„Nein zum Krieg!“ – Tausende Verhaftungen, Folter in Polizeirevieren und eine feministische Antikriegsbewegung in Russland
Am 6. März 2022 wurden in 69 Städten Russlands rund 5.000 Teilnehmer:innen der Antikriegsproteste festgenommen. Damit sind es jetzt schätzungsweise 13.000 verhaftete Demonstrant:innen seit Beginn der Proteste gegen den Krieg in der Ukraine. OVD-Info fasst die wichtigsten Ergebnisse der Proteste zusammen. Der Bericht umfasst mehrere Fälle von massiver Polizeigewalt, Amtsmissbrauch, sowie Misshandlungen und Folter in Polizeistationen.
Die Antikriegsbewegung in Russland fand am vergangenen Sonntag einen erneuten Höhepunkt. Zehntausende Menschen bewegten sich im ganzen Land auf die Straßen, um gegen die Invasion des Putin-Regimes in der Ukraine zu protestieren. Genaue Zahlen und auch grobe Schätzungen der Zahlen sind unmöglich, da es keinerlei organisierte Demonstrationen gibt. Somit sind es zufällige Menschenansammlungen, verteilt in den gesamten Stadtgebieten. Die Regierung um Wladimir Putin will es durch die Zensur von Social-Media-Kanälen, scharfe Gesetzesänderungen und massive Polizeipräsenz unmöglich machen, eine strukturierte Antikriegsbewegung zu schaffen. Oppositionelle Medien erfuhren in den letzten Jahren immer schwerer wiegende Einschränkungen, die jetzt einen ganz neuen Höhepunkt erreichten. Der letzte verbliebene, von der Regierung unabhängige TV-Sender in Russland, “TV Rain”, beendete in der vergangenen Woche seinen Dienst aus Angst vor nicht mehr tragbarer Konsequenzen. Eine Gesetzesänderung, die am 4. März in Kraft trat und nur zwei Tage benötigte, um vom Kreml angekündigt, ausgearbeitet und verabschiedet zu werden, stellt jegliche Verbreitung von “Falschinformationen”, Verunglimpfung der Armee oder die simple Benennung der militärischen Offensive Russlands als “Krieg” unter Strafe, mit Strafandrohung von bis zu 15 Jahren Gefängnis. Bei einem großen Teil der Bevölkerung zeigen diese Einschüchterungstaktiken Wirkung – kaum vorstellbar wie viele Menschen die friedlichen Proteste unterstützen würden, wenn die reine Teilnahme an einer solchen Aktion nicht mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden könnte, denn auch sie könnten von dieser Gesetzesänderung betroffen sein.
Es gab viele Fälle von massiver Polizeigewalt – die Polizei verhaftete Menschen gewaltsam, schlug sie mit Schlagstöcken, setzte Elektroschocker ein. Unter den Festnahmen waren auch mindestens 13 Journalist:innen und über 100 Minderjährige. Bilder aus der Stadt Archangelsk beispielsweise zeigten mehrere Kinder unter den Festnahmen. Auch andere Auszüge aus dem OVD-Info-Bericht sind erschreckend. Aus mehreren Polizeidienststellen wurden schwere Misshandlungen vermeldet, darunter zahlreiche Schläge, Plastiksäcke über dem Kopf, Frauen wurden an den Haaren durch die Räumlichkeiten gezogen, mit Wasser übergossen. Die Zahl der nachweislich von Polizist:innen in der Öffentlichkeit verprügelten Demonstrant:innen beläuft sich auf mindestens 34 Personen, die Dunkelziffer könnte auch hier deutlich höher sein. Den Analyst:innen von OVD-Info liegen Videos vor, in denen eine junge Frau auf offener Straße von Polizisten gewürgt wird und bei drei weiteren Demonstrant:innen sind lebensgefährliche Kopfverletzungen erkennbar.
In einigen Fällen wurden Personen sofort von der Polizei entlassen, ohne dass ein Protokoll erstellt wurde. Einige Verhaftete wurden jedoch ohne Nennung des konkreten Tatvorwurfs über Nacht festgehalten, befinden sich noch immer in Gewahrsam. Die Anklagepunkte und deren angedrohtes Strafmaß sind vielfältig und reichen von Geldstrafen in Höhe von 2.000 bis 300.000 Rubel bis hin zu Gefängnisstrafen mit bis zu 20 Jahren. Die Praxis der Justiz in Russland in den letzten Jahren zeigt, dass oppositionelle Demonstrant:innen befürchten müssen, ohne faire Prozesse im Schnellverfahren verurteilt zu werden.
„In jeder Polizeidienststelle gibt es möglicherweise mehr Festgenommene als in den veröffentlichten Listen. Nur die Namen von Personen, die zuverlässig bekannt sind und deren Namen veröffentlicht werden dürfen, wurden veröffentlicht„, berichten die OVD-Info-Analyst:innen. In einige Polizeidienststellen werden die Anwält:innen nicht hineingelassen: Die Polizei hat den Plan „Festung“ angekündigt. Dieser besagt, es drohe ein Anschlag auf die Polizeidienststelle und niemand darf hineingelassen werden. Der Plan „Festung“ wurde in der Vergangenheit schon häufig bei Massenaktionen angewandt, um die Anwält:innen von den Festgenommenen fernzuhalten.
Eine feministische Antikriegsbewegung gibt Hoffnung
Ein junges Phänomen, welches in den letzten zwei Wochen entstand, ist der „Feministische Antikriegs Widerstand“ (Instagram: @fem_antiwar_resistance). Innerhalb kürzester Zeit organisierte sich eine Gruppe von Frauen, trotz aller Widrigkeiten, um die Proteste, und kündigte Aktionen am 6. März, aber auch am 8. März, den internationalen Frauenkampftag an. In Russland gilt dieser Tag als offizieller Feiertag und wird im bürgerlichen Verständnis ähnlich gefeiert wie der Muttertag in Deutschland.
Im Manifest der Gruppe, welches bereits in acht Sprachen verfügbar ist, heißt es: „Krieg bedeutet Gewalt, Armut, Zwangsvertreibung, zerstörte Leben, Unsicherheit und das Fehlen einer Zukunft. Er ist unvereinbar mit den wesentlichen Werten und Zielen der feministischen Bewegung. Krieg verschärft die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und wirft die Errungenschaften der Menschenrechte um viele Jahre zurück. Krieg bringt nicht nur die Gewalt von Bomben und Kugeln mit sich, sondern auch sexuelle Gewalt: Wie die Geschichte zeigt, steigt während des Krieges das Risiko, vergewaltigt zu werden, für jede Frau um ein Vielfaches. Aus diesen und vielen anderen Gründen müssen russische Feministinnen und alle, die feministische Werte teilen, entschieden gegen diesen von der Führung unseres Landes entfesselten Krieg auftreten.“
Beispiele wie dieses zeigen, dass auch in Russland das Potenzial für die Entstehung einer dynamischen Kraft existiert, die sich gegen den Krieg und gegen Putins Regime auflehnen kann. Zugleich gibt es erste Berichte von Streiks der Arbeiter:innen gegen die ökonomischen Auswirkungen des Krieges: In einer Fabrik in Nischnekamsk traten Arbeiter:innen in einen wilden Streik, nachdem ihnen die Auszahlung ihres Lohns nach der Abwertung des Rubels verweigert worden war. Das zeigt auch das Potenzial des Kampfes der Arbeiter:innenklasse in Russland. Wenn sie beginnt, sich gegen die wirtschaftlichen Folgen des Krieges und gegen den Krieg insgesamt zu erheben, und ihre Forderungen mit dem Kampf der Frauen und der Jugend gegen den Krieg verbindet, kann diese Bewegung kraftvoll sein.