Nach dem Streik ist vor dem Streik

17.05.2013, Lesezeit 9 Min.
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// Flugblatt für den letzten Tag der angestellten LehrerInnen in Berlin //

„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch seit fünf Tagen streiken die angestellten LehrerInnen, um diese traditionelle Forderung der ArbeiterInnenbewegung an den Berliner Schulen durchzusetzen.

In der letzten Woche haben wir die große Solidarität von den SchülerInnen und ihren Eltern erlebt. Es gibt zwar von den offiziellen SchülerInnen- und Elternausschüssen Kritik an den Streiks, die angeblich auf Kosten der SchülerInnen gehen würden – eine Kritik, die in den Medien der KapitalistInnen lautstark wiederholt wird. Doch an den Schulen selbst merken wir, was die normalen SchülerInnen und Eltern alle wissen: Die Forderungen der LehrerInnen sind gerecht, denn alle leiden am krassen Personalmangel und der Überbelastung. Nur der Senat profitiert vom aktuellen Zustand.

Die Haltung des Senats

Selbst nach fünf Tagen Arbeitskampf bleibt der Senat stur. Das ist auch logisch, denn durch die Benachteiligung der Angestellten und die Spaltung der Belegschaft spart er eine Menge Geld. Neben den Angestellten gibt es auch LehrerInnen im Personalkostenbudgetierungs-System (d.h. prekär Beschäftigte) „Lehrkräfte nach ausländischem Recht“ (d.h. mit Hochschulabschlüssen aus anderen Ländern) und auch Ein-Euro-JobberInnen, die noch weniger Geld verdienen. An manchen Schulen existieren drei, vier, fünf verschiedene Tarife nebeneinander. Darüber entscheidet die Senatsverwaltung vollkommen willkürlich.

Es ist klar, warum der Senat an diesem Zustand festhalten möchte. Statt Angeboten gibt es nur wahrhafte Provokationen. So bietet er „Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Lehrerberufs“ an, die in erster Linie aus einer Arbeitszeiterhöhung bestehen!

Diese Haltung kann sich der Senat auch bisher leisten, weil die Streiks bisher keinen ökonomischen Druck ausüben: Der Schulbetrieb wird notdürftig durch BeamtInnen aufrechterhalten (und eine Unterrichtsausfallquote von 10% ist sowieso normal in der Stadt) und die Streikenden werden für die Streiktage nicht bezahlt. Im Grunde genommen hat der Senat durch den Streik weniger Ausgaben.

Ein politischer Streik

Der Streik der angestellten LehrerInnen ist aus drei Gründen ein politischer Streik:

Erstens, weil der unmittelbarer Gegner, also der sogenannte „Arbeitgeber“, die Regierung ist;

Zweitens, weil es den meisten angestellten Lehrern nicht in erster Linie um den Lohn an sich sondern um die Lohngerechtigkeit geht. Es zerrt an den Kräften, einen schwierigen Job zu machen, wenn man weiß, dass am Tisch nebenan im LehrerInnenzimmer einE Kollege/in den gleichen Job für deutlich mehr Geld macht;

Drittens, weil sich dieser Streik gegen die Prekarisierung, d.h. gegen die zunehmende Verbreitung unsicherer, befristeter und schlecht bezahlter Arbeitsverhältnisse richtet. Dieses Phänomen, vorangetrieben durch die Agenda 2010, gibt es im öffentlichen Dienst genauso wie in der Privatwirtschaft in Form von Leiharbeit und Werkverträgen.

Deswegen ist dieser Streik auch nur politisch zu gewinnen.

Neue Streiks werden notwendig sein, die den Schulbetrieb wirklich stören. Es wurde schon gezeigt, dass nicht auf Kosten der SchülerInnen sondern gemeinsam mit ihnen kämpfen wollen – aber wir müssen gleichzeitig auch zeigen, dass es etwas kosten wird, wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden! Die LokführerInnen streiken schließlich auch nicht mitten in der Nacht, sondern im Berufsverkehr.

Die Kämpfe vereinigen

Dazu müssen wir die Kämpfe vereinigen. Das bietet sich am Ehesten bei den SchülerInnen an. So gab es diese Woche positive Schritte am John-Lennon-Gymnasium in Berlin-Mitte, wo bei einem Aktionstag am Montag die streikenden LehrerInnen die Gründe des Streiks mit allen SchülerInnen diskutieren konnten. Am Freitag werden die LehrerInnen und SchülerInnen dort gemeinsam in den Ausstand treten. Diese Erfahrung kann verallgemeinert werden.

Aber es gibt viele andere Menschen im Bildungssystem, die ähnliche Probleme haben. Studierende (darunter auch zukünftige LehrerInnen), wissenschaftliche MitarbeiterInnen an den Unis, prekär Beschäftigte an den Mensen und in der Reinigung usw. usf.. Aber wir müssen auch ganz andere Sektoren einbeziehen, so die ArbeiterInnen in den Krankenhäusern, an den Flughäfen, bei der BVG – denn überall macht sich Prekarisierung breit.

Und was für ein Bildungssystem wollen wir überhaupt haben? Die Schulen, in denen wir arbeiten, bereiten die SchülerInnen auf den kapitalistischen Markt vor: Sie sollen schon etwas können, aber auch dem Chef gehorchen und nicht zuviel hinterfragen. Deswegen wird die Schule auch wie ein Unternehmen geführt: Die Arbeitszeiten werden erhöht und die Löhne gesenkt, damit man für möglichst wenig Geld die Mindeststandards irgendwie einhalten kann.

Wir wollen ein Bildungssystem, in dem die LehrerInnen zusammen mit SchülerInnen und Eltern demokratisch entscheiden, was gelehrt und gelernt werden soll – schließlich wissen sie das besser als irgendwelche BürokratInnen, die in erster Linie auf Zahlen schauen. Aber der Kampf für ein solches Bildungssystem kann nur Teil des Kampfes für eine Gesellschaft sein, in der die arbeitende Bevölkerung demokratisch entscheidet, was mit dem Reichtum passiert, den sie tagtäglich produzieren.

Internationale Proteste

Chile: Die chilenische Studierendenbewegung führt in den letzten Wochen den großen Kampf für kostenfreie Bildung fort. Nachdem am 11. April landesweit 250.000 SchülerInnen und Studierende gegen das Bildungssystem, welches ein Erbe der Pinochet-Diktatur ist, auf die Straße gingen, gab es vor einer Woche erneut Demonstrationen mit 80.000 TeilnehmerInnen allein in der Hauptstadt Santiago. Dazu kommen zahlreiche Besetzungen von Schulen und Universitäten. Hinzu kommen große ArbeiterInnenkämpfe wie zum Beispiel der Streik der HafenarbeiterInnen. Am 11. Juni ruft die Gewerkschaftszentrale CUT zu einem Generalstreik auf, der die Einheit von ArbeiterInnen und Lernenden auf der Straße schaffen kann.

Mexiko: Die konservative Regierung Mexikos beschloss vor einigen Monaten eine große Reform des Bildungswesens, die die grundlegenden Rechte der LehrerInnen angreift und Bewertungsnormen für sie einführt. Seit dem 25. Februar befinden sich tausende LehrerInnen des ganzen Landes im Streik und kämpfen mit allen Mitteln gegen diese neoliberale Reform. So griffen sie die Parteizentralen der großen Parteien an und mussten sich der harten Repression der Polizei entgegenstellen. Die kämpferischen LehrerInnen stellen sich der autoritären Regierung entgegen und haben viel Solidarität im ganzen Land und darüber hinaus erhalten.

Brasilien: Die voranschreitende Prekarisierung des öffentlichen Bildungssystems und die schlechten Arbeitsbedingungen der LehrerInnen zeigen, dass die KapitalistInnen Brasiliens die Bildung zu einem privaten Geschäft umwandeln wollen. Dagegen wehren sich die LehrerInnen der Stadt Sao Paulo, wobei sie auch gegen die Bürokratie ihrer eigenen Gewerkschaft vorgehen müssen, die die Niederlage des Kampfes der LehrerInnen vorbereitet, indem sie sich gegen wirkliche Mobilisierungen oder die Organisierung eines Streikfonds wendet. Die brasilianischen LehrerInnen setzen dagegen auf die Ausweitung und Weiterführung des Kampfes und die Einheit von LehrerInnen, SchülerInnen, Eltern und anderen ArbeiterInnen.

Internationale Beispiele

Internationale Beispiele von Bildungsprotesten (siehe Kasten) können uns Inspiration geben: Diese zeigen, wie LehrerInnen gemeinsam mit SchülerInnen, Studierenden und anderen ArbeiterInnen für ein besseres Schulsystem und für bessere Arbeitsbedingungen für alle kämpfen können. So wurde eine Schule in Chile von LehrerInnen und SchülerInnen besetzt, die den Unterricht selbstverwaltet über viele Wochen aufrechterhalten haben. Der Schlüssel für einen erfolgreichen Kampf liegt in der Selbstorganisierung der Betroffenen.

Solche Streiks hat Berlin noch nie erlebt und wir können noch viel lernen. Wenn wir gewinnen wollen, brauchen wir wirkliche Solidarität: Solidarität zwischen Lehrenden und Lernenden! Solidarität über alle Landesgrenzen hinweg! Solidarität mit den Menschen, die am Stärksten von der Prekarisierung betroffen sind.

Wir von der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO) – zusammen mit der linken SchülerInnengruppe „Red Brain“ und der Unigruppe „Waffen der Kritik“ – haben unser Bestes gegeben, um diese Streikwoche mit viel Solidarität zu begleiten.

Wir treten auch bei den Berliner LehrerInnen für eine solidarische, internationalistische, sozialistische und revolutionäre Perspektive ein und wollen die demokratische Selbstorganisierung vorantreiben. Wir wollen auch mit Dir darüber diskutieren und laden zu unseren nächsten Diskussionsveranstaltungen und zur Veranstaltung mit Raúl Godoy ein.

Was verdient einE AbgeordneteR?

Es sind die Menschen im Abgeordnetenhaus, die uns erzählen, es sei kein Geld für die LehrerInnen da. Aber was verdienen sie eigentlich? Es sind zur Zeit knapp über 3.800 Euro – viele LehrerInnen würden sich das wünschen!

Raúl Godoy, ein Abgeordneter für die „Front der Linken und der ArbeiterInnen“ im Parlament der argentinischen Provinz Neuquén, hat neulich einen Gesetzesentwurf eingebracht: „Ein Abgeordneter soll nur soviel verdienen wie eine Lehrerin,“ und nimmt damit eine alte Forderung aus der Pariser Kommune von 1871 auf.

In Neuquén verdienen die Abgeordneten etwa das Sechsfache wie die GrundschullehrerInnen, die 2o Jahre Berufserfahrung besitzen. Nur der Genosse Godoy behält lediglich einen durchschnittlichen ArbeiterInnenlohn für sich – den Rest seiner Diät spendet er an die ArbeiterInnenbewegung.

Raúl Godoy ist Arbeiter der Fabrik Zanon, die im Jahr 2001 im Zuge der Krise von ihrer Belegschaft besetzt wurde. Seit über zehn Jahren funktioniert die Fabrik unter Kontrolle der ArbeiterInnen, ohne Chefs. Alle entscheiden demokratisch und alle verdienen das Gleiche.

Im Rahmen einer Europa-Rundreise wird der Genosse Godoy auch in Berlin über diesen Kampf sprechen: Am 25. Mai um 18 Uhr im IG-Metall-Haus (Alte Jakobstraße 149, U-Bhf Hallesches Tor) wird die Veranstaltung stattfinden.

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