Nein zum Genozid in Palästina und zur Festung Europa: Interview mit revolutionären Kandidat:innen der Europawahl

31.05.2024, Lesezeit 8 Min.
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Spitzenkandiatat:innen der CRT: Pedro Castilla (l.) und Lucía Nistal. Foto: izquierdadiario.es

Bei den bevorstehenden Europawahlen kandidieren auf der Liste der revolutionären Sozialist:innenen auch Aktivist:innen aus den pro-palästinensischen Protestcamps an den spanischen Universitäten. Ein Interview mit Pablo Castilla und Lucía Nistal, Kandidaten der Revolutionären Arbeiter:innen-Strömung (CRT) in Spanien.

Vom 6. bis 9. Juni wählen die Bürger:innen der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre Vertreter:innen für das Europäische Parlament. Das 705 Mitglieder zählende Gremium mit Sitz in Brüssel und Straßburg hat kaum wirkliche Macht: Es kann weder ein Gesetzgebungsverfahren einleiten noch den EU-Haushalt verabschieden, da diese Befugnisse bei der nicht gewählten Europäischen Kommission liegen. Das Europäische Parlament ist eher ein Feigenblatt für die EU-Bürokratie. Daher ist das öffentliche Interesse an den Wahlen bescheiden und die Wahlbeteiligung lag 2019 bei nur etwa 50 Prozent. In jedem Land wählen die Wähler:innen zwischen verschiedenen Kandidat:innen der nationalen politischen Parteien, die ihrerseits europäische Bündnisse eingehen. 

Im Laufe der Jahre wurde eine Reihe von Trotzkist:innen nach Brüssel gewählt, darunter Alain Krivine von der Ligue communiste révolutionnaire („Revolutionär-kommunistische Liga“) in Frankreich von 1999 bis 2004 und Paul Murphy von der Socialist Party of Ireland von 2011 bis 2014. Trotz des grundlegend antidemokratischen Charakters der EU bieten die Wahlen eine wichtige Gelegenheit, der kapitalistischen Politik zu widersprechen und revolutionäre Ideen zu verbreiten. Die CRT-Liste wird angeführt von Pedro Castilla, einem Studenten der Universität Barcelona, und Lucía Nistal, einer prekär beschäftigten Dozentin an der Autonomen Universität Madrid.

Die CRT tritt bei den Europawahlen mit einem Programm „für eine antikapitalistische und sozialistische Lösung“ an. Erzählt uns zunächst etwas über die derzeitige Situation in Europa.

Pablo Castilla: Die Situation ist gekennzeichnet durch den Völkermord am palästinensischen Volk – ein Massaker an über 36.000 Menschen – mit der Komplizenschaft unserer imperialistischen Regierungen. Alle europäischen Regierungen haben sich von der ersten Minute an mit Israel verbündet. Die spanische Regierung von Pedro Sánchez, die sich gerne als „die fortschrittlichste in der Geschichte“ präsentiert, hat jetzt einen palästinensischen Staat anerkannt – aber sie hat nicht einmal in Erwägung gezogen, die diplomatischen Beziehungen zu Israel abzubrechen.

Junge Menschen auf der ganzen Welt erheben sich in Solidarität mit Palästina. Tausende schließen sich den Camps an den Universitäten in aller Welt an. Wir sind Teil dieser neuen Jugendbewegung und versuchen, sie mit der Arbeiter:innenklasse und der feministischen Bewegung zu verbinden, um der kapitalistischen Barbarei „basta“ zu sagen.

Lucía Nistal: Die letzten Jahre waren in Europa sehr turbulent. Seit mehr als zwei Jahren herrscht in der Ukraine ein großer Landkrieg, bei dem Tausende von Menschen getötet und Millionen vertrieben wurden. Jeden Tag werden wir in militaristischen Reden aufgefordert, uns auf einen Krieg vorzubereiten. Alle europäischen Staaten erhöhen ihre Militärbudgets, und 33 Milliarden Euro an Militärhilfe wurden an die Ukraine geschickt. Die gesamte spanische Regierung hat diese Politik unterstützt, einschließlich der sozialdemokratischen PSOE und der vermeintlich linken Koalition Unidas Podemos. Im Jahr 2023 entsprach der spanische Militärhaushalt allen Sozialausgaben zusammen.

Die CRT nimmt zum ersten Mal an den Europawahlen teil. Warum habt ihr euch zu diesem Schritt entschlossen?

Pablo Castilla: Weil es an der Zeit ist, unsere Stimme zu erheben. Die EU befindet sich auf einem zunehmend reaktionären Weg. Wir wollen mit unserer Kandidatur bei den Europawahlen ein Zeichen setzen. Wir wollen den jungen Menschen, die gegen den Völkermord rebellieren, den Frauen aus der Arbeiter:innenklasse und Migrant:innen eine Stimme geben. Unser Ziel ist es, dass diese Kandidatur zur Bildung einer antikapitalistischen und sozialistischen linken Kraft beiträgt, die die Idee verteidigt, dass eine andere Zukunft möglich ist.

Lucía Nistal: Auf der CRT-Liste sind 60 Prozent der Kandidat:innen unter 27. Wir wollten Pablo, 24 Jahre alt, als Spitzenkandidaten, weil er Teil dieser neuen Generation ist, die auf den Universitäten in der ganzen Welt kämpft. Diese Kandidatur zeigt, dass wir uns nicht mit dem „kleineren Übel“ zufrieden geben – wir wollen eine politische Alternative zum Europa des Kapitals, eine, die sich nicht nur gegen die extreme Rechte richtet, sondern auch gegen die Mitte-Links-Alternativen, die in Wirklichkeit nur mehr vom Gleichen sind.

Du hast das Linksbündnis Unidas Podemos erwähnt. Die neoreformistische Partei Podemos, die von Pablo Iglesias gegründet wurde, war mehrere Jahre lang Teil der spanischen Regierung. Warum kandidiert ihr gegen Podemos?

Pablo Castilla: Die derzeitige spanische Regierung kann man nicht als fortschrittlich bezeichnen, auch wenn sie das von sich selbst behauptet. Die PSOE und Unidas Podemos haben für die höchsten Militärbudgets seit Jahrzehnten gestimmt. Sie sind verantwortlich für Massaker an den Grenzen gegen Flüchtende. Sie regieren für das Großkapital, unterdrücken soziale Kämpfe und verweigern das Recht auf Selbstbestimmung. Im Grunde setzen sie eine reaktionäre Politik fort und nennen sie fortschrittlich – aber die Menschen beginnen, diese Täuschung zu durchschauen.

Lucía Nistal: Letzte Woche war der 13. Jahrestag von „15M“, dem 15. März 2011, als junge Menschen, die sich Indignados („Empörte“) nannten, begannen, öffentliche Plätze zu besetzen. Viele von uns waren Teil dieser Bewegung. Podemos hat all diese Energie in die Wahlen und ins Parlament gelenkt, wobei Iglesias schließlich einer imperialistischen Regierung als Juniorpartner der PSOE beitrat. Die Sozialdemokratie kann dafür dankbar sein – Podemos hat dazu beigetragen, ein Regime zu retten, das von jungen Menschen in Frage gestellt wurde. Sie akzeptierten sogar die Monarchie. Aber unsere Generation hat eine Lektion gelernt: Weder der spanische Kapitalismus noch die Europäische Union können im Interesse der arbeitenden Menschen reformiert oder verwaltet werden.

Die meisten Menschen gehen davon aus, dass bei den Europawahlen ein enormer Sieg der extrem rechten Kräfte, einschließlich der rassistischen Partei Vox in Spanien, eintritt. Was schlagt ihr vor, um die Rechte zu stoppen?

Pablo Castilla: Die extreme Rechte wächst, weil die Regierungen zwar vorgeben, gegen sie zu sein, aber in der Realität die Agenda der Rechten in die Tat umsetzen. Während die extreme Rechte Geflüchtete angreift, haben die Regierungen den EU-Pakt zu Migration und Asyl verabschiedet, der das Asylrecht stark einschränkt und die Abschiebung von Migrant:innen erleichtert. Dies wurde unter der spanischen Präsidentschaft der Europäischen Kommission vorangetrieben. In dieser Frage sind sich Spaniens Mitte-Links-Premier Pedro Sánchez und Italiens extrem rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni einig. Es ist einfach nicht wahr, dass die linke Mitte eine Mauer gegen die extreme Rechte darstellt. Ganz im Gegenteil: Sie ebnet den Weg für einen Sieg der Rechten.

Lucía Nistal: Wir müssen uns der Politik der extremen Rechten widersetzen, ganz gleich, wer sie vertritt. Diese sogenannten Progressiven sagen uns, dass wir sie wählen müssen, um die extreme Rechte zu stoppen – aber was wir wirklich brauchen, ist der Klassenkampf der Arbeiter:innen und der Widerstand von Frauen, Migrant:innen, queeren Menschen und der Jugend.

Warum sollten die Menschen für die CRT stimmen? Was sind eure zentralen Vorschläge?

Lucía Nistal: Wir haben acht Vorschläge für eine antikapitalistische und sozialistische Lösung der Krise aufgestellt. Der erste ist, den Genozid in Gaza zu beenden und die Beziehungen zu Israel abzubrechen. Wir müssen die Mobilisierungen verstärken und gleichzeitig für ein einziges, freies, sozialistisches Palästina der Arbeiter:innenklasse kämpfen. Wir lehnen alle Militärausgaben ab. Wir prangern die Festung Europa an und fordern den Erlass der Auslandsschulden, um die imperialistische Ausbeutung der Welt zu beenden. Wir fordern Freizügigkeit und volle Rechte für alle. Wir sagen, die Kapitalist:innen müssen für ihre eigene Krise zahlen. Wir fordern die Verstaatlichung aller Unternehmen, die Arbeiter:innen entlassen, unter Arbeiter:innenkontrolle. Wir fordern eine Verkürzung des Arbeitstages ohne Lohnkürzungen sowie höhere Besteuerung der Kapitalist:innen, um das Gesundheitswesen, die Bildung und die sozialen Dienste zu finanzieren.

Pablo Castilla: Da die Kapitalist:innen den Planeten zerstören, müssen wir den Kapitalismus zerstören. Ein Übergang zu erneuerbaren Energien erfordert die Verstaatlichung des Energie- und Verkehrssektors unter der demokratischen Kontrolle von Arbeiter:innen, Verbraucher:innen und Umweltgruppen. Wir wenden uns gegen Unterdrückung und fordern eine vollständige Amnestie für alle politischen Gefangenen. Wir fordern die Abschaffung der Monarchie und das volle Selbstbestimmungsrecht für alle Völker im spanischen Staat.

Der einzige realistische Weg, all dies zu erreichen, sind unabhängige Mobilisierungen der Arbeiter:innenklasse, zusammen mit Frauen, Jugendlichen und Migrant:innen. Wir kämpfen für den Sozialismus von unten, basierend auf Selbstorganisation und den breitesten Formen der Basisdemokratie. Gegen das Europa des Kapitals fordern wir ein sozialistisches Europa der Arbeiter:innen und der Massen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch bei Left Voice.

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