Nancy Fraser: „Es ist möglich einen radikalen Feminismus mit klarem Profil aufzubauen.“

13.05.2017, Lesezeit 15 Min.
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Einige Tage vor dem 8. März und dem Internationalen Frauenstreik führten wir ein Gespräch mit Nancy Fraser, US-amerikanische Intellektuelle und eine der Initiatorinnen für den Aufruf zum Aufbau eines „Feminismus der 99%“.

Nancy Fraser ist Professorin für Philosophie und Politikwissenschaften an der New School for Social Research in New York City. Dort ist sie Teil eines Bündnisses, das zur Teilnahme am internationalen Frauenstreik am 8. März aufrief.

In ihrer akademischen Arbeit beschäftigt sie sich unter anderem mit politischer Philosophie, Sozialwissenschaften, kritischer Theorie, Kapitalismuskritik, Feminismus und Identitätspolitik.
Ihre Ausarbeitungen nehmen einen kritischen Standpunkt gegenüber dem ein, was sie “neoliberalen Feminismus” nennt. Dieser half bei der Verschleierung und der Rechtfertigung der imperialistischen Demokratie. Er verzichtete auf die Kritik an der Beziehung zwischen Patriarchat und Kapitalismus und hat seine programmatische Basis auf eine Reihe von Forderungen für und von Frauen aus der Mittelschicht reduziert. Der höchste Ausdruck dieses “neoliberalen Feminismus” war die kürzlich erfolgte Kanditatur von Hillary Clinton, die von Donald Trump besiegt wurde.
Left Voice, Teil des internationalen Netzwerkes von La Izquierda Diario, sprach mit ihr in New York über die aktuellen Debatten zur Präsidentschaft von Donald Trump und die Herausforderungen, die sich den sozialen Bewegungen und der Linken eröffnen, insbesondere der Frauenbewegung und der feministischen Bewegung.

Was ist der Feminismus der 99 Prozent?

Auf einer Ebene ist es eine Art Reaktion auf die Richtung, die der Feminismus eingeschlagen hat, besonders in den Vereinigten Staaten. Aber nicht nur hier hat er, wie ich es sehe, eine gefährliche Beziehung mit dem Neoliberalismus entwickelt. Die Hauptströmung des Feminismus in den USA hat sich in einen unternehmerischen Feminismus verwandelt, in einen „Lean-In“ Feminismus (in Anlehnung an ein gleichnamiges Buch von Facebook-Führungskraft Sheryl Sandberg und Autorin Nell Scovell), einen Feminismus der nur die „Gläserne Decke“ (der ungleichen Aufstiegschancen in gesellschaftlichen Institutionen) angreift und Frauen dazu aufruft, hohe Positionen in Unternehmen anszustreben. Der Mainstream-Feminismus hat jegliche breitere und solide Konzeption davon aufgegeben, was Geschlechtergleichheit oder soziale Gleichheit im Allgemeinen bedeutet. Anstelle dessen scheint er sich in Wirklichkeit nur auf das zu konzentrieren, was ich als „Meritokratie“ bezeichnen würde. Das bedeutet, nur die Hindernisse abzubauen, die den „talentierten“ Frauen den Zutritt zu den höchsten Positionen in den Unternehmens- und Militärhierarchien verbauen.

Die Art des Feminismus, die ich immer unterstützt habe – und ich muss sagen, dass ich in diesem Sinne ein Kind der 60er Jahre bin – ist ein Feminismus, der versucht die ökonomischen Hierarchien komplett abzuschaffen und nicht einem kleinen Teil von Frauen die Möglichkeit zum Aufstieg in den Unternehmen zu gewähren.

Doch der Feminismus schlug die neoliberale Wende vor rund 20 Jahren ein. Für mich handelt es sich nicht einfach um etwas schreckliches, was mit der Wahl von Trump geschah, auch wenn das wirklich sehr schlecht ist. Doch ich denke, dass unter der Spitze des Eisbergs ein größerer Komplex an Umständen liegt, die mit strukturellen Aspekten unserer Gesellschaft zusammenhängen, und der von einem Großteil der feministischen Strömungen ignoriert wurde. Das gilt nicht für einige relativ kleine linke Strömungen, mit denen ich mich persönlich identifiziere. Doch wir haben es bisher nicht geschafft, uns mehr Gehör zu verschaffen. Vielleicht haben wir Trump dafür zu danken, dass jetzt der Moment gekommen ist, an dem man auch radikalere Stimmen hört.

Nach den großen Demonstrationen, dem starken Aufkommen von Empörung und dem Wunsch nach Aktivismus und Widerstand, wie man beim Women’s March am 21. Januar sehen konnte, scheint es nun die Möglichkeit zu geben, dem Feminismus in den USA eine andere Richtung zu geben. Ich würde es eine Kurskorrektur nennen im Gegensatz zu einfachem Widerstand.

Die Demonstrationen vom 21. Januar waren fantastisch. Es gab eine enorme Energie, eine außergewöhnliche Anzahl von Leuten und viel Kreativität, auch wenn ich sagen muss, dass es politisch ein bisschen rudimentär war. Es gab keine klare Führung, und vielleicht wollten deswegen so viele teilnehmen.

Aber es ist auch möglich, den Aktivismus von Frauen mit klarerem Profil, einer klaren Perspektive, einer Plattform, aufzubauen. Ich denke, dass eine solche Plattform im aktuellen Kontext viel breitere Unterstützung gewinnen könnte. Es gibt so viele Menschen, sowohl junge als auch ältere, die sich zum ersten Mal radikalisieren und politisieren. Leute die sich unter Obamas Präsidentschaft bedeckt hielten. Niemand wollte sich gegen den ersten schwarzen Präsidenten stellen und natürlich hat er einige Dinge gemacht, die man als fortschrittlich einschätzen könnte. Doch der Aktivismus brach ein, jetzt jedoch gibt es neue Möglichkeiten.

Also riefen wir zu einem Streik für den 8. März auf als spezifisch US-amerikanische Antwort auf den breiteren internationalen Aufruf, der in mehr als 30 Ländern unterstützt wurde. Wir dachten, dass man die Möglichkeit ausnutzen müsste, um einen linken, radikalen Feminismus aufzubauen. Das meinten wir als wir vom Feminismus der 99 Prozent sprachen. Ein Feminismus für alle Frauen, denen der unternehmerische Feminismus praktisch nichts gebracht hat.

Du sprichst vom Ende des „fortschrittlichen Neoliberalismus“. Worauf beziehst du dich mit dieser Kategorie und wieso denkst du, dass wir gerade den Anfang vom Ende dieses Zyklus erleben?

Über eine lange Zeit hinweg hatte ich Schwierigkeiten, diese Umwandlung der vorherrschenden Strömung des Feminismus hin zu einer unternehmerischen Form, zu verstehen. Und ich muss gleich sagen, dass ich das gleiche über alle fortschrittlichen sozialen Bewegungen sagen würde. Es ist nicht nur ein Problem des Feminismus. Es ist ein Problem der antirassistischen Bewegungen, an denen auch ein politischer Apparat der schwarzen Elite beteiligt ist, zumindest bis zum Aufstieg von Black Lives Matter. Ich glaube, dass wir einen unternehmerischen und neoliberalen Flügel in der Ökologiebewegung haben, die einen grünen Kapitalismus vorantreibt. Innerhalb der LGBTQI*-Bewegung haben wir Sektoren, die die Inklusion von Homosexuellen in die Armee und die Unternehmenswelt fordern, etc.

In den USA haben wir eine Kultur des Individualismus, des Voluntarismus und des Aufstiegs durch die eigene Anstrengung. Wenn du es nicht schaffst, ist es deine eigene Schuld. Das ist die normale Dynamik, der die Gesellschaft folgt. Nur in Perioden offener Krisen sehen die US-Amerikaner*innen einen echten Anreiz, um strukturell darüber nachzudenken, wie unsere Gesellschaft strukturiert ist und wie sie von Grund auf zusammengesetzt ist. Bernie Sanders hat wundervolle Begriffe verwendet. Er sagte, es ist eine „gefälschte Wirtschaft“, eine „gefälschte Gesellschaft“, ein „gefälschtes politisches System“. All das ist wahr. Aber um das verstehen zu können, muss man die für diese Situation verantwortlichen Strukturen charakterisieren.

Seit langer Zeit verfolge ich und schreibe ich über die neoliberale Umwandlung sozialer Bewegungen. Doch in bestimmter Hinsicht haben mir die letzten Wahlen in den USA, die Kampagnen und alles darum herum dabei geholfen, das Problem klarer zu erkennen. Denn ich denke, dass Hillary Clinton es perfekt verkörperte. Und dann hat sich für mich alles zu einem deutlichen Bild zusammen gefügt und ich sagte mir: „Aha! Der Wahlkampf zwischen Clinton und Trump ist der Wettstreit zwischen zwei schrecklichen Optionen“, die ich als „fortschrittlichen Neoliberalismus“ und „reaktionären Populismus“ bezeichnen würde. Und ich habe verstanden, dass der herrschende Block in den USA mindestens seit Amtsantritt von Bill Clinton 1992 – also vor langer Zeit – aus einer unheilvollen Allianz zwischen den unternehmerischen Mainstream-Strömungen der neuen sozialen Bewegungen und gewissen Teilen der US-amerikanischen kapitalistischen Klasse besteht. Nicht aus allen, sondern nur aus den Teilen der Unternehmenswelt, die nicht von der verarbeitenden Industrie abhängen, sondern vom sogenannten „symbolischen und kognitiven Kapitalismus“. Das ist Hollywood, Silicon Valley und natürlich dem „großen Elefanten im Raum“: Wall Street und die Finanzwelt. Die Finanzwelt ist zu einem großen Sektor unserer Wirtschaft geworden und hat andere Teile verdrängt.

Darauf bezog ich mich, als ich von fortschrittlichem Neoliberalismus sprach. Auf die Form, durch die ein Teil der Unternehmenswelt eine Art fortschrittliche Tarnung für Politiken bilden konnte, die in Wirklichkeit die Lebensgrundlage und -verhältnisse, die Familien und die Gemeinschaften der US-amerikanischen Armen und der Arbeiter*innenklasse zerstören und auch das Leben der Mittelklasse zersetzen. Die zwei großen Antworten auf diesen fortschrittlichen Neoliberalismus waren natürlich der Sieg von Trump, aber auch die extrem erfolgreiche Kampagne von Bernie Sanders, die alle Erwartungen überstieg. Sanders gelang es fast, Hillary Clinton zu besiegen, obwohl sie ihren gesamten Parteiapparat und sehr viel Macht hinter sich hatte. Es war eine sehr gewaltige Erhebung gegen den fortschrittlichen Neoliberalismus. Ein rechter Flügel und ein linker Flügel. Leider hat der Flügel von Trump gesiegt. Doch in gewisser Weise hat er diese hegemoniale Allianz aufgedeckt und ich denke, dass das den Weg für die aktuellen Mobilisierungen bereitet hat.

Und ich sollte noch einen letzten Punkt hinzufügen. Einer meiner Ängste in Bezug auf die Situation jetzt ist, dass das Fehlen einer starken und klaren linken Position dazu führt, dass der riesige Widerstand am Ende den fortschrittlichen Neoliberalismus wieder aufbaut unter einer etwas akzeptableren Figur als Hillary Clinton, die politisch quasi erledigt ist. Das ist eine Angst, die mich umtreibt. Indem wir den Aufruf zum Streik geschrieben haben, um diesen linken Feminismus zu organisieren, haben wir auch versucht, eben dieses Szenario zu verhindern.

Ich wünschte, dass dies ein Modell für andere soziale Bewegungen wäre. Ich würde gerne zahlreiche antirassistische Bündnisse gemeinsam unter einem ähnlich radikalen Programm entstehen sehen. Ein Antirassismus für die 99 Prozent. Warum gibt es das nicht? Für die Bewegung der Gays, Lesben, Queer und Trans-Menschen und für die Ökologiebewegung. Ich glaube, dass ist der Weg.

Und Sanders, der auf keinen Fall eine perfekte Figur ist, hat auf gewisse Art und Weise diesen Weg geebnet. Ob er innerhalb der Demokrat*innen bleibt oder nicht ist ein anderes Problem, aber er hat eine Sprache bereitgestellt und hat unter anderem dabei geholfen, offenzulegen, was diese Partei die letzten 30 Jahre gemacht hat. Und ich denke, dass wir diese Öffnung, zu der er beigetragen hat, und die perverserweise auch dazu beigetragen hat, dass Trump entstand, vertiefen wollen. Wie ich schon gesagt habe, würde es mich freuen, andere soziale Bewegungen zu sehen, die etwas ähnliches und koordiniertes machen.

[…]

In „The Fortunes of Feminism“ hast du geschrieben, dass der Kampf um Anerkennung keinen direkt antikapitalistischen Charakter hat (genauso wenig wie der Kampf um Umverteilung), sondern dass sie mit antikapitalistischen Kämpfen verbunden werden sollten. Was sind die politischen Konsequenzen dieser Trennung und was können wir daraus schlussfolgern?

Ich würde einen Schritt zurückgehen, um diese Begriffe „Umverteilung“ und „Anerkennung“ in einen historischen Kontext zu setzen. Es handelt sich um Schlüsselbegriffe für die Art, in der ich über verschiedene Jahrzehnte hinweg diese Entwicklung zu verstehen versucht habe. Für mich war der Begriff „Umverteilung“ schon ein Zugeständnis und in gewissem Sinne einer Alternative zum Sozialismus oder vielleicht ein „Sozialismus light“. Ein Sozialismus, den man sich nicht traut, beim Namen zu nennen. In anderen Worten: als die Arbeiter*innenbewegungen und andere radikale Bewegungen, die sozialistischen Bewegungen gegen die grundlegenden Regeln der kapitalistischen Gesellschaft kämpften, wie die Eigentumsverhältnisse, die Aneignung des Mehrwertes, etc. sprachen sie nicht von „Umverteilung“, sondern von einer strukturellen Umwandlung. Ich denke, dass der Begriff „Umverteilung“ innerhalb der Sozialdemokratie entwickelt wurde in in Wirklichkeit das Problem bei der ungerechten Verteilung der Güter sieht. Es geht also sozusagen nicht darum, die grundlegenden Regeln zu ändern. Ich würde sagen, dass dieses Umverteilungsparadigma nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA dominant wurde, aber auch in anderen sozialdemokratischen reichen Ländern und in vielen Entwicklungsländern, die nicht reich waren, aber unabhängig und sich „entwickeln“ wollten. Und bestimmt haben wichtige Strömungen der Arbeiter*innenbewegung und der Linken, die sozialdemokratische Linke, dieses Konzept der Umverteilung aufgenommen. Es gibt natürlich zahlreiche Probleme mit diesem Konzept, doch eines von ihnen war dabei, dass in der Nachkriegsperiode das Umverteilungsmodell als zu restriktiv erschien. Betty Friedan schrieb über die Hausfrauen, die in den Vororten festgehalten wurden. So entstand eine neue Linke, die sich gegen die Konsumethik stellte. Sie hatte andere Ziele als die gerechte Verteilung von Einkommen, Löhnen und Arbeitsplätze, etc. Zum Beispiel kam der Kampf gegen die Rassentrennung auf. Und so näherte sie sich einigen tiefgründigen und strukturellen Problemen an. Sie machten auf das Problem der Staatsbürger*innen zweiter Klasse und der Armut der Afroamerikaner*innen aufmerksam und deckten damit einige schreckliche Aspekte der US-Geschichte auf, die noch nicht vergangen waren. Ich denke, dass als Antwort auf das dominante Umverteilungsparadigma ein zweites Paradigma entstand, das ich und viele andere als „Anerkennung“ bezeichnet haben. Dabei geht es nicht mehr nur darum, dass man gleich behandelt wird, sondern dass die eigene Besonderheit anerkannt, angenommen und respektiert wird. Wir müssen nicht alle gleich sein oder das Leben eines weißen heterosexuellen Mannes leben, um als vollständiges und gültiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden. Das ist alles sehr gut, doch wie immer hatte die Geschichte Überraschungen parat. Denn in dem Moment, als sich das Paradigma der Anerkennung entwickelte, hatte zeitgleich auch das verfallende kapitalistische Modell des Fordismus Schwierigkeiten und die sozialdemokratische Verteilung verlor ihre ökonomische Grundlage.

Es gab also zwei Sektoren – der Begriff „Linke“ scheint mir nicht angebracht, doch es war das was am nächsten an eine Linke heran kam – zwei sich im Konflikt befindliche Sektoren. Thomas Frank schrieb über eine industrialisierte Welt im Verfall, in der sich hauptsächlich die weißen gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen durch die Zunahme an Forderungen bedroht fühlen, und zwar in einer Situation, in der ihre Lebensgrundlage ins Wanken geriet. Sie sind in keiner angenehmen Situation. Und dann kommt die neoliberale Forschrittsidee unter den Menschen auf, die für die Anerkennung eintreten, die sagt, dass diese Arbeiter*innen rückständig, rassistisch und frauenhassend seien – „bedauerlich“, wie es Hillary Clinton sagte.

Ich verneine nicht, dass es Elemente von Rassismus und Frauenhass in allen Teilen unserer Gesellschaft gibt, doch die Situation ist weitaus komplizierter und lässt sich nicht durch rein moralische Begriffe erklären. Wir müssen verstehen, dass es um einen Übergang von einer Form des Kapitalismus zu einer anderen geht, von einer sozialdemokratischen vom Staat verwalteten Form zu einer finanziellisierten und globalisierten Form. Dieser Übergang schafft komische Allianzen und kaum produktive Antagonismen zwischen Teilen der Bevölkerung, die sich in anderen Umständen verbündet hätten.

Zu Zeiten des Aufstiegs nationalistischer Bewegungen und Positionen haben Sie in dem Aufruf zum 8. März die Bedeutung des Aufbaus einer internationalistischen Bewegung hervorgehoben. Warum?

Zuerst würde ich sagen, dass meiner Meinung nach jede fortschrittliche und transformative soziale Bewegung international denken muss. Die Linke unterstützt diese Idee seit ungefähr 200 Jahren, zumindest den Worten nach. Aber ich würde sagen, dass es heute noch dringender ist als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte, denn heute ist das weltweite kapitalistische System viel stärker globalisiert. Und selbst wenn man darüber sprechen möchte, was die nationale Politik in einem bestimmten Land sein sollte, muss man damit beginnen anzuerkennen, dass die Möglichkeiten auf dieser Ebene zu großem Teil von der globalen internationalen Finanzstruktur des Weltsystems abhängt. In diesem Sinne, was auf nationaler Ebene das sozialdemokratische Modell ermöglichte, wie in Skandinavien, wo die Gesellschaft mehr oder weniger egalitär waren, wurde durch die Kapitalkontrollen von Bretton Woods ermöglicht. Und als diese Kontrollen abgeschafft wurde, war dieser Typ der relativ egalitären, aber gleichzeitig restriktiven Sozialdemokratie möglich durch die Aneignung eines Teils des Reichtums des globalen Südens, also einer Art Imperialismus… Also ein Aspekt ist die enge Verbindung des Nationalen des Internationalen. Das weltweite Finanzkapital kann nur durch eine weltweite soziale Bewegung und Anstrengung gestoppt werden. Ohne diese wären unsere Handlungsmöglichkeiten auf lokaler Ebene sehr beschränkt. Ein anderes Beispiel ist der Klimawandel. Natürlich kann man ihn nicht mit einem rein lokalen Aktivismus aufhalten, egal wieviel man seinen ökologischen Fußabdruck reduziert.

Probleme wie solche können sich nur auf internationaler Ebene lösen. Was ist die internationale Ebene heute? Es ist Davos, die WTO, das Regime des geistigen Eigentums des TRIPS-Abkommens (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums), etc. etc. Was sind also die linken Institutionen, die sich dem entgegenstellen können? Zum Anfang hielt ich die Entwicklung des Weltsozialforums für sehr vielversprechend, da es so schien als hätte es eine Antwort auf diese Fragen geben können. Es gab Probleme, die wir an anderer Stelle diskutieren können. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, heute auf globaler Ebene zu denken. Was den internationalen Frauenstreik ausmacht, ist zur Solidarität und zum gemeinsamen Lernen aufzurufen. Etwas, was uns sehr beeinflusst hat beim Schreiben der Erklärung, die auch in The Guardian erschien, war die Sprache der Argentinier*innen. Sie hatten ein fantastisches, integrale und strukturelles Verständnis dessen, was die Gewalt an Frauen ausmacht. Sie beschuldigen nicht einfach die „schlechten Typen“. Und wir haben dies als Perspektive genommen, um die Gewalt an Frauen als etwas zu nehmen, dass sich an die 99 Prozent der Frauen richten könnte. Ich glaube, wir haben viel voneinander zu lernen. Niemand hat eine vollständige Vision. Und es ist sehr bewegend die gegenseitige Unterstützung zu sehen. Eines der Dinge, die durch die Demonstrationen entstand sind die Gruppen, die sich in den verschiedenen Teilen des Landes organisieren und ihre Aktionen aufnehmen und dann die Videos untereinander teilen. Dadurch erkennen wir, dass etwas passiert und dass wir Teil von etwas viel größerem sind.

Möchtest du noch etwas über die Frauenbewegung oder etwas anderes hinzufügen?

Ich möchte noch eine letzte Sache sagen. Meiner Meinung nach ist die strukturelle Basis der Unterordnung der Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft die Spaltung zwischen wirtschaftlicher Produktion und sozialer Reproduktion. Diese Spaltung gab es nie vorher in der Geschichte. Diese Aktivitäten waren immer an einem Ort verbunden. Ich glaube, dass die Form dieser Spaltung sich in der Geschichte des Kapitalismus bedeutend verändert hat, im Verlaufe verschiedener Akkumulationsregime. Trotzdem ist es die grundlegende Achse und ich würde sagen, dass jede feministische Politik, die sich ausschließlich auf einen der beiden Pole stützt, ohne die Überlappungen und tiefen Verbindungen zu betrachten, nicht die Emanzipation der Frauen erreichen kann.

Das Interview wurde wenige Tage vor dem 8.März in New York geführt und lässt sich vollständig als Video auf Englisch bei Left Voice anschauen.

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