Nachträgliche Diffamierungen zum Palästina-Kongress
Die Amadeu Antonio Stiftung behauptet von sich, Antisemitismus zu bekämpfen, doch unterstellt linken und antizionistischen Jüd:innen eine Nähe zur Hamas. Ihr aktuelles „Lagebild“ ist voller Lügen und Verleumdungen.
Die Amadeu Antonio Stiftung (AAS) veröffentlichte am 6. Juni 2024 ihr dreizehntes „Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus“. Seit dem 7. Oktober 2023, als die Hamas den israelischen Staat angriff und Tel Aviv seitdem den Völkermord in Gaza intensiviert, veröffentlicht die Stiftung dieses „Lagebild“, um auf vermeintlichen oder echten Antisemitismus in der Bundesrepublik aufmerksam zu machen. Die AAS wurde auf Initiative von Anetta Kahane und als Reaktion auf den erstarkten Rechtsradikalismus 1998 ins Leben gerufen und stellt sich nach eigenen Angaben gegen „Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“. Der Namensgeber war Amadeu Antonio, der am 3. August 1987 als Vertragsarbeiter aus der damaligen Volksrepublik Angola in die damalige Deutsche Demokratische Republik kam. Nach der als „Wiedervereinigung“ bezeichneten Annexion der DDR durch die BRD wurde er in der Nacht vom 24. auf den 25. November 1990 von deutschen Faschist:innen in Eberswalde in Brandenburg brutal zusammengeschlagen. Am 6. Dezember 1990 erlag er den Verletzungen und ist seitdem als eines der ersten Opfer rassistischer Gewalt auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in der BRD bekannt.
Es ist zu begrüßen, wenn sich eine Stiftung gegen den erstarkten Rechtsradikalismus und -terrorismus stellt und Aufklärungsarbeit anbietet. Ihre Schwerpunktsetzung auf dem Antisemitismus erweist sich allerdings bereits seit Jahren als äußerst problematisch. Gefördert durch den Antisemitismusbeauftragten der Bundesrepublik Felix Klein ordnet die Stiftung den Antisemitismus einerseits als urdeutsches Problem ein, andererseits aber auch als muslimisches. Seit der Nakba, in deren Zuge der israelische Staat 1948 ins Leben gerufen wurde, wird sowohl jede Kritik an dem Staat als auch am Zionismus als rassistische Ideologie mit der Feindschaft gegenüber Jüd:innen gleichgesetzt. Das wird auch in dem vorliegenden „Lagebild“ deutlich, in dem ein zentraler Punkt der „antiimperialistische Antisemitismus“ darstellt, welcher am Palästina-Kongress verdeutlicht werden soll. Der Kongress sollte vom 12. bis zum 14. April stattfinden, wurde allerdings von der Polizei anfänglich behindert und danach unter Einsatz von brutaler Polizeigewalt für verboten erklärt.
Was soll „antiimperialistischer Antisemitismus“ sein?
Kufiya, Baklava, Palästina-Flagge – mit diesen Schlagworten wird das Samidoun-Netzwerk und ihre Aktion am 7. Oktober 2023 in Berlin-Neukölln eingeleitet. Bei dieser Aktion verteilten sie Süßigkeiten – als Reaktion auf die Durchbrechung des Grenzzauns und des Zurückdrängens der IDF, nicht in Reaktion auf den Angriff von palästinensischen Organisationen auf das Supernova-Festival, wie die zionistische Darstellung behauptet. Der Tatsache geschuldet, dass der Angriff mit der islamischen Organisation Hamas und hiernach mit „islamistischem Terrorismus“ gleichgesetzt wird, wird auch das linke Kollektiv Samidoun in diese Ecke gerückt. Diesem Narrativ folgte auch das Bundesinnenministerium und verbot die Organisation. Doch für die AAS liegt das Problem viel tiefer. Der Imperialismus, nach Lenin das höchste Stadium des Kapitalismus, ist für die Stiftung keine Theorie, die politisch und ökonomisch definiert wird, sondern ein Euphemismus beziehungsweise eine Gleichsetzung mit einer grundsätzlichen Feindschaft gegenüber Jüd:innen. Die Beschreibung der Vereinigten Staaten, Israels und der BRD als imperialistische Kräfte beschreibt sie als „konstruiert“ und „unterkomplex“: hier das „absolut Gute“, dort das „absolut Böse“. Dabei greifen sie auf die antisemitische Erzählung der „jüdischen Weltverschwörung“ zurück, wonach der Widerstand gegen die herrschende Klasse als „Widerstand“ gegen das jüdische Volk interpretiert wird. Was hier geschieht, ist also: anstatt diese antisemitische Verschwörung zurückzuweisen und anzuklagen, reproduziert die AAS sie als negative Definition antiimperialistischer Organisationen, die sich gegen den Kapitalismus und den Imperialismus stellen. Dadurch, dass Israel ein kapitalistischer Staat und das Bollwerk des westlichen Imperialismus im Nahen Osten ist, können sie gar nicht anders, als jede Kritik an jenem Staat und der Politik in diese antisemitische Verschwörung einzuordnen, weil sie Israel als „jüdische Nation“ begreifen. Dass sie dadurch auch selbst einen positiven Antisemitismus reproduzieren, das heißt, jede Kritik an Israel als Kritik gegen alles Jüdische bezeichnen, können wir hier nicht näher darlegen, da es den Rahmen sprengen würde.
Doch mit welchen Beispielen will die AAS nun die vermeintliche Wesensverwandtschaft des Antisemitismus mit Antiimperialismus belegen? Völlig ahistorisch zieht sie die Sowjetunion als Kronzeugin heran, welche in den 1950er Jahren, als Reaktion auf die israelische Westorientierung, auf die arabischen Nachbarstaaten Israels zugegangen sei und diese Annäherung nach dem Sechstagekrieg im Juni 1967 durch antizionistische Propaganda begleitet hätte. Dass die UdSSR sich von Israel abwandte, nachdem sich die dortige Regierung dem westlichen Imperialismus zugewandt hatte, ist zwar korrekt. Doch die AAS unterschlägt völlig, dass Stalin die zionistischen Milizen militärisch und logistisch aufrüstete und unterstützte, als sie in Palästina gegen die arabischen Palästinenser:innen vorgingen, mit der Nakba 15.000 Menschen ermordeten und mehr als 750.000 Araber:innen vertrieb. Die UdSSR war eine der ersten Nationen, die den jungen israelischen Staat anerkannte und damit den Zionismus legitimierte und unterstützte. Was die AAS hier erreichen will, ist die Gleichsetzung des Antizionismus mit Antisemitismus. Doch gerade die Geschichte der Sowjetunion und des jungen israelischen Staates sollte Beweis genug sein, dass eben die zionistische Ausrichtung der stalinistischen Bürokratie und der Antisemitismus im eigenen Lande (siehe beispielsweise die sogenannte „Ärzteverschwörung“) kein Widerspruch waren.
Das „Lagebild“ nimmt auch antiimperialistische Gruppierungen im damaligen westdeutschen Staat unter die Lupe. Dass es in den 1960er und 1970er Jahren zu antijüdischen Anschlägen kam, ist nicht von der Hand zu weisen. So ist der Anschlag von 1969 auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin durch die Stadtguerilla-Organisation Tupamaros West-Berlin ausdrücklich zu kritisieren, da er auch als individualistische Aktion nichts zum Kampf gegen den Zionismus beitrug. Dass die Rote Armee Fraktion (RAF) jedoch ebenfalls grundsätzlich als antisemitische Organisation bezeichnet wird, ist zurückzuweisen. Wenngleich man die Taktik und Strategie der RAF scharf kritisieren muss, ist ihre Teilnahme an einem Ausbildungslager der palästinensischen Fatah wohl als (vulgär-)antiimperialistische Aktion zu werten; doch am direkten Kampf der Palästinenser:innen gegen die zionistischen Besatzer:innen teilnehmen, ist nicht antisemitisch. Dieser historische Diskurs der AAS dient als Argument, die heutige palästinensische Solidaritätsbewegung in diese ideologische Kontinuität einzuordnen. Exemplarisch wird die Gruppe Palästina Spricht herangezogen, die sich für die Boykottbewegung BDS ausspricht. Für die AAS scheint es keinen Unterschied zu geben zwischen antijüdischen Anschlägen auf Synagogen, der Teilnahme an Kampfhandlungen an der Seite palästinensischer Widerstandsbewegungen oder diplomatischen Boykotthandlungen. Wer sich gegen den israelischen Staat stellt, unabhängig davon, in welcher Art und Weise die Kritik postuliert wird, macht sich des Antisemitismus schuldig. Kufiya, Baklava, Palästina-Flagge – alles Terrorist:innen.
Diskussionsveranstaltung oder „Terrorverherrlichung“?
Schon Wochen vor dem Palästinakongress, der vom 12. bis zum 14. April diesen Jahres in Berlin stattfinden sollte, wurde in den bürgerlichen Medien und von bürgerlichen Politiker:innen auf allen Kanälen davor gewarnt. Der Kongress, der unter anderem von der Gruppe Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost veranstaltet und von verschiedenen palästinensischen und revolutionären Gruppierungen – darunter auch Klasse Gegen Klasse und Waffen der Kritik – getragen wurde, sollte eine Anklage an den deutschen Staat, der den Völkermord in Gaza unterstützt, sein. Der Vorwurf, hierbei würde es sich um eine Ansammlung von Antisemit:innen und Unterstützer:innen der Hamas halten, ließ nicht lange auf sich warten. Dass besonders linke und antizionistische Jüd:innen den Kongress planten und veranstalteten, hielt die Berliner Polizei nicht davon ab, anfänglich eine massive Präsenz einzunehmen, um ihn letztlich zu verbieten.
Dass das Verbot nun knapp zwei Monate später eine ideologische Rückendeckung vom AAS bekommt, ist nicht verwunderlich. Für sie handelte es sich um einen „linken Kongress der Terrorverherrlichung“. Dieser Vorwurf wird im „Lagebild“ mit den geplanten Teilnahmen von Salman Abu Sitta und Ghassan Abu-Sitta unterstrichen. Salman Abu Sitta, ein palästinensischer Historiker, der 1948 als 11-Jähriger die Nakba im Gazastreifen erlebte und daraufhin flüchten musste, sollte via Zoom zugeschaltet werden. Seine Rede wurde von der Berliner Polizei jedoch durch Abschalten des Stroms abgebrochen, was mit einem politischen Betätigungsverbot begründet wurde. Da er Sympathien für den palästinensischen Widerstand äußerte und auch den 7. Oktober 2023 „begrüßte“, unterstellt ihm die AAS eine „Nähe zum islamistischen Terrorismus“. Dass es für die AAS jedoch irrelevant ist, ob sich der palästinensische Widerstand in Form der islamischen Hamas oder säkularen Gruppierungen wie der als Terrororganisation gelisteten Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) äußert, macht die Stiftung am Beispiel von Ghassan-Abu-Sitta deutlich. Dem palästinensisch-britischen Arzt, dem die Einreise in die BRD während dem Zeitraum des Palästinakongresses verweigert wurde, wird vorgeworfen, Sympathien für die PFLP zu haben, da er an der Trauerfeier des verstorbenen Gründers teilnahm. Dass das Einreiseverbot am 14. Mai durch das Verwaltungsgericht Potsdam für rechtswidrig erklärt wurde und auch das International Centre of Justice for Palestinians (ICJP) die Handlung des deutschen Staates kritisierte, – „Die Deutschen bringen vorsätzlich einen wichtigen Zeugen für Israels Kriegsverbrechen zum Schweigen“ – erwähnt die AAS freilich nicht.
Bei der vorgelegten Beweislage handelt es sich um eine ideologische Rechtfertigung im Sinne der deutschen Staatsräson. So werden auch weitere Maßnahmen von Seiten der Berliner Polizei mit Verweis auf vermeintlich antisemitische Beiträge gerechtfertigt. Das, was die AAS hier konstruiert, ist eine nebulöse „Kontaktschuld“: Weil auch islamistische Kräfte Teil des palästinensischen Widerstands sind, sei jede Form des Widerstands eine Spielart „islamistischen Terrorismus“. Dass sie auch die Boykottbewegung BDS darunter verstehen, ist selbstverständlich: So können sie die Jüdische Stimme in die Ecke des Antisemitismus stellen und auch die Schließung ihres Kontos durch die Berliner Sparkasse gutheißen. Die massive Polizeigewalt rechtfertigt das „Lagebild“ mit der „Normalisierung antisemitischer und terrorverherrlichender Positionen“. Ihr Fazit also: was hätte man sonst tun sollen? Sie bezeichnen es zwar als „Dilemma“, das heißt Polizeigewalt mit dem demokratischen Recht auf eine kritische Diskussion zum Völkermord in Gaza abwägen, aber ihr Urteil wurde schon gefällt. Das Urteil über den Palästinakongress wurde durch die bürgerliche mediale Begleitung schon Wochen vor dem 12. April gefällt und erfährt nun durch die AAS die vom Staat geförderte Bestätigung: Hierbei hätte es sich ausnahmslos um die „Unterstützung islamischen Terrors“ gehandelt, bei der „tausende Interessierte zur Normalisierung“ beigetragen hätten.
Was bleibt?
Diese nachträgliche Einordnung durch die AAS ist ein weiterer Angriff auf das demokratische Recht auf Meinungsfreiheit und -äußerung. Sowohl ideologischer- als auch aktivistischer Widerstand gegen den Zionismus, den israelischen Staat und den Völkermord in Gaza soll mit allen Mitteln bekämpft werden und in die Ecke des Antisemitismus gestellt werden. Dass besonders linke und antizionistische Jüd:innen an der vordersten Front in der Palästina-Solidaritätsbewegung kämpfen, stellt dabei keinen Widerspruch für den deutschen Staat dar, sondern deckt sich mit seiner Staatsräson. Denn der sogenannte Kampf gegen den Antisemitismus, den sich die BRD auf die Fahne schreibt, ist mitnichten der Kampf gegen die weltweite Feindschaft gegen das jüdische Volk, sondern die bedingungslose Verteidigung des israelischen Staates. Wenngleich sich dieser Staat als „jüdische Nation“ versteht und das Monopol beansprucht, für alle Jüd:innen dieser Welt zu sprechen, handelt es sich hierbei nicht um einen „jüdischen“ Staat, sondern um ein zionistisches Besatzungsregime. Die Gleichsetzung des Zionismus mit dem Judentum ist eines der schärfsten Werkzeuge der deutschen Staatsräson, um so einerseits vom eigenen Antisemitismus abzulenken und andererseits eigene strategische Interessen in der nahöstlichen Region zu verteidigen. Israel ist das Bollwerk des Imperialismus in dieser Region, weswegen besonders die Staaten der westlichen Welt, allen voran Deutschland, jede Kritik und jeden Angriff auf Tel Aviv abwehren.
Die Repression im eigenen Land nimmt immer härtere Konturen an. Im Namen des Kampfes gegen Antisemitismus werden jüdische Aktivist:innen, Studierende und Genoss:innen mundtot gemacht, von der Polizei verhaftet und attackiert. Die AAS schreibt sich auf die Fahne, gegen den Antisemitismus in diesem Land vorzugehen, doch betreibt sie nichts anderes als die Politik der deutschen Regierung und des israelischen Staats. Der Zionismus dient nicht der Emanzipation des jüdischen Volkes, sondern stellt eines seiner größten Hindernisse dar. Dass der Antisemitismus mehr mit dem Zionismus gemein hat, als mit dem (revolutionären) Antizionismus, ist dabei offenkundig: Während Antisemit:innen und Zionist:innen Hand in Hand Jüd:innen, die sich gegen Kolonialismus und Apartheid stellen und für die Befreiung des palästinensischen Volkes stehen, als ihre Feind:innen sehen, kämpfen Antizionist:innen an der Seite der Palästinenser:innen und fordern ein Ende des Genozids und der Besatzung.