Nicaraguanische Revolution: die aufständigen Massen schrieben Geschichte

28.07.2019, Lesezeit 10 Min.
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40 Jahre sind vergangen seit einer der wichtigsten Revolutionen des amerikanischen Kontinents.

Die Revolution in Nicaragua war eine der tiefgreifendsten revolutionären Prozesse in Lateinamerika. Eine aufständische Bewegung aus Landarbeiter*innen und Bauern*Bäuerinnen, Arbeiter*innen und der armen Stadtbevölkerung stand an der Spitze der Revolte und es war „die Guerrilla, die als Unterstützung der Massen diente“, nicht umgekehrt. So musste es selbst Humberto Ortega zugeben, ehemaliger Oberkommandant der Sandinistischen Volksarmee und Bruder des aktuellen Präsidenten, Daniel Ortega.

So lief die Geschichte ab

Der somozistische Staat wurde praktisch vom nordamerikanischen Imperialismus geschaffen, der von 1911 bis 1933 durch seine Truppen präsent war. Sie waren es, die die massenmörderische „Guardia Nacional“ gründeten und Anastasio Somoza García an ihre Spitze setzten. Dieser gelangte 1936 nach einem durch betrügerische Wahlen ratifizierten Militärputsch in die Präsidentschaft der Republik; Die Familie Somoza blieb daraufhin 45 Jahre lang an der Macht.

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Anastasio Somoza

Zu Beginn der 1960er Jahre begann allerdings die Entwicklung einer Differenzierung in den Reihen der Bourgeoisie: auf einer Seite die mit der Somoza-Dynastie verbundene Oligarchie, auf der anderen eine von der ökonomischen Expansion dieser Jahre profitierende Bourgeoisie – letztere waren vor allem Agrar-Exporteur*innen, Industrielle und Bankiers, für die sich die Somoza-Regierung als wenig hilfreich erwies. In diesen Jahren entstand die Frente Sandinista de Liberación Nacional (Sandinistische Nationale Befreiungsfront – FSLN), eine Guerrilla-Organisation, die sich durch einen kleinbürgerlich-nationalistischen Charakter auszeichnete und sich den Sturz Somozas zur Aufgabe machte.

Während der 1970er Jahre entlädt sich die Unruhe der Massenbewegungen in den wichtigen Streiks von 1973 und 1974. Diese werden grausam niedergeschlagen. Zwischen 1975 und 1976 wird die von der Regierung ausgehende Repression immer blutiger und der Gründer der FSLN, Carlos Fonseca Amador, fällt ihr zum Opfer. Die Unzufriedenheit nimmt ab September 1977 stark zu. Im Januar 1978 wird der berühmte Journalist Pedro Joaquín Chamorro ermordet. Die Situation wendet sich:

Die oppositionelle Bourgeoisie wird dazu gebracht, der Regierung frontaler entgegenzutreten. Als aber die Massenbewegung in Aktion tritt, begibt sich jene oppositionelle Bourgeoisie auf die Suche nach Versöhnung und Kompromiss mit der Diktatur.

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Carlos Fonseca (mit Bart)

Im September desselben Jahres, startet die FSLN eine abenteuerische Militäroffensive in verschiedenen Städten des Landes. Der Gegenangriff der Guardia Nacional ist brutal und endet in einem Massaker, in dem 10.000 Arbeiter*innen, Jugendliche und Student*innen ermordet werden.
Doch dieser verhängnisvolle Rückschlag schwächt die revolutionären Kräfte eines ganzen Volkes nicht, das auf genügend Rückhalt zählen kann, um seine Massenaktion trotz der Putschaktionen der Guerrilla auszuweiten.

Der Aufstand der Massen und der Fall von Somoza

In den ersten Monaten des Jahres 1979 beginnen die Massen mit Generalstreiks, Landbesetzungen und Ausschreitungen in den Städten gegen das somozistische Regime die politische Bühne zu betreten. Am 4. Juli erklären Massenorganisationen und die FSLN einen Generalstreik, der das ganze Land lahmlegt und in den Folgetagen zu Aufständen führt, die in den Städten Chinandega, León, Matagalpa, Estelí, Masaya, Granada und Carazo ausbrechen.

Was der Situation aber eine entscheidende Wende gibt, ist die spontane, aufständische Bewegung, in deren Folge ab dem 10. Juni in den wichtigsten Arbeiter*innenvierteln der Hauptstadt Managua von der Polizei „befreite Zonen“ entstehen. Nicaragua befindet sich im Aufstand. Es beginnt eine revolutionäre Krise, die mit keiner anderen vergleichbar ist. Der Fall Somozas steht kurz bevor.

Als der nordamerikanische Imperialismus sieht, dass die Situation sich ihm entzieht, wendet er sich an die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), um eine direkte Intervention durch die Entsendung von „Friedenskräften“ zu tarnen. International erhält dieser Vorschlag jedoch keinen Rückhalt. Somoza kapselt sich mehr und mehr ab und erhält nur noch von den lateinamerikanischen Diktaturen der Zeit Unterstützung.

Es ist die Hoffnung des Imperialismus, dass Somoza die Arbeiter*innen und Bauern*Bäuerinnen grausam niederschlägt, um daraufhin eine neue, bürgerliche Regierung einzusetzen. Für diese dreckige Arbeit lassen sich die Regierungen von Venezuela, Mexiko, Costa Rica und Panama gewinnen, die mit allen Mitteln zu verhindern versuchen, dass die Entwicklung eines Bürger*innenkriegs nicht mit der institutionellen Kontinuität bricht. Im Juni wird dann die Bildung einer Übergangsregierung, der Junta de Gobierno de Reconstrucción Nacional de Nicaragua (Regierungsjunta für den Nationalen Wiederaufbau Nicaraguas, GRNN) vorbereitet, die angesichts des unmittelbar bevorstehenden Sturzes von Somoza die Staatskontrolle übernehmen soll. Mitglieder dieser Junta waren Violeta Chamorro (die Witwe von Pedro Joaquín Chamorro) und Alfonso Robelo Callejas, zwei hohe Repräsentant*innen der Bourgeoisie; Daniel Ortega und Moisés Hernán, zwei Vertreter*innen der FSLN; und Sergio Ramírez, der als Mediator agierte und die Mittelschichten vertrat. Diese Junta wurde von den lateinamerikanischen Regierungen, die dies wiederum zuvor signalisiert hatten, anerkannt. Sie hatte vor, einem wichtigen Sektor der Guardia Nacional einen Platz innerhalb der neuen Regierung zu garantieren. Diese sollten sich mit den Guerrilla-Kräften der FSLN fusionieren.

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Regierungsjunta für den Nationalen Wiederaufbau Nicaraguas

Bei den Aufständen nach den Gegenangriffen der Guardia Nacional waren spontan Volksmilizen entstanden, die jedoch später in die regulären Kommandos der FSLN eingegliedert wurden. Die spontanen Aufstände, der lebendige Widerstand der Bevölkerung und die Angriffe der FSLN brachten die Guardia Nacional dazu, nur noch Aufgaben der strikten Verteidigung ihrer Kasernen und der Verteidigung des berühmten Bunkers von Anastasio Somoza durchführen zu können. Am Ende dieses Prozesses verlässt Somoza die Regierung: Seine Flucht am 17. Juli eröffnet die finale Phase der Entmachtung des Regimes.

Nach der Flucht Somozas sollte Francisco Urcuyo, ein Abgeordneter und Anhänger Somozas, einer vorherigen Abmachung zufolge der Regierungsjunta die Macht übergeben, um einen „Wandel in der Kontinuität“ zu erreichen. Doch „ihm kam in den Sinn“ die Massen zur Niederlegung der Waffen aufzurufen und zu verkünden, bis zu den Wahlen von 1981 bleiben zu wollen. Die Revolte der Massen war absolut. Die Arbeiter*innen, die Jugend und die Angehörigen der Milizen von Managua drangen in Somozas Bunker ein, wo sie die Zehntausenden beschlagnahmten Kriegswaffen zurückerlangten, untereinander aufteilten und sich zu einem erbitterten Kampf erhoben.

Die Guardia Nacional wurde vollständig besiegt und zerfiel endgültig. Am 19. Juli drangen die Kräfte der FSLN in die Hauptstadt ein und installierten die Regierungsjunta, die aus ihnen und Personen der oppositionellen Bourgeoisie bestand. Die Bilanz dieser ersten Periode der Revolution: 40.000 Tote und 100.000 Verletzte. Ihr zentraler Motor waren die Arbeiter*innen der Städte, die Landarbeiter*innen, das arme Volk, die Halbproletarier*innen vom Land und arme Bauern*Bäuerinnen. Wie Humberto Ortega zugab, „war es die Guerrilla, die als Unterstützung der Massen diente“, und nicht umgekehrt.

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Frauen der FSLN, 1979

Das Paradox der nicaraguanischen Revolution

Das große Paradox der nicaraguanischen Revolution ist, dass die Vertreter*innen des Kapitals selbst in der Regierungsjunta, in den Ministerien, im Verwaltungsapparat des Staates sowie in der Zentralbank wiederzufinden waren. Und das obwohl sowohl quasi der ganze somozatreue Sektor enteignet, das Bankwesen, die Versicherungen und der Bergbau verstaatlicht, Kontrolle über den Finanzsektor und über die Exporte und die Verteilung des internen Markts gewonnen worden war. Außerdem wurden wichtige Errungenschaften wie die massiven Alphabetisierungskampagnen, der Aufbau eines öffentlichen Gesundheitssystems, die Anerkennung der Landbesetzungen und Enteignungsdekrete von nicht bewirtschafteten Ländereien vorangebracht.

Mit dem Ziel, die antisomozistische Bourgeoisie in die Aufgabe des „nationalen Wiederaufbaus“ miteinzubeziehen und um internationale Kredite der imperialistischen Regierungen zu erhalten, wurden den Industriellen und Großgrundbesitzer*innen große Zugeständnisse gemacht. Die Wirtschaft wurde weiterhin vom Privateigentum dominiert und die Regierung vertrat das Konzept einer „gemischter Wirtschaft“. So begann auch die Entwaffnung der Bevölkerung und der Aufbau der Sandinistischen Volksarmee als regulärer Armee.

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Trotz alledem trat der alte Sektor der Bourgeoisie, der anfangs noch Teil der Junta war, zurück. Stattdessen begab sich ein anderer Sektor an seine Stelle: Rafael Córdoba, Mitglied des Obersten Gerichtshofs und Vorsitzender des Partido Conservador Democrático (Konservative Demokratische Partei) und Arturo Cruz, ehemaliger Beschäftigter der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Die großen Widersprüche der Revolution führen zu mehreren Umbildungen der Junta, wobei die FSLN mehr und mehr die Kontrolle übernimmt und selbst zur Stütze der Regierung wird. Dabei behalten sie jedoch ihre Strategie der Klassenkollaboration aufrecht, was dazu beiträgt, dass sich der kleinbürgerliche Charakter der Regierung als ein Bonapartismus sui generis verstärkt.

Nachdem Reagan 1981 zum Präsidenten der USA wird, beginnt die imperialistische Gegenoffensive, die Söldner*innenarmeen organisiert: die sogenannten Contras (vom spanischen Wort contrarrevolución). Die Revolution wird durch Bombardements wichtiger Bereiche der Wirtschaft wie den Häfen am Pazifik schwer getroffen. Die sandinistische Regierung bittet die Massen um Opfer zur Verteidung und für den Wiederaufbau, macht allerdings Zugeständnisse an die Bourgeoisie. Die Massen opfern sich unter großen Anstrengungen auf, doch die Bourgeoisie boykottiert die Wirtschaft.

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Reagan und der „contra“ Calero

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Contras

Der stärkste Schlag, den die Revolution von Nicaragua widerfährt, kommt aber aus Kuba durch Fidel Castros Politik. In einer feierlichen Staatsrede bestätigt Castro, dass Nicaragua kein neues Kuba sein wird: „Es gibt jetzt viele Fragezeichen und viele Leute wollen Ähnlichkeiten zwischen dem, was in Kuba passiert ist und dem, was in Nicaragua passiert ist beweisen… Deshalb haben die Nicaraguaner*innen die von einigen Leuten ausgedrückten Aussagen oder Befürchtungen, dass Nicaragua zu einem neuen Kuba wird, wunderbar beantwortet: Nein, Nicaragua wird zu einem neuen Nicaragua, was eine andere Sache ist“. Das bedeutete, dass die Bourgeoisie nicht enteignet werden und die Revolution sich nicht ausbreiten sollte, sondern das zentralamerikanische Land weiterhin isoliert bleiben würde.

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Ortega 1984

Fast hätte die aufkommende Revolution in El Salvador diese Politik zunichte gemacht und der Revolution in Zentralamerika einen großen Antrieb gegeben. Doch die Schwächung dieser revolutionären Prozesse durch ihre Führungen wurde von Verhandlungen mit der Bourgeoisie und dem Imperialismus in den sogenannten „verhandelten Übergängen“ begleitet. Zu diesen zählen die Friedensabkommen von Contadora, Esquípulas, Chaputpec und andere, die der Revolution in Nicaragua, El Salvador und ganz Zentralamerika ein Ende setzen würden.

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Das Abkommen von Esquípulas

Dieser Artikel erschien zuerst auf La Izquierda Diario.

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