Nach jahrzehntelangem Kampf auf den Straßen legalisiert Argentinien die Abtreibung
In einem monumentalen Sieg für die feministische Bewegung hat der argentinische Senat dafür gestimmt, einen kostenlosen und legalen Schwangerschaftsabbruch in den ersten 14 Wochen zu legalisieren. Sozialistische Feminist:innen waren in diesem Kampf seit Beginn an vorderster Front dabei.
In der Nacht des 29. auf den 30. Dezember 2020 wurde in Argentinien endlich die Abtreibung legalisiert. Schätzungsweise 20.000 Menschen verbrachten den Abend in den Straßen von Buenos Aires, um zu singen, zu feiern und das Ja zur Abstimmung zu fordern. Eine Stunde vor Sonnenaufgang stimmte der Senat schließlich ab: Es gab 38 Ja-Stimmen, 29 Nein-Stimmen und eine Enthaltung.
Argentinien ist nun das sechste lateinamerikanische Land, das die Abtreibung in den ersten 14 Wochen der Schwangerschaft ohne Einschränkungen legalisiert hat. Bisher war der Eingriff landesweit nur in Kuba, Uruguay, Guayana und Französisch-Guayana legalisiert. In Mexiko ist er in den Bundesstaaten Mexiko-Stadt und Oaxaca legal. In Puerto Rico ist die Abtreibung legal, weil es ein „assoziierter Freistaat der USA“ ist.
Dieser Sieg ist das Ergebnis eines langen Kampfes der argentinischen feministischen Bewegung. Im Jahr 2018 organisierten die Argentinier:innen massive Demonstrationen, um dieses Recht zu erkämpfen, und der von der Nationalen Kampagne für legale, sichere und kostenlose Abtreibung vorgeschlagene Gesetzesentwurf wurde vom Unterhaus genehmigt, aber anschließend vom Senat abgelehnt, trotz der Hunderttausenden, die in den Straßen von Buenos Aires und im ganzen Land zur Unterstützung des Gesetzes protestierten. Jetzt, nach jahrzehntelangem Kampf, wird es keine Fälle wie den von Belén mehr geben, die nach einer Fehlgeburt wegen Mordes ins Gefängnis gesteckt wurde. Es wird nicht mehr Hunderte von Namenlosen geben, die jedes Jahr als Folge von unsicheren und heimliche Abtreibungen sterben.
Das Gesetz wird kostenlose und sichere Abtreibungen bis zur vierzehnten Schwangerschaftswoche als Teil der öffentlichen und privaten Gesundheitsversorgung Argentiniens ermöglichen.
Die Bedeutung dieses Sieges für die Arbeiter:innenklasse und die Armen in ganz Argentinien darf nicht unterschätzt werden. Die argentinische feministische Bewegung kämpft seit Jahrzehnten für reproduktive Rechte. In den letzten fünf Jahren hat Argentinien wohl die größte feministische Bewegung der Welt aufgebaut – angefangen mit „Ni Una Menos“ (Nicht eine weniger) im Jahr 2015, einer massiven Bewegung gegen Femizide, die Millionen von Menschen auf die Straße brachte. Diese feministische Bewegung organisierte Proteste von Hunderttausenden von Menschen für den internationalen Frauenstreiktag und schloss sich einer globalen feministischen Bewegung an, die Großdemonstrationen auf der ganzen Welt orchestrierte. Im Jahr 2018 ging diese feministische Bewegung massenhaft auf die Straße, als die rechte Regierung von Mauricio Macri endlich zuließ, dass der erste Gesetzentwurf zur Legalisierung der Abtreibung in den Senat kam.
Diese feministische Bewegung besteht überwiegend aus jungen Menschen, viele davon sind Jugendliche, die sich weigern, dass über ihre Zukunft entschieden wird und die Kontrolle über ihren eigenen Körper fordern. Im Rahmen von „Ni Una Menos“, dem Frauenstreiktag, und dem Kampf für die Legalisierung von Abtreibung im Jahr 2018, organisierte die feministische Bewegung in jeder Stadt Versammlungen, in denen Frauen Forderungen für die Bewegung erarbeiteten und über Maßnahmen abstimmten, um den Kampf voranzutreiben.
Und nun hat diese Bewegung in einem überwiegend katholischen Land einen großen Sieg errungen: das Recht auf Abtreibung.
Historisch gesehen hat sich jede Regierung in Argentinien gegen die Legalisierung der Abtreibung gestellt, einschließlich der derzeitigen Vizepräsidentin und ehemaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, die Teil der Welle der lateinamerikanischen Pink-Tide-Regierungen in den frühen 2000er Jahren war. Kirchner und ihre Unterstützer:innen sind Teil einer starken Strömung in Argentinien, die als „Peronismus“ bekannt ist – in Anlehnung an Juan Perón, dessen Regierungszeit durch einige fortschrittliche Arbeitsgesetze und progressiven Populismus sowie eine starke, bürokratische Kontrolle der Gewerkschaften und Verfolgung der Linken in den 70er Jahren gekennzeichnet war. Der Peronismus hat die reproduktiven Rechte von Anfang an abgelehnt – Perón verbot 1974 den freien Verkauf von Anti-Verhütungspillen; die neoliberale Regierung von Carlos Menem rief 1998 einen „Tag des ungeborenen Kindes“ aus, als klares Zeichen der Unterstützung für Abtreibungsgegner:innen. Menem ist jetzt ein amtierender Senator für den Frente de Todos (Front Aller), die aktuelle Regierungskoalition in Argentinien. Trotz ihrer fortschrittlichen Fassade vermieden es Néstor Kirchner und Cristina Kirchner, die das Land zwischen 2003 und 2015 auf dem Höhepunkt der „Pink Tide“-Jahre mit einer starken Mehrheit im Abgeordnetenhaus regierten, ein Abtreibungsgesetz auch nur zu diskutieren. Vor allem Cristina Kirchner sprach sich persönlich gegen eine Legalisierung der Abtreibung aus und wollte nicht zulassen, dass überhaupt über einen Gesetzentwurf abgestimmt wird.
Kürzlich erlaubte die rechte Regierung von Mauricio Macri, dass ein Gesetzesentwurf zur Abtreibung im Kongress debattiert wurde, was eine Massenbewegung auslöste, die das Unterhaus des Kongresses zwang, das Gesetz zu verabschieden. Die Bewegung zwang viele Politiker:innen, die traditionell gegen die Legalisierung waren – sogar Cristina Kirchner – die damals Senatorin war – für das Gesetz zu stimmen. Nur die Front der Linken und der Arbeiter:innen (FIT-U) stimmte als Block für die Legalisierung der Abtreibung. Trotz hunderttausender Menschen, die vor dem Kongress und im ganzen Land protestierten, konnten nur einige wenige „Nein“-Stimmen von Mitgliedern des Senats das Recht auf Abtreibung blockieren. Aber die Bewegung auf den Straßen ist nie verschwunden. Tatsächlich war es die „marea verde“ (die „grüne Flut“, wie die Abtreibungsbefürworter:innen wegen der grünen Halstücher genannt werden), die den damaligen Präsidentschaftskandidaten Alberto Fernández dazu zwang, zu versprechen, ein neues Gesetz in den Kongress zu schicken.
In Anbetracht dieser Geschichte ist jeder Versuch der „progressiven“ Regierung von Alberto Fernández, diesen Sieg als ihren eigenen zu beanspruchen, absolut faktenwidrig. Es war die feministische Bewegung, die das Heimatland des jetzigen Papstes dazu zwang, Abtreibung legal und kostenlos zu machen. Nicolás del Caño, Vertreter der Front der Linken, formulierte es so:
Wir wissen, dass die Abgeordneten die sind, die abstimmen werden, aber dieses Recht wird auf der Straße erkämpft werden, dank des jahrzehntelangen Kampfes der feministischen Bewegung. Von unseren Sitzen im Parlament aus werden wir die Kraft der Bewegung ermutigen, sich wieder auszudrücken und die Abtreibung zu legalisieren.
Es muss angemerkt werden, dass das Gesetz, das derzeit zur Abstimmung steht, bei weitem nicht perfekt ist. Der vorgelegte Gesetzesentwurf ist nicht derjenige, den die feministische Bewegung geschrieben hat und für den sie im letzten Jahrzehnt eingetreten ist. Vielmehr wurde er von der Regierung Fernández vorgelegt. Dieses Gesetz beinhaltet Ausnahmen – nicht nur für einzelne Gesundheitsdienstleister, die keine Abtreibungen durchführen wollen, sondern auch für ganze Krankenhäuser oder sogar ganze Städte oder Staaten. Dies kann eine Herausforderung für Menschen in ärmeren Gegenden darstellen, in denen es keinen ausreichenden Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung gibt. Diese Änderungen wurden von der Fernández-Regierung vorgenommen, um sich mit der rechten Opposition (und dem rechten Flügel seiner eigenen peronistischen Koalition, dem Frente de Todos) zu versöhnen und um eine massive Reaktion der katholischen Kirche zu verhindern. Selbst mit diesen Änderungen mobilisierten dieselben rechten Sektoren und betrieben Lobbyarbeit gegen das Gesetz mit den frauenfeindlichsten Argumenten.
Obwohl die Legalisierung der Abtreibung zweifellos das Produkt eines hart erkämpften Kampfes der argentinischen Frauenbewegung ist, ist es auch klar, dass der Gesetzentwurf ein Versuch der Regierung ist, fortschrittliche Glaubwürdigkeit zu bewahren, während sie gleichzeitig die Menschen der Arbeiter:innenklasse und besonders die Frauen dieser Klasse angreift. Das ist die Natur von Reformen in den Händen kapitalistischer Parteien – sie geben mit der einen Hand und nehmen mit der anderen. Schließlich hat die Partei von Fernández erst vor ein paar Wochen die Polizei angewiesen, Tränengas auf Tausende Familien in den besetzten Ländereien von Guernica zu sprühen, sie brutal zu vertreiben und obdachlos zu machen. Zur gleichen Zeit, als der Senat über diesen Gesetzentwurf abstimmte, stimmte das Abgeordnetenhaus über brutale Rentenkürzungen und einen vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ausgearbeiteten Sparhaushalt ab. Nicolás del Caño bemerkte das Timing in einer Rede im Unterhaus des Kongresses:
Es ist kein Zufall, dass wir diese sehr wichtige Debatte [über die Rentenreform] am selben Tag führen, an dem der Senat darüber berät, ob er das Recht auf sichere und kostenlose Abtreibung endgültig vorantreibt – dieses Gesetz, für das die feministische Bewegung seit so vielen Jahren kämpft. Die Regierung versucht gleichzeitig, diese Kürzungsmaßnahmen umzusetzen, die sich negativ auf Frauen – die ärmsten Frauen – auswirken werden, und sie hoffen, dass dies unbemerkt bleibt.
Wie die sozialistische Feministin Andrea D’Atri betont hat, hat der proletarische Feminismus eine entscheidende Rolle gespielt und wird dies auch in Zukunft tun. Viele Streiks, sowie der Kampf gegen Austerität, die Menschenrechtsbewegung, Kämpfe für Klima- und Umweltschutz sowie der Kampf gegen Polizeibrutalität hatten Frauen an vorderster Front. Das ist die Perspektive, die Pan y Rosas, die größte sozialistisch-feministische Organisation in Argentinien, seit ihrer Gründung vor mehr als 15 Jahren vertritt.
Wir kämpfen gegen den Kapitalismus, für eine Gesellschaft, die frei von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung ist, aber wir müssen auch jedem Kampf führen, der es uns ermöglicht, dem kapitalistischen Staat einige Rechte abzuringen. Wir tun dies, damit wir unter besseren Bedingungen und in Gleichheit leben können, während wir gleichzeitig für eine bessere Gesellschaft kämpfen, in der die wahre Gleichheit erreicht ist.
Dies ist kein letzter Schritt für feministische Bewegungen oder für die Linke. Die argentinische Wirtschaftskrise, die durch die Pandemie noch verschärft wird, wird zu einer Massenarmut der Arbeiterklasse, insbesondere der Frauen, und zu einer Austeritätspolitik der Regierung führen. Die Verabschiedung dieses Gesetzes, des grundlegenden Rechts auf Abtreibung, sollte die Regierung Fernández unter den Aktivistinnen nicht beliebt machen. Wenn überhaupt, dann ist die Schlussfolgerung, dass wir den kapitalistischen Politiker:innen, die mit der einen Hand den Zugang zur Abtreibung und mit der anderen die Austerität gewähren, nicht trauen können, uns irgendetwas zu schenken. Die Schlussfolgerung ist, dass der Kampf für die Linke und für die feministische Bewegung noch lange nicht vorbei ist – sie muss sich organisieren und mobilisieren für die kommenden Kämpfe.