studentische Beschäftigte (studentische Hilfskräfte) wollen wir eine Tarifierung der Arbeitsbedingungen. Der TVStud verbessert die Arbeitsbedingungen studentischer Hilfskräfte dramatisch, denn er sichert z. B. regelmäßig steigende Löhne oder Mindestvertragslaufzeiten.” Wir erwarten eine offizielle Bekanntmachung in kurzer Zeit.] Obwohl die Perspektive eines Tarifvertrags für diese bis dato größte Tariflücke im öffentlichen Dienst dringend notwendig ist, muss die Lohnforderung substanziell sein. Denn laut Statistischem Bundesamt waren 2021 knapp 38 Prozent der Studierenden armutsgefährdet – für das vergangene Jahr müssten es viel mehr sein. Gleichzeitig erhalten nur unter 12 Prozent der Studierenden BAföG. Bezeichnend ist, dass eine studentische Anstellung keineswegs vor Armut schützt: Über drei Viertel der SHKs sind armutsgefährdet, wie die TVStud-Studie dokumentiert. Trotz diesen handfesten Belegen haben Verhandlungsgegner:innen zynisch verlauten lassen, dass die prekären Lebensverhältnisse studentischer Beschäftigter für sie “philosophisch” seien.

Stimmen aus dem Betrieb

Für den ver.di-Vorsitzenden Frank Werneke ist das eine “absolut realistische und angemessene Forderung”, weshalb man mit der gleichen Forderung wie zuvor im TVöD ins Rennen gehen wolle. Dabei ist damals ein Reallohnverlust herausgekommen. Besser sah es beim Tarifabschluss in der letzten TV-L-Runde auch nicht aus, welche das Aktionskomitee an der Freien Universität Berlin bereits im Voraus mit folgenden Worten kommentierte:

Wie auch andere Tarifabschlüsse in den letzten Jahren beinhaltete bereits das letzte TV-L-Tarifergebnis 2021 über ein Jahr ohne Nominalerhöhung des Tabellenlohns (erst im 2. Jahr der Laufzeit gab es eine bescheidene Erhöhung von 2,8%), auf dem alle folgenden Erhöhungen sowie Punkte für die Rente, Beiträge für die Sozialversicherungen usw. beruhen. Mit anderen Worten: Jedes Jahr ohne Erhöhung des tabellenwirksamen Entgelts senkt „nachhaltig”, d.h. lebenslang, das Lohn- und Rentenniveau! […] Wir stellen fest, dass Tarifergebnisse, die dazu führen, dass der Tabellenlohn hinter der Inflationsrate zurückbleibt, den Namen „Entgelterhöhung” nicht verdienen, da sie inflationsbereinigt eine Lohnsenkung sind! Es kann jedoch nicht der Sinn von Entgelttarifverhandlungen sein, über das Ausmaß von Lohnsenkungen zu verhandeln.

Nach der Verkündung der Bundestarifkommission befürchten die Beschäftigten eine erneute Reallohnsenkung. So kommentiert Claudius Naumann, Vorstand der ver.di-Betriebsgruppe an der FU Berlin:

Selbst die volle Durchsetzung der Forderungen würde einen Reallohnverlust bedeuten. Aber die ver.di-Führung hat schon angedeutet, dass wir mit Nullmonaten und tabellen*un*wirksamen Einmalzahlungen rechnen sollen. Bei so einer niedrigen Forderung dürfen wir aber keine Kompromisse zulassen!

Lukas Schmolzi, ebenfalls Vorstandsmitglied der Betriebsgruppe, merkt an:

Die Forderung der BTK ist nicht nur enttäuschend. Ich mache mir große Sorgen, weil mit der Forderung bereits jetzt ein desaströser Abschluss in Aussicht gestellt wird. Dies wird sich auch in der Streikbeteiligung niederschlagen. Nie war für mich der Zusammenhang zwischen Aufstellung einer Forderung und Mobilisierungsfähigkeit zum Streik so spürbar. Streikenden wurde somit vorab der Stecker für einen erfolgreichen Abschluss, der einen Reallohnverlust verhindert, gezogen. Wir werden dennoch in den Streik gehen und diese Kritik in den Streik tragen. Das Thema dieser Tarifrunde ist für mich somit nicht das Tarifergebnis, sondern das Zustandekommen des Tarifergebnisses.

Die Berliner TVStud-Initiative zeigt sich hoffnungsvoll und kämpferisch, stimmt aber den Sorgen bezüglich der Forderungshöhe zu. Denn: In Berlin, wo bereits ein TVStud existiert, wird zunächst nur die prozentuale Lohnerhöhung von 10,5% für studentische Beschäftigte greifen.

Wir sind erfreut, dass die Verhandlungen über einen bundesweiten TVStud Teil der TV-L Runde sein werden. Zweijährige Mindestvertragslaufzeiten und faire Löhne sind ein wichtiger Schritt für bessere Arbeitsbedingungen an den Universitäten. Zugleich sind wir der Meinung, dass die TV-L Lohnforderungen, die selbst bei voller Erfüllung einen Reallohnverlust bedeuten, zu gering sind um den multiplen sozialen Krisen gerecht zu werden. Betrachtet aus Sicht des TVStud IIIs hatten wir uns für mutigere prozentuale Forderungen eingesetzt und auf deren Bestätigung durch die Bundestarifkommission gehofft, da nur diese garantiert für uns übernommen werden. Dennoch gilt, dass eine starke bundesweite TVStud Forderung und eine motivierte TV-L Runde für uns in Berlin ein starkes Standbein in kommenden Berliner Nachverhandlungen sein werden. Wir sind daher motiviert für eine historische bundesweite Tarifierung Studentisch Beschäftiger und 10,5% mehr Lohn gemeinsam mit unseren Kolleg:innen auf die Straße zu gehen und ein deutliches Zeichen zu setzen, dass Arbeitskampf an die Universitäten zurückkehrt!

Yunus, Pflege-Azubi und Gewerkschafter in der Berliner Krankenhausbewegung, blickt mit einem schlechten Fazit auf die letzte Tarifrunde im öffentlichen Dienst zurück und warnt vor dessen Wiederholung im TV-L:

In der TVöD-Runde haben wir mit mehr als einer halben Millionen Kolleg:innen gestreikt, in Berlin haben wir wichtige Erfahrungen mit Streikversammlungen gemacht. Es ist schließlich zu einem schlechten Ergebnis mit Reallohnverlust gekommen, weil die zentrale Arbeitskampfleitung und Verhandlungsführung bei großen Verhandlungen nur bei Hauptamtlichen wie Frank Werneke und Bundesvorstand lag, die nicht von Streikenden kontrolliert wurden. Sie haben die Streiktage der Bundesländer getrennt und so unsere Kampfkraft geschwächt. Hätte es echte Demokratie gegeben, hätten wir die Verhandlungsführer:innen abgewählt. Das gleiche Szenario wird sich jetzt wiederholen. Um das zu verhindern, müssen wir Streikversammlungen mit imperativen Mandaten umsetzen, damit die Beschäftigten selbst über ihre Forderungen entscheiden können.

Streiken für echte Lohnerhöhungen

Ein Problem ist, dass der Forderungsbeschluss der Bundestarifkommission auch institutionell in keinem direkten Verhältnis zu den Forderungsvorstellungen der Beschäftigten steht. Weder die Beschäftigtenbefragungen (in Papierform und online) noch die lokalen Gewerkschaftsgremien können verbindliche Vorgaben an die Bundestarifkommission weiterleiten. Diese wird für mehrere Jahre gewählt und ist nicht mal dem ver.di-Bundeskongress rechenschaftspflichtig. Auch wenn die Gewerkschaftsapparate sich seit einigen Jahren um eine “gewerkschaftliche Erneuerung” bemühen, kann über diese Schwachstelle nicht hinweg getäuscht werden.

Um diese und weitere Probleme anzugehen, ruft die ver.di-Betriebsgruppe an der FU Berlin am kommenden Montag zu einer Versammlung zur Forderungsbesprechung auf. Die Berliner TVStud-Initiative richtet am 23. Oktober eine studentische Vollversammlung an der FU und am 25. Oktober einen berlinweiten TVStud-Semesterauftakt aus – Infos darüber findet ihr im Telegram-Channel. Außerdem veranstaltet das Aktionskomitee FU am 26. Oktober, am ersten Verhandlungstag, eine Podiumsdiskussion zum Thema “Mehr rausholen für TV-L und TVStud – gewerkschaftliches Ritual oder Arbeitskampf?!” und richtet in einer Petition die Forderung “1000 Euro mehr und automatischer Inflationsausgleich” an die Bundestarifkommission. Das Aktionskomitee wird ein zentraler Ort der Streikkoordination an der FU Berlin werden. Unser Ziel muss sein, einen gemeinsamen Kampf für echte Lohnerhöhungen zu führen und dafür gewerkschafts- und tarifübergreifend auch in den Erzwingungstreik zu gehen, wenn nötig. Die Gewerkschaftsführung muss zeigen, ob sie dieses objektiv notwendige Ziel mitverfolgen oder gegen die Interessen der Beschäftigten stehen will.

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