Netanjahu vor Gericht – und dann?
Die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs hat Haftbefehle gegen Netanjahu, Galant und führende Mitglieder der Hamas beantragt. Was bedeutet das für die Palästinabewegung?
Am Montag erklärte Karim Khan, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Netanjahu und den Verteidigungsminister Joav Galant beantragt zu haben. Angesichts der andauernden Massaker der IDF in Gaza, der gezielten Aushungerung der Bevölkerung und der Blockade von Hilfslieferungen sollen sie für Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden. „Die Auswirkungen des Einsatzes von Hunger als Methode der Kriegsführung zusammen mit anderen Angriffen und kollektiven Bestrafungen gegen die Zivilbevölkerung [seien] in Gaza akut, sichtbar und weithin bekannt”, so Khan. Damit die Haftbefehle gültig werden, müssen sie nun von den Richter:innen der Vorverfahrenskammer des IStGH bestätigt werden, was einige Monate dauern könnte.
Der IStGH wird von 123 Staaten anerkannt und kann im Gegensatz zum Internationalen Gerichtshof keine Verfahren gegen Staaten, sondern nur gegen Einzelpersonen einleiten. Er verfügt über keine eigenen Organe, um die von ihm ausgesprochenen Haftbefehle zu vollstrecken. Diese Umsetzung obliegt den Staaten, welche den IStGH anerkennen. Israel und die USA gehören nicht dazu und haben ihm gegenüber keinerlei Verpflichtung. Dass Netanjahu und Galant, wenn die Anklage IStGH ausgesprochen wird, tatsächlich verhaftet und nach Den Haag ausgeliefert werden, ist also recht unwahrscheinlich.
Reaktionen aus Israel ließen nicht lange auf sich warten. In gewohnter Manier erklärte Netanjahu Karim Khan zu einem „der großen Antisemiten der modernen Zeit” und kündigte an, den Genozid in Gaza unbeirrt fortzusetzen: „Kein Druck und keine Entscheidung in irgendeinem internationalen Forum wird uns davon abhalten, diejenigen zu treffen, die uns zerstören wollen.“ Auch die US-Regierung zeigte sich empört und kündigte an, weiter an der Seite Israels zu stehen.
Die deutsche Regierung beschwerte sich über die Gleichsetzung der israelischen Regierung mit der Hamas. Denn Khan beantragte auch Haftbefehle gegen Jahia Sinwar, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri, und Ismail Haniyeh, führende Mitglieder der Hamas, denen ebenfalls Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden. Die Gleichsetzung von Hamas und israelischer Regierung ist tatsächlich falsch, allerdings in umgekehrter Weise. Während die Methoden der Hamas, wie die Tötung von Zivilist:innen und auch ihr reaktionäres Programm abzulehnen sind, ist sie Teil des bewaffneten Widerstands einer unterdrückten Nation. Israel dagegen ist eine von den führenden imperialistischen Ländern hochgerüstete Besatzungsmacht, die sich auf die systematische Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser:innen stützt.
Deutschland erkennt den IStGH zwar an, die Bundesregierung deutete in einer Pressemitteilung jedoch an, einen Haftbefehl gegen die israelischen Politiker:innen nicht vollstrecken zu wollen: „Das Gericht wird dabei eine Reihe schwieriger Fragen zu beantworten haben, einschließlich gerade auch der Frage seiner Zuständigkeit und der Komplementarität von Ermittlungen betroffener Rechtsstaaten, wie es Israel einer ist.“
Dennoch könnte die mögliche Anklage die ohnehin schon angeschlagene Netanjahu-Regierung weiter schwächen und eine Ablösung des Premiers oder der gesamten Regierung durch Neuwahlen beschleunigen. Doch auch eine neue Regierung in Israel würde an der Unterdrückung des palästinensischen Volkes wenig ändern. Der Genozid in Gaza ist mehr als ein grausames Verbrechen einzelner extrem rechter israelischer Politiker:innen, sondern steht in klarer Kontinuität der seit 76 Jahren andauernden Nakba. Die massenhafte Ermordung, Vertreibung, Verarmung und Entrechtung der Palästinenser:innen hat nicht erst mit dem Amtsantritt Netanjahus oder der aktuellen IDF-Offensive in Gaza angefangen. Sie liegt im Kern des zionistischen Staates, der seit seiner Gründung auf Siedlerkolonialismus –hinter dem die gesamte politische Kaste Israels und die führenden imperialistischen Mächte stehen– basiert.
Für die Palästinabewegung sind juristische Verfahren wie die Haftbefehle ein zweischneidiges Schwert. Zum einen sind sie eine Konsequenz der weltweiten Massenmobilisierungen in Solidarität mit Palästina, sie bergen zum anderen aber auch die Gefahr einer Umlenkung der Bewegung in bürgerliche Institutionen hinein. Indem durch scheinbare juristische Erfolge Hoffnung in eine institutionelle Lösung geweckt wird, kann eine Lähmung der Dynamik eintreten.
Die Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant sind also ein wichtiges Symbol, welches die Legitimität der pro-palästinensischen Proteste erhöht und die imperialistischen Staaten für ihre Unterstützung Israels in noch größere Bedrängnis bringen könnte. Sie bieten jedoch alleine keine Perspektive für die Beendigung des Genozids und die Befreiung Palästinas. Die UN und internationale Gerichte können noch so viele Resolutionen und Urteile aussprechen, solange die mächtigsten imperialistischen Staaten dieser Welt Israels Vorgehen decken, wird all dies folgenlos verhallen. Gut zu erkennen ist dies am jüngsten Urteil des Internationalen Gerichtshofs, welches besagt, dass Israel die Offensive auf Rafah sofort stoppen muss. Die israelische Regierung hat bereits angekündigt, dass sie ihren „gerechten und notwendigen Krieg” gegen die Hamas unbeirrt fortsetzen werde.
Um erfolgreich zu werden, braucht die Palästinabewegung stattdessen eine klassenkämpferische und anti-imperialistische Perspektive. Die Studierendenbewegung, die gerade international, aber vor allem in den wichtigsten imperialistischen Staaten Europas und Nordamerikas wächst, muss nun die Einheit mit der Arbeiter:innenklasse suchen. Denn nur sie verfügt über die mächtigsten Mittel des Kampfes, wie etwa die Bestreikung strategischer Positionen in Produktion und Transport, um beispielsweise Waffenlieferungen zu verhindern und das imperialistische Weltsystem lahmzulegen und die Ursachen für Völkermord und koloniale Unterdrückung zu beseitigen.
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