Nordirland: Eine Wahl gegen den Brexit?
Am Sonntag wurde in Nordirland ein neues Parlament gewählt. Große Siegerin war dabei die nationalistisch-katholische Sinn Féin. Sie wurde knapp hinter der Democratic Unionist Party (DUP) die zweitstärkste Partei. Doch die Gräben zwischen den beiden bisherigen Koalitionspartner*innen sind tief. Das Land steht vor einer Regierungskrise, die auch die Gräben in der Arbeiter*innenklasse wieder vertiefen könnte.
Mit der Bekanntgabe der Wahlergebnisse hatte die Spitzenkandidatin von Sinn Féin, Michelle O’Neill, allen Grund zur Freude. Fast vier Prozentpunkte Stimmenzuwachs (bei den Sitzen ein Rückgang von 29 auf 27) konnte die Partei im Vergleich zu den Wahlen im letzten Jahr verzeichnen. Die ebenfalls regierende DUP verlor im Gegensatz dazu einen Prozentpunkt und erhielt 28 Sitze, zehn weniger. Die Sinn Féin ließ Anfang dieses Jahres die bisherige Koalition mit der DUP platzen, indem der vormalige Vizeregierungschef von Sinn Féin, Martin McGuinness, aus Protest seinen Rücktritt erklärte. Maßgeblicher Anlass war ein ausuferndes Förderprogramm für erneuerbare Energie, mit dem rund 500 Millionen (einige Quellen sprechen auch von einer Milliarde) Pfund Steuergelder verschleudert wurden. Die alleinige Verantwortung dafür schiebt die Sinn Féin der Spitzenkandidatin der DUP, Ariene Foster, in die Schuhe, obwohl sie selbst als Partei seit 2007 mit der DUP regiert. Eine erneute Regierungsbildung mit ihr an der Spitze lehnt die Partei deshalb bisher ab.
Doch auch der Brexit hat seine Spuren bei den Wahlen hinterlassen. Denn während die DUP im Sinne der Londoner Regierung eine pro-Brexit-Kampagne fuhr, wandten sich rund 56 Prozent der nordirischen Bevölkerung im Referendum gegen den Ausstieg aus der Europäischen Union. Sowohl die drittstärkste, ebenfalls nationalistische, Partei, die Social Democratic and Labour Party (SDLP) als auch die protestantische Ulster Unionist Party (UUP) sowie die liberale Alliance Party of Nothern Ireland vervollständigen mit Sinn Féin die Front der Brexit-Gegner*innen im Parlament. Damit ist natürlich keinesfalls gesagt, dass sich die Parteien untereinander grün sind. Dennoch gibt es damit seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 zum ersten Mal keine protestantische Mehrheit im Parlament. Diese Konstellation würde der Sinn Féin bei den knappen Mehrheitsverhältnissen aber durchaus Mehrheiten im Parlament ermöglichen. Der Präsident von Sinn Féin und ehemaliges IRA-Mitglied, Gerry Adams, bezeichnete die Wahl deshalb auch als „Wiederbehauptung“ der Position zum Brexit im Sommer 2016.
Unionismus versus Nationalismus
Im Zuge der Irischen Unabhängigkeitsbewegung um die 1920er-Jahren bildeten sich auf der auf grünen Insel faktisch zwei getrennte Gebiete heraus. Im Süden der Insel erlangte die republikanisch-nationalistische Sinn Fèin eine überwältigende Mehrheit der Stimmen. Ihr Ziel war der Aufbau einer unabhängigen Irischen Republik. Die Sinn Fèin galt bis zur Auflösung der Irish Republican Army (IRA) als ihr politischer Arm. Sie stützt sich historisch bis heute vor allem auf die katholische Bevölkerung. Im Norden war der Anteil der protestantischen Bevölkerung größer.
Auf diese Teile stützten sich vor allem pro-britische Kräfte, die auch als Unionist*innen bezeichnet werden. Sie strebten im Gegensatz zu den nationalistischen Kräfte eine engere Verbindung zwischen Irland und Großbritannien an. Die Versuche der britischen Armee, die republikanischen Kräfte im Süden zu bekämpfen, führten daraufhin zu einem dreijährigen Bürger*innenkrieg zwischen 1919 und 1921. Das Ende des Krieges besiegelte auch die endgültige Spaltung der Insel. Um wieder Stabilität in das Land zu bringen, beschlossen die britischen Besatzer*innen die Einsetzung von zwei Parlamenten. Im Norden wurde dieses von Unionist*innen angeführt. Im Süden schlossen ein großer Teil der republikanischen Kräfte um die IRA herum mit den britischen Besatzer*innen den anglo-irischen Vertrag, der den Aufbau eines des sogenannten Irischen Freistaates, die heutige Republik Irland, erlaubte. Dieser Staat erlangte damit zwar größere Unabhängigkeit, war jedoch immer noch dem britischen Parlament unterstellt. So sicherte sich die britische Krone vorübergehend den eigenen Einfluss, ohne einen erneuten Bürger*innenkrieg zu riskieren. Der Süden der Insel wurde erst im Jahr 1949 endgültig unabhängig von Großbritannien. Das in den irischen Verfassung festgeschriebene Ziel der Wiedervereinigung der beiden Teilen der Insel, wurde mit dem Karfreitagsabkommen 1998 gestrichen.
Die Sinn Fèin und die SDLP sind dabei bis heute die stärksten nationalistischen Parteien im nordirischen Parlament. Die DUP und die UUP sind wiederum die stärksten Vertreter*innen des Unionismus. Dazwischen gründeten sich jedoch auch Parteien wie die Alliance Party of Northern Ireland, die sich seit 1990 als politisch neutral definiert.
Abkommen zwingt zur Regierungsbildung
Das Karfreitagsabkommen zwischen der irischen und britischen Regierung sowie den Parteien Nordirlands wurde 1998 geschlossen. Neben wichtigen Punkten zur Befreiung politischer Gefangener wurde dort auch festgeschrieben, dass sich die stärksten Parteien von protestantischer und katholischer Seite zu einer Koalition zusammenschließen sollen. Ziel war es, den Frieden zwischen Katholik*innen und Protestant*innen zu gewährleisten, indem keine der beiden „verfeindeten“ Seiten alleine eine Regierung stellen kann. Sollte das nicht innerhalb von drei Wochen nach der Wahl geschehen sein, werden entweder Neuwahlen angesetzt oder die Londoner Regierung übernimmt provisorisch wieder direkt das Ruder.
Sozialer Sprengstoff in Nordirland
Hinter der Ablehnung des Brexits steht bis heute auch die Angst eines Aufflammens des Nordirland-Konflikts. Denn eine EU-Grenze zwischen Nordirland und Irland würde die bis heute ohnehin angespannten Verhältnisse in Nordirland wohl wieder verschärfen. Rund 42 Prozent der nordirischen Bevölkerung leben laut Angaben von Gewerkschaften in Armut – in älteren Haushalten ist die Zahl besonders hoch. Besonders in größeren Städten wie der Hauptstadt Belfast oder Derry leben katholische und protestantische Communities bis heute zu großen Teilen getrennt voneinander. Die katholischen und protestantischen Viertel Belfast sind bisher durch eine Mauer mit Stacheldraht voneinander getrennt. Nur rund 20 Prozent der Bevölkerung leben in „gemischten“ Vierteln. Aber auch Schulen und sonstige Freizeitaktivitäten sind bis heute weitgehend getrennt in religiöse Zugehörigkeit. An einer Aufhebung dieser Spaltung haben offensichtlich weder Unionist*innen noch Nationalist*innen ein Interesse.
Die Sinn Féin behauptete dabei zwar gerne, dass sie die Kürzungspolitik der Londoner Regierung ablehne. Doch letztlich setzte sie gemeinsam mit der DUP Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und Kürzungen von Sozialleistungen durch. Darüber hinaus steht sie für eine Senkung der Unternehmenssteuer für Großkonzerne. Trotz alledem stellt sie sich immer wieder als Vertreterin der katholischen Bevölkerung vor die Kameras. Mit ihrer Politik trifft sie jedoch einerseits die Arbeiter*innenklasse katholischen Glaubens, aber auch die gesamte lohnabhängige Klasse Nordirlands. Es ist die Politik von DUP und Sinn Féin, die die Spaltung der nordirischen Arbeiter*innenklasse verstärkt. Egal, ob DUP nach einer Annäherung in Richtung London schreit oder die Sinn Féin die katholische Bevölkerung unter dem Banner eines „vereinten Irlands“ versucht, für sich zu vereinnahmen. Letztlich sind es zwei Seiten derselben Medaille, mit der Arbeiter*innenrechte angegriffen und durch religiöse Spaltung ein vereinter Kampf der lohnabhängigen Klasse gegen die Kürzungspolitik verhindert wird.