Nach Bidens Rücktritt: Neue Chancen für das geringere Übel?

23.07.2024, Lesezeit 10 Min.
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Bild: Adam Schultz, Creative Commons Lizenz

Bidens Entscheidung, aus dem Rennen um die Präsidentschaft auszusteigen, hat die Wahlchancen der Demokratischen Partei wieder verbessert.

Zum ersten Mal seit 1968 stellt sich der amtierende Präsident nach der ersten Amtszeit nicht zur Wiederwahl auf. Joe Bidens Entscheidung kommt etwas mehr als drei Wochen nach seinem miserablen Abschneiden bei der ersten Präsidentschaftsdebatte, die von einer schweren Krise innerhalb der Demokratischen Partei geprägt ist.

Während Parteiführer:innen wie Barack Obama und Nancy Pelosi Biden zunächst öffentlich unterstützten, erkannten Parteifunktionär:innen hinter den Kulissen, dass Biden Donald Trump im November nicht schlagen wird. Es floss kein Geld mehr in den Wahlkampf (auch kapitalistische Spender hielten ihre Beiträge zurück, bis Biden sich bereit erklärte, zurückzutreten), und mehrere demokratische Mitglieder des Repräsentantenhauses und des Senats forderten Biden öffentlich auf, zurückzutreten. Die New York Times veröffentlichte eine Erklärung des Redaktionsausschusses, in der der Präsident aufgefordert wurde, „seinem Land zu dienen“, indem er von der Kandidatur zurück tritt.

Während die Demokratische Partei ins Chaos stürzte, gewann Trumps Wahlkampf an Schwung. Unmittelbar nach dem Attentat auf Trump, das die amerikanische Politik erschütterte, erhielt er mehrere hochkarätige Unterstützungsbekundungen. Darüber hinaus kündigte ein Teil des Silicon Valley, der früher der Demokratischen Partei angehörte, neunstellige Spenden für Trumps Kampagne an. Wie Allison Morrow von CNN schrieb:

Die Bay Area war und ist eine Hippie-Dippie-Bastion der Demokraten, die 2016 mit überwältigender Mehrheit für Hillary Clinton und 2020 für Joe Biden gestimmt haben. Doch es gibt eine kleine, mächtige Sekte von Silicon-Valley-Milliardären, die den Weg für mögliche Trump-Anhänger und MAGA-Neugierigen in der Tech-Welt ebnen.

Am Wochenende haben große Namen wie Elon Musk, David Sacks, die Winklevoss-Zwillinge, Marc Andreessen, Doug Leone und Joe Lonsdale der Trump-Kampagne ihre politische Unterstützung und Milliarden Dollar zukommen lassen.

Als die Republikanische Partei einen erfolgreichen Parteitag abhielt und Trump die offizielle Nominierung übertrug, stieg die Zahl von Bidens wichtigsten Verbündeten in den Medien und im politischen Establishment, die seiner Kampagne den Rücken kehrten, mit alarmierender Geschwindigkeit. Sobald Obama, Chuck Schumer, Hakeem Jefferies und Nancy Pelosi ihre Züge machten, war das Schicksal von Joe Biden besiegelt.

Trump, der „Krieger“

Biden machte seine Ankündigung drei Tage nach dem Ende der Republican National Convention (RNC), die durch das Attentat auf Donald Trump am Samstag zuvor und die Feierlichkeiten der Republikaner:innen angesichts ihres scheinbar sicheren Wahlsieges geprägt war. Das sehr kurzlebige Gefühl der nationalen Einheit, das Demokrat:innen und Republikaner:innen unmittelbar nach dem Attentat heraufbeschworen hatten, verblasste auf den Lippen von Donald Trump, der vor dem RNC mit dem Besten aus seinem Repertoire auftrat: einer hasserfüllten, rassistischen Rede und der gleichen super reaktionären Politik, die Trump seit 2015 vertritt.

Die Republikanische Partei lief während des RNC auf Hochtouren, einer von MAGA (Make Amerika Great Again) beherrschten Versammlung, bei der Trump einen jungen Vertreter der Bewegung, den 39-jährigen Senator J.D. Vance aus Ohio, zu seinem Vizepräsidentschaftskandidaten wählte. Zweifellos wählte Trump Vance in einem Moment der Stärke, ermutigt durch die Nachwirkungen eines Attentats, das Trump in der Öffentlichkeit als „Krieger“ erscheinen ließ und er sich selbst bereits als Wahlsieger darstellt.

Vance hat sich einen doppelten Ruf erworben. Einerseits ist er ein starker Unterstützer von Donald Trump und ein mächtiger Brandstifter unter der sozialen Basis des ehemaligen Präsidenten geworden; er ist einer der beliebtesten Agitatoren der MAGA-Bewegung. Vance gilt jedoch auch als einer der Intellektuellen der Neuen Rechten, dessen Vision über Trumps Projekt hinausgeht und eine radikale konservative Agenda verkörpert, die darauf abzielt, die Grundlagen des amerikanischen Regimes neu zu gestalten. Laut Ian Ward von Politico sehen Trumps Gegner innerhalb der Republikanischen Partei in Vance eine „einzigartig bedrohliche Verkörperung des ‚gefährlichen Autoritarismus‘, der sich in der amerikanischen Rechten breit gemacht hat“. Für Trumps konservativste Verbündete hingegen ist Vance „ein zunehmend attraktiver Vertreter einer Post-Trump-Republikanischen Partei und ein viel beschworener Erbe von Trumps politischer Bewegung“ geworden.

Andererseits spricht Vance zwar zweifellos Trumps Hardcore-MAGA-Wähler:innenschaft und die fast unverrückbaren 33 Prozent an, die sich im Laufe der Jahre herauskristallisiert haben, aber für die republikanische Wähler:innenschaft der Mitte oder ehemalige Trump-Wähler:innen, die sich noch nicht entschieden haben, wen sie im November wählen werden, ist er schwer zu verkaufen. Diese Wähler:innen misstrauen Vance und der Möglichkeit, dass er sich vom traditionellen Konservatismus abwendet, um die von ihm vertretene „Neue Rechte“ zu stärken.

Vance für einen Teil der Republikanischen Partei und die Wähler:innenschaft der Mitte akzeptabel zu machen, ist nicht die einzige Herausforderung, die Trump und die GOP (Grand Old Party) vor sich haben. Die Veränderungen und Herausforderungen der Republikanischen Partei werden nicht nur zwischen Konservativen und Ultrakonservativen ausgefochten; ein Teil der Gewerkschaftsbürokratie ist ebenfalls bestrebt, ihre Beziehungen zur Partei zu stärken.

Der Kampf um die Stimmen der Arbeiter:innenklasse geht weiter

Der Präsident der Teamsters (Gewerkschaft der Transportarbeiter:innen), Sean O’Brien, sprach auf der RNC vor einem etwas verwirrten Publikum und verteidigte „amerikanische Arbeitsplätze“ und Gewerkschaften. Nachdem er zuvor Vance gelobt hatte, nannte O’Brien Trump einen „harten Kerl“ und sprach sich für eine gewerkschaftsfreundlichere GOP aus.

Am nächsten Tag sagte der für die Vizepräsidentschaft nominierte J.D. Vance auf dem Parteitag: „Wir brauchen einen Führer, der nicht in der Tasche des Großkapitals sitzt, sondern für die Arbeiter da ist, gewerkschaftlich und nicht-gewerkschaftlich.“ Trump und Vance wollen in einer ungewöhnlichen Aktion die Geschichte verdrehen und die GOP als Partei der Arbeiter:innenklasse darstellen.

Während der Trumpismus die Frustration eines bedeutenden Teils der amerikanischen Arbeiter:innenklasse widerspiegelt – hauptsächlich weiße Männer aus ehemaligen Industrieregionen, die Trump in die Umlaufbahn der GOP gebracht hat, obwohl die Kampagne 2024 mehr Unterstützung von BIPoC, meist Männern, erhält – ist es nochmal eine andere Sache, eine gewerkschaftsfreundliche Agenda in die GOP-Plattform aufzunehmen.

Das Wiedererstarken der Gewerkschaftsbewegung in den letzten Jahren – in Verbindung mit der Krise des Regimes und beider Parteien – hat die Gewerkschaftsbürokratie neu belebt, die nun versuchen muss, die Gewerkschaftsbewegung in Schach zu halten. O’Brien von den Teamsters und Shawn Fain von der UAW haben sich als die beiden Persönlichkeiten herauskristallisiert, die in gewisser Weise den Bewusstseinswandel in der Arbeiter:innenbewegung zum Ausdruck bringen und die um einen privilegierten Platz als Gesprächspartner des Zweiparteienregimes und der neuen Regierung wetteifern.

Beide haben die Zunahme des Trumpismus in ihren Reihen beobachtet, und beide haben sich verpflichtet, die Gewerkschaftsbewegung in eine neue wirtschaftliche und politische Situation zu führen. Bei den Teamsters hat Trump nicht nur Anhänger:innen in den traditionellen Sektoren der Gewerkschaft, sondern auch unter den prekär und rassistisch unterdrückten Beschäftigten in den Vertriebslagern von UPS. Es ist nicht nur der Trumpismus, der diese neue Bürokratie beunruhigt und prägt.

In der Gewerkschaftsbewegung gibt es eine neue Generation von Aktivist:innen, die sich gewerkschaftlich organisieren, für die Demokratisierung bestehender Gewerkschaften kämpfen und die Arbeiter:innen nicht nur für Brot-und-Butter-Forderungen mobilisieren, sondern auch gegen sexistische und rassistische Unterdrückung und sogar gegen den Genozid in Palästina. O’Brien von rechts und Fain von links streiten sich, wessen Strategie am besten ist.

Mit Bidens Rücktritt haben sich die Chancen des „geringeren Übels“ verbessert

Es bleibt abzuwarten, wie die GOP auf Bidens Rücktritt reagieren wird, obwohl Trump selbst bereits erklärt hat, dass Kamala Harris leichter zu schlagen sei als Biden. Trumps Einfluss auf die GOP ist nicht umsonst: Dieses neue Kräfteverhältnis innerhalb der Partei wurde durch ständige Polarisierung im Bemühen um die Durchsetzung einer nicht-mehrheitsfähigen MAGA-Agenda erreicht. Nicht alle Teile der Republikanischen Partei – einschließlich wichtiger Führungspersönlichkeiten – und ihre Basis teilen die Trumpsche Agenda.

Auch wenn Trump die Nominierung erreicht hat, ist es eine ganz andere Sache, die MAGA-Agenda auf nationaler Ebene durchzusetzen. Der Trumpismus – der rechte, nationalistische Populismus – wird in absehbarer Zeit nirgendwo hingehen, da er im dekadenten amerikanischen Imperialismus verwurzelt ist. Der Trumpismus ist aus dem Scheitern des Neoliberalismus erwachsen, und Vance und seinesgleichen sind auf dem Vormarsch, indem sie sich als Gegner des Neoliberalismus darstellen, die traditionelle amerikanische Arbeitsplätze und Werte wiederherstellen können. Trump hat jedoch möglicherweise nicht das Zeug dazu, die nächste Stufe zu erklimmen, da er die Wahl 2020 verloren hat und die GOP bei den Zwischenwahlen 2022 schlecht abgeschnitten hat. Zwar ist er im Moment noch der Favorit, aber die Siegesgewissheit ist verblasst, und eine Niederlage im November würde die Partei erschüttern und zu Uneinigkeit und Krisen führen.

Ohne Biden können die Ablehnung des Trumpismus, der Kampf gegen den Vormarsch der Neuen Rechten, der Drang, demokratische Grundrechte wie das Recht auf Abtreibung zu verteidigen, und die Angst vor den autoritären Gesten von Trump und MAGA eine ausreichend große Herausforderung darstellen, um Trump die Wahl zu kosten. Es wird nun an Harris – der voraussichtlichen Kandidatin – liegen, die Partei in dem Bemühen zu vereinen, Trump zu schlagen. Die Reaktion auf ihre Unterstützung durch Biden und den Parteiapparat war positiv und es flossen bereits 100 Millionen US-Dollar Spenden in ihren Wahlkampf. Als ehemalige kalifornische Staatsanwältin war sie für die Inhaftierung Tausender BIPoC verantwortlich. Es ist kein Wunder, dass die antirassistische Bewegung im Allgemeinen und die Bewegung für schwarzes Leben im Besonderen sie als „Cop“ ansieht. Während ein Teil der Demokratischen Partei Harris bereits als erste Schwarze Präsidentschaftskandidatin feiert, wird die Demokratische Partei darauf achten, dass sie die „Woke“-Karte nicht überstrapaziert, um die Wähler:innen der Mitte nicht zu vergraulen. Außerdem wird die Partei versuchen, sich in Bezug auf Einwanderung und die Beziehungen zu Israel als hart oder sogar härter als Trump zu präsentieren.

Harris ist nicht besonders beliebt und hat als Vizepräsidentin wenig Profil. Eine Präsidentschaftskandidatur mit Harris an der Spitze ist vor allem das Ergebnis von Bidens Entschlossenheit, für eine zweite Amtszeit zu kandidieren und bis jetzt im Rennen zu bleiben. Die Demokratische Partei hat drei oder vier brauchbare Optionen und potenziell bessere Namen als Harris. Sie war jedoch die beste Option, da der Partei (nach Ansicht des Parteiestablishments) die Zeit für jede Art von Vorwahlen davonläuft und sie sich in einer privilegierten Position befindet, um sich die „Jeder-außer-Biden“-Energie zunutze zu machen und sich seine präsidialen Errungenschaften zu eigen zu machen.

Auf Seiten der Demokraten ist es ironisch, dass Bidens treueste Unterstützer:innen die Progressiven der Partei waren, angeführt von Senator Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez (AOC). Dies offenbart eher Bidens Schwäche als die Stärke der Progressiven, da ihnen ein Platz am Tisch eingeräumt wurde, als es niemanden gab, der sich zu ihnen setzen wollte. AOC und Sanders spielten die traurige Rolle, einen eindeutig ungeeigneten Kandidaten zu verteidigen, dessen Vermächtnis Amerikas Unterstützung für den Genozid in Gaza sein wird. Sanders – und in geringerem Maße das Team um AOC – trugen wesentlich zu Bidens Sieg im Jahr 2020 bei und wurden mit dem Vorsitz des Haushaltsausschusses des Senats belohnt. Eine Partei, die sich um Harris schart, wäre nicht unbedingt so „nett“ zu ihnen, wie Biden es war.

In Wahlkampfzeiten lügen alle Politiker:innen der Bourgeoisie. Trump und Vance werden versuchen, die Wähler:innenschaft davon zu überzeugen, dass die GOP eine gewerkschaftsfreundliche Partei ist und dass sie den „einfachen Bürger“ vertreten, während sie Millionen von Dollar von den Superreichen und berühmten gewerkschaftsfeindlichen Kapitalisten wie Elon Musk erhalten. Das Gleiche gilt für die Demokrat:innen, die nicht einmal das PRO-Gesetz verabschiedet haben und sich einmischten, um den Eisenbahnerstreik zu Gunsten der Konzerne zu brechen.

Sowohl von Trump als auch von Harris können wir eine starke migrationsfeindliche Offensive und eine fortgesetzte bedingungslose Unterstützung für Israel und den Genozid in Gaza erwarten. Darauf zu vertrauen, dass die Demokratische Partei der extremen Rechten Einhalt gebieten und die demokratischen Rechte verteidigen kann, ist ein Wunschdenken, das seine Grenzen gezeigt hat, als der Oberste Gerichtshof Roe v. Wade aufhob und angesichts der hundert Gesetze, die in den letzten zwei Jahren gegen die Rechte von trans Personen und gegen das Recht auf Abtreibung verabschiedet wurden.

Die extreme Rechte entstand in erster Linie als Reaktion auf die jahrelange neoliberale Politik sowohl der Demokratischen als auch der Republikanischen Partei. Die Zukunft des Klassenkampfes, die Niederlage der extremen Rechten und das Entstehen einer politischen Organisation der Arbeiter:innenklasse liegt in der neuen Arbeiter:innenbewegung, der Solidaritätsbewegung für Palästina, der neuen Studierendenbewegung, der Jugend, die gegen den Klimawandel, für Frauen und Queers und gegen den Imperialismus kämpft.

Der Artikel erschien zuerst auf Englisch am 22.Juli 2024 auf Left Voice.

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