NSU 2.0 Prozess und Verurteilung: Unabhängige Ermittlung statt Einzeltäter-These
Aufgrund der Drohschreiben, die er mit “NSU 2.0” unterzeichnete und verschickte, wurde Alexander M. zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Die Staatsanwaltschaft und der hessische Innenminister beharren dabei auf der Einzeltäter-These: Eine Beteiligung der Polizei habe es nicht gegeben.
Mit der Unterschrift „NSU 2.0“ versandten deutsche Rechtsextremist:innen seit August 2018 bisher mehr als 140 Morddrohungen an Politiker:innen, Personen des öffentlichen Lebens und Engagierte gegen Rassismus. Der NSU 2.0 spielt auf die rechtsterroristische Gruppe “Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) an, die zwischen 2000 und 2007 neun Migrant:innen ermordete und weitere 43 rechtsmotivierte Mordversuche ausübte.
Für 81 Drohbriefe wurde am gestrigen Donnerstag Alexander M. aus Berlin mit einer Haftstrafe von 5 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Unter anderem wurde er wegen Beleidigung und versuchter Nötigung, Störung des öffentlichen Friedens und Volksverhetzung schuldig gesprochen. Indizien, die für seine Schuld sprechen, seien die auf seinem Computer gefundenen Fragmente der verschickten Drohbriefe und die Zugangsdaten zum Yandex-Emailpostfach, von denen aus die Briefe weitergeleitet wurden. Die Staatsanwaltschaft hatte am 24. Oktober eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten für den 53-Jährigen gefordert, der wohl durch fingierte Anrufe an die in Polizeidatenbanken gespeicherten persönlichen Daten seiner Opfer gelangt sein soll.
Der Angeklagte leugnet jegliche Anschuldigungen und gibt an, “nur” Mitglied in der rechten Darknet Gruppe gewesen zu sein, aus der heraus die Schreiben verschickt worden waren. Insbesondere in Bezug auf die ersten Drohbriefe bestanden Zweifel an der Täterschaft von Alexander M. Diese wiesen, laut Verteidigung, auf einen Polizisten des Frankfurter Reviers als Urheber hin.
Dienstrechner und “Itiotentreff”
Dennoch bleibt trotz des Prozesses und der Verurteilung von Alexander M. die Rolle der hessischen Polizei bzw. des 1. Frankfurter Polizeireviers ungeklärt. Im Fokus steht Johannes S., gegen den immer noch wegen Geheimnisverrats ermittelt wird. So geht etwa Seda Başay-Yıldız, Anwältin der Familie des vom NSU ermordeten Enver Şimşek, davon aus, dass Polizist:innen zumindest an dem ersten Drohschreiben an sie mitgewirkt haben. Etwa eineinhalb Stunden vor dem Erhalt war nach ihren Privatdaten auf einem Dienstrechner im Frankfurter Polizeirevier sechs Minuten lang mittels 17 Abfragen in drei verschiedenen Datenbanken gesucht worden. Johannes S. war zur Tatzeit auf dem Revier und gehörte darüber hinaus der rechten Polizei-Chatgruppe „Itiotentreff“ an. Im Prozess gegen Alexander M. verweigerte er jegliche Aussage hierzu. Auch die Staatsanwaltschaft wies den Vorwurf zurück und bestand darauf, dass Alexander M. alleinig für alle Drohschreiben verantwortlich sei. Nach dessen Festnahme im Mai 2021 erklärte bereits Innenminister Peter Beuth (CDU) die hessische Polizei für entlastet.
Der allzeit beliebte Mythos des Einzeltäters
Wie auch im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe, die stellvertretend für das Trio angeklagt war, fokussieren sich Ermittlungen und Anklage auf eine Person und konstruieren das Bild des Einzeltäters. Bis heute musste sich bzgl. des NSU niemand aus den Reihen des Verfassungsschutzes verantworten, obwohl dieser nachweislich durch finanzielle Unterstützung und V-Leute mit der rechten Szene und auch dem NSU-Umfeld verflochten war. Grundlegend lässt sich feststellen, dass das Narrativ des Einzeltäters im Kontext von rechter Gewalt ein von Ermittlungsbehörden und Politik häufig gebrauchtes ist. Insbesondere dann, wenn dadurch weiteren Ermittlungen zu Mittäter:innen, Netzwerken und Strukturen in Institutionen entgegengewirkt wird, trägt es maßgeblich zur Aufrechterhaltung eben dieser bei. Wenn es dann doch zu Verurteilungen kommt, fällt das Strafmaß zumeist nicht sonderlich hoch aus: So erhielten die vier, neben Beate Zschäpe im NSU-Prozess Verurteilten Haftstrafen zwischen 2 Jahren und 6 Monaten für die Unterstützung des NSU und 10 Jahren für die Beihilfe zum Mord. Wenngleich die Bedrohung, die von Schreiben wie denen des NSU 2.0 ausgeht, für die Betroffenen real ist, so ist das Urteil gegen Alexander M. im Vergleich zu den Urteilen aus dem NSU-Prozess vergleichsweise hart. Schließlich geht es bei ihm nicht um den Vorwurf, an Morden indirekt oder direkt beteiligt gewesen zu sein. Es wirkt beinahe so, als wolle man mit diesem Urteil einerseits zeigen, dass alles, was irgendwie mit dem NSU zu tun hat oder darauf anspielt, nun ernst genommen wird. Andererseits kann es als Versuch gelesen werden, auch unter den NSU 2.0 einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen, wie dies beim NSU nach Zschäpes Verurteilung geschah.
Die Justiz beharrt auf ihrem Einzeltäter, trotz jeglicher Indizien, die für die Mitwirkung des Polizeibeamten Johannes S. an den Drohbriefen sprechen. Die unzureichenden Ermittlungen sind ein weiterer Deckmantel für die rechten Strukturen innerhalb der Polizei.
Es zeigt sich erneut, dass Polizei und Verfassungsschutz als Teil des bürgerlichen Staates keine Institutionen sind, auf die irgendein Verlass im Kampf gegen rechte Gewalt wäre – ganz im Gegenteil sind sie Mitwisser, Unterstützer und selbst Beteiligte. Sie gehören als solche benannt und abgeschafft. Der Kampf gegen rechte Strukturen, Parteien, Gruppen und Gewalt muss von links geführt werden!
Wir fordern im Zuge der Ermittlungen eine unabhängige Untersuchungskommission, die sich aus Betroffenen, Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften zusammensetzt!