Münster: Studierende organisieren eintägiges Protestcamp für Palästina an der Universität
Am Dienstag organisierten rund 100 Studierende ein eintägiges Protestcamp in Gedenken an die Nakba und in Protest gegen den laufenden Genozid in Gaza. Ein wichtiger Schritt für die Bewegung.
Wenn man in Münster am Dienstag bei bestem Wetter die Brücke über das kleine Flüsschen Aa Richtung Juridicum und Zentralbibliothek überquerte, tauchten auf der Wiese zur linken Hand Palästinafahnen und Pavillons auf, die mit großen Transparenten bespannt waren. “Free Palestine”, “Silence is Violence” und “Stoppt das Schweigen zu Apartheid, Besatzung und Krieg” war dort zu lesen. Auch gab es eine kleine Ausstellung mit Plakaten, die über die Lage in Palästina/Israel aufklärten am Wegesrand, um die sich ab und an Trauben vorbeigehender Studierender bildeten. Es waren dort, im Schatten der Bäume, Bierbänke aufgereiht, auf denen dutzende Studierende saßen und einem Referenten zuhörten, der gerade einen Bericht über seine Reise durch die Westbank vortrug. Der Redner warf mit einem Beamer eindrückliche Bilder von der Apartheidsmauer bei Bethlehem, von israelischen Siedlungen und der geteilten Stadt Hebron an die Leinwand und erzählte dabei vom alltäglichen Leben der Palästinenser:innen unter dem Besatzungsregime. Es war ungefähr 10:30 Uhr morgens und das Protestcamp hatte gerade erst begonnen.
Den ganzen Tag wollten sich die Studierenden nehmen, um der Nakba vor 76 Jahren zu gedenken und das Schweigen der Unileitung zum Genozid in Gaza anzuklagen. Das Protestcamp war offiziell angemeldet, die Polizei war mit drei Wagen auf das Unigelände eingedrungen und beobachtete das rege Treiben erst argwöhnisch, dann mit zunehmendem Desinteresse. Rund 100 Studierende würden über den Tag verteilt am Camp teilnehmen. Auch umstehende Studierende interessierten sich für die verschiedenen Vorträge und Reden. Es gab eine Küche für alle. Einige Teilnehmenden kamen zusammen und machten traditionelle palästinensische Handarbeit, häkelten und stickten. Gegen Mittag organisierten Muslim:innen ein gemeinsames Beten im Freien.
Gegen 13 Uhr kam Dr. Barbara Winckler, sie ist eine der bereits über 1000 Unterzeichner:innen des Statements von Lehrenden gegen die Polizeigewalt bei der Auflösung des Palästinacamps an der FU Berlin. Sie lehrt am Institut für Arabistik und Islamwissenschaft der Universität Münster. Sie hielt auf dem Camp einen Workshop zur palästinensischen Literatur. Auch einige Student:innen des Faches kamen zum Camp. Die Fachschaft hatte es zuvor über Instagram beworben. Die Anwesenden lasen gemeinsam einen Text des berühmten palästinensischen Schriftstellers und marxistischen Aktivisten Ghassan Kanafani. Der Text heißt “Das Land der traurigen Orangen” und ist eine bewegende Kurzgeschichte über Kanafanis eigene Fluchterfahrung während der Nakba. Auch wurde ein Gedicht von Dr. Refaat Alareer, Professor für englische Literatur an der Islamischen Universität in Gaza, vorgetragen, der am 6. Dezember durch israelische Bomben getötet wurde.
Dass eine Dozentin das Camp aufsucht und mit ihrem Workshop palästinensische Literatur und Literaturwissenschaft an alle Anwesenden vermitteln möchte, ist ein großer Erfolg der Bewegung. Es ist nicht nur ein kleiner Schritt hin zur Demokratisierung der Lehre und der Öffnung der Universitäten, sondern gerade jetzt braucht es eine starke und organische Verbindung zwischen den Studierenden und den Angestellten der Universität, um dem Versuch der Unileitung, die Bewegung von der Uni fernzuhalten und sie als antisemitisch zu diffamieren, wirksam entgegentreten zu können.
Im Anschluss an den Workshop folgte eine Liveschaltung mit einem palästinensischen Studenten der Universität Jenin im Norden der Westbank. Er berichtete davon, welche Auswirkungen der Krieg in Gaza auf sein Leben und das Leben der Studierenden in Palästina hat. Israel und auch die EU haben die Finanzierung der von internationalen Geldern abhängigen palästinensischen Autonomiebehörde (PA) eingestellt oder zumindest drastisch reduziert. In der Folge können sich viele Studierende die teuren Studiengebühren nicht mehr leisten; durch eskalierende Siedler:innengewalt sind außerdem viele Straßen unsicher und man musste auf reine Onlinelehre umsteigen. Die Westbank erleide darüber hinaus gerade einen wirtschaftlichen Zusammenbruch: vielen Palästinenser:innen wurde seit dem 7. Oktober die Arbeitserlaubnis auf israelischem Staatsgebiet entzogen. Arbeitslosigkeit breitet sich aus. Durch die Abriegelung und die Unsicherheit steigen gleichzeitig die Preise für Güter des täglichen Bedarfs. Auf die Frage, was die internationale Solidaritätsbewegung an den Universitäten für die Menschen vor Ort tun könne antwortet er:
I’m moved by the protests. Now you have to educate more people about Palestine and what’s happening here. […] Also the government’s repression of your protests has shown the world how corrupt they are. Now we need you to put more pressure on your government to end the support for Israel.
Auch sprach er über die schädliche Rolle der PA. Sie sei einfach der verlängerte Arm des israelischen Besatzungsregimes und würde sich ebenso wie die Besatzungsarmee an der Unterdrückung der Palästinenser:innen beteiligen. Als er sich verabschiedete, waren die Teilnehmenden des Protestcamps tief berührt von seinen Worten. Einige erfuhren zum ersten Mal, was internationale Solidarität in der Praxis bedeutet.
Am Nachmittag folgte ein Workshop zur Geschichte der Nakba und ein Workshop zum Thema “Darf man noch gegen Krieg sein?”, der von der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) organisiert wurde. In der anschließenden Diskussion wurde die Frage nach den Gemeinsamkeiten zwischen dem Ukrainekrieg und dem Krieg in Gaza aufgeworfen. Es wurde dabei in Redebeiträgen aus dem Publikum darauf hingewiesen, dass der deutsche Staat und die Universitätsleitungen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine sofort alle wissenschaftliche Zusammenarbeit mit russischen Forschungseinrichtungen auf Eis legten. Die gleiche Reaktion blieb aber im Gazakrieg bisher aus. Im Gegenteil, Staat und Universitäten übten einseitig Mitgefühl mit den Toten des 7. Oktobers, während sie damit das Leid der über 40.000 ermordeten Palästinenser:innen seit dem 7. Oktober und das 76-jährige Leid unter einem Regime der Vertreibung und Unterdrückung versuchen zu überdecken. Als Grund für diesen scheinbaren Widerspruch wurde in der Diskussion von verschiedenen Redner:innen herausgearbeitet, dass es dem Staat und den deutschen Universitäten nicht in erster Linie um die jeweilige Zivilbevölkerung geht, sondern um die Sicherung deutscher Staatsinteressen im Ausland. Dabei spielt ihr geheucheltes Mitgefühl mit den Toten nur die Rolle einer moralischen Rechtfertigung dieser zynischen imperialistischen Machtpolitik.
Diese Erkenntnis ist in Bezug auf Gaza besonders wichtig, denn sie zeigt auch, dass die Hoffnung auf bürgerliche Regierungen oder die Vereinten Nationen als Friedensstifter zu agieren, enttäuschen wird. Die in Konkurrenz zueinander stehenden bürgerlichen Nationalstaaten und die von ihnen geschaffenen und von dem Willen der mächtigsten Staaten abhängigen internationalen Gremien können für die Studierendenbewegung keine Verbündeten sein. Vielmehr braucht es jetzt ein weltweites antiimperialistisches Bündnis der Studierenden und Arbeiter:innen, welches sich nur auf die Massen selbst stützen kann.
Am frühen Nachmittag sprach eine Rednerin vom “Sozialistisch Demokratischen Studierendenverband” (SDS). Sie zeigte die Parallelen der jetzigen Studierendenbewegung zu der großen internationalen 1968er-Bewegung auf und wies treffend darauf hin, dass diese Bewegung auch damals mit Protesten gegen den Krieg der USA gegen das vietnamesische Volk begann.
Anschließend sprach ein Redner von “Waffen der Kritik”. Er stellte fest, dass die erste Welle der Protestcamps auch in Deutschland bereits ein großer Erfolg ist, doch die Bewegung erreiche immer noch nicht alle Teile der Studierendenschaft. Daher müsste jetzt an der Verbreiterung der Bewegung gearbeitet werden. Er schlug als nächsten Schritt die Einberufung von studentischen Vollversammlungen an allen Universitäten, auch in Münster, vor:
Diese Versammlungen können das Thema auf die Tagesordnung setzen, die Masse unorganisierter Studierender in die Diskussion hineinziehen und anschließend den Kampf um die Erfüllung beschlossener Forderungen aufnehmen. Natürlich werden nicht alle unserer Meinung sein, aber die überzeugten Unterstützer:innen Israels sind in der Minderheit. Wir müssen sie in offenen Versammlungen herausfordern und ihre Heuchelei vor allen entlarven!
Auch über das Bündnis der Studierenden mit Uniangestellten und anderen wichtigen Sektoren der Arbeiter:innenklasse sprach er. Isoliert würde die Energie der Studierenden verpuffen, es brauche nun einen Zylinder, in den sie eingeleitet werden könnte, um damit die wirksamsten Hebel der Gesellschaft in Bewegung zu setzen. Die einzige Kraft der Veränderung sei die Arbeiter:innenklasse, nur sie könnte mittels Streiks den kapitalistischen Produktionsprozess unterbrechen und hätte so das mächtigste Druckmittel. Daher müssten jetzt die Führungen der Gewerkschaften, die weiterhin staatstragend und zionistisch eingestellt seien offen herausgefordert werden. Es bräuchte Versammlungen der Unibeschäftigten, in denen die Lage in Gaza und die Repression gegen Studierende auf die Tagesordnung gesetzt werden müsse. Die Bewegung müsste sich außerdem auf andere Sektoren der Arbeiter:innenklasse ausdehnen, wolle sie Erfolg haben. Vor allem an den Häfen, von wo aus Waffen nach Israel geliefert werden, bräuchte es jetzt Streiks.
Gegen 18 Uhr wurde das Camp mit einem gemeinsamen Singen einer abgewandelten Version des bekannten Partisanenliedes “Bella Ciao” beendet. Die Teilnehmenden gingen mit anregenden Debatten im Kopf und mit neuem Mut im Herzen nach Hause.