Münster: Palästinasolidarische Studierende stellen Forderungen an die Universität

12.02.2024, Lesezeit 8 Min.
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Wir spiegeln hier den offenen Brief des Münsteraner Hochschulkomitees für Palästina an das Rektorat der Universität. Die Studierenden fordern von der Unileitung ein öffentliche Positionierung gegen den laufenden Genozid an den Palästinenser:innen in Gaza.

Seit dem 9. Oktober haben die militärischen Vergeltungsmaßnahmen des Staates Israel 85 Prozent der Gesamtbevölkerung von Gaza, insgesamt fast zwei Millionen Zivilisten, gewaltsam vertrieben, mehr als 23.000 Palästinenser:innen getötet und mehr als 58.000 verletzt. Seit Beginn der israelischen Aggression gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza und im Westjordanland wurden rund 5.000 Schüler:innen getötet und weitere 8.000 verletzt. Darüber hinaus wurden 346 Schulen im Gazastreifen bombardiert und zerstört, während weitere 42 Schulen im Westjordanland gestürmt und verwüstet wurden, was eine Unterbrechung des Präsenzunterrichts zur Folge hatte. Von dieser groben Ungerechtigkeit waren mehr als 138.000 Universitäts- und Hochschulstudent:innen betroffen, während im Gazastreifen die Hochschulbildung vollständig eingestellt wurde, wodurch mehr als 88.000 Menschen ihrer Bildung und ihrer Lernräume beraubt wurden.

Die rassistische, entmenschlichende und islamfeindliche Erklärung des Rektorats der Universität Münster, die als Reaktion auf den 7. Oktober eine unbeirrt selektive Solidarität mit Israel und dem israelischen Leben bekundet und dabei das Leiden der palästinensischen Völker nicht anerkennt, fördert antipalästinensische Narrative, die den Werten der akademischen Integrität, der Meinungsfreiheit, der Gleichheit und der Inklusion, für die die deutsche Wissenschaft angeblich eintritt, völlig widersprechen. Das Rektorat bekräftigt: „Verbrechen an unschuldigen Menschen sind durch nichts zu rechtfertigen“. Wie können also mehr als 100 Tage der Massenvernichtung und Ausrottung in Gaza als „Selbstverteidigung“ gerechtfertigt werden? Wie können die letzten 75 Jahre der gewaltsamen Besetzung, Enteignung und Apartheid Israels, die mit diesem Völkermord fortgesetzt werden, gerechtfertigt werden? Sind dies keine Verbrechen? Verdienen diese Gräueltaten nicht eine Erklärung oder Verurteilung?

An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass Deutschland nicht selektiv sein darf, indem es die Menschenrechte der Israelis einfordert, während es die gleichen Rechte der Palästinenser:innen missachtet. Hinter der Fassade einer edlen Sache ist die Unterstützung Israels nichts anderes als die Beschwörung von Deutschlands historischer Schuld, um seine imperialistische Interessen im Nahen Osten/Westasien zu bedienen. Darüber hinaus ist der Missbrauch der anfechtbaren Antisemitismus-Definition der IHRA durch den deutschen Staat, um jegliche Kritik am Staat Israel zu unterdrücken, eine eklatante Demonstration von antipalästinensischem Rassismus. Diese Repression und Gleichgültigkeit bezüglich Palästina und die Unterdrückung pro-palästinensischer Stimmen, besonders in der deutschen akademischen Welt, fördern eine gefährliche Kultur der Einschüchterung, Belästigung und Zensur, die sowohl die persönliche Sicherheit als auch die beruflichen Perspektiven gefährdet. Es ist an der Zeit, dass die Wissenschaft aufhört, einen einseitigen Diskurs zu führen, und stattdessen die völkermörderischen Handlungen des Staates Israel scharf verurteilt und ihn als den ethno-nationalistischen Siedler-Kolonialstaat identifiziert, der er ist. 

Wir fragen Sie: Zwingt Sie die persönliche Verantwortung, Ihre akademischen Kolleg:innen zu unterstützen, nicht dazu, die andauernden israelischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verurteilen? Bloßes Zuschauen ist nicht genug; Sie müssen Integrität beweisen, indem Sie das palästinensische Recht auf Rückkehr und Selbstbestimmung anerkennen, einschließlich des palästinensischen Widerstands zur Befreiung von mehr als sieben Jahrzehnten israelischer Kolonisierung, Apartheid und ethnischer Säuberung. 

Eine unverzichtbare Taktik jeder völkermörderischen Kampagne ist der Versuch, Völker ihres Bildungs- und Kulturerbes, ihrer Räume und Möglichkeiten zu berauben (was in der Erforschung genozidaler Phänomene oft als „Epistemizid“ bezeichnet wird). Dies wird durch die gezielte Ermordung von Akademiker:innen und die vorsätzliche Zerstörung von Bildungseinrichtungen in Gaza und in ganz Palästina durch den Staat Israel deutlich. Es ist dringender denn je, dass die deutsche Akademia als Teil der globalen Wissenschaftsgemeinschaft ihre unmissverständliche Solidarität mit palästinensischen Studierenden, Akademiker:innen und Bildungseinrichtungen zum Ausdruck bringt, indem sie sich von allen akademischen Aktivitäten in Israel trennt. Die akademischen Boykotte südafrikanischer Einrichtungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die als Reaktion auf die südafrikanische Apartheid verhängt wurden, dienen als Präzedenzfall für diese Maßnahme. 

Wir, Students for Palestine Münster, fordern, dass die Universität Münster ihrer Verantwortung der Solidarität mit dem akademischen Sektor Palästinas und mit dem gesamten palästinensischen Volk angesichts des Völkermordes nachkommt

Das Rektorat muss sich einsetzen für: 

(1) einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand in Gaza. 

(2) die sofortige, ungehinderte und ausreichende Einfuhr von Treibstoffen, Lebensmitteln, Medikamenten, Wasser, Hygienematerial und anderen notwendigen Hilfsgütern in den Gazastreifen. 

(3) das Ende aller deutschen Finanz- und Militärhilfen für den Staat Israel.

(4) die Freilassung aller palästinensischen politischen Gefangenen, die sich in israelischem Gewahrsam befinden. 

(5) und die Beendigung der israelischen Besatzung.

Das Rektorat wird außerdem: 

(6) den gegenwärtigen israelischen Angriff auf Palästina und sein Volk öffentlich als Völkermord anerkennen und dieses schreckliche Unrecht präzise und eindeutig benennen. 

(7) jegliche Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen einstellen und 

(8) explizite institutionelle Unterstützung, einschließlich finanzieller Hilfe und psychologischer Beratung für betroffene Studierende, Lehrende, Forschende etc. aus den besetzten palästinensischen Gebieten (occupied palestinian territories, OPT) anbieten. 

Die Universität Münster muss (9) gegen die deutsche Zensur und die Unterdrückung propalästinensischer Stimmen vorgehen und Maßnahmen zum Schutz der freien Meinungsäußerung ergreifen, um so ein Lernumfeld zu fördern, das kritische Stimmen nicht weiter an den Rand drängt. 

Unsere Universität sollte „eine Stätte des demokratischen Dialogs und der geistigen Auseinandersetzung“ bleiben. 

Wir fordern das Rektorat auf, unverzüglich auf diesen offenen Brief zu reagieren. Die Studierenden der Universität Münster können Ihr mitschuldiges Schweigen nicht länger dulden, nachdem sie Tag für Tag Zeug:innen dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit geworden sind. Wir werden weiterhin unsere Stimme erheben und aktiv werden, solange unsere Forderungen nicht erfüllt werden. Wir haben die Absicht, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie dasselbe tun. 

Wenn ich sterben muss musst du leben 
um meine Geschichte zu erzählen 
um mein Hab und Gut zu verkaufen 
um ein Stück Stoff zu besorgen 
und ein paar Schnüre 
(lass es weiß sein, mit einem langen Schweif) 
so dass ein Kind, irgendwo in Gaza 
während es dem Paradies ins Auge sieht 
wartend auf seinen Vater, der wie ein Blitz verschwand –
und von niemandem Abschied genommen hat
nicht einmal von seinem Leib nicht einmal von sich selbst – 
den Drachen sieht, meinen Drachen, den du gemacht hast, wie er oben fliegt, und für einen Augenblick denkt, dass ein Engel da ist, der die Liebe zurückbringt. 

Wenn ich sterben muss, 
lass es Hoffnung bringen, 
lass es eine Legende sein.

Dr. Refaat Alareer, Professor für englische Literatur an der Islamischen Universität in Gaza, Ihr Kollege, ermordet durch einen israelischen Luftangriff am 6. Dezember 2023. 

Students for Palestine Münster, Januar 2024

Addendum

Dieser offene Brief wurde im Januar 2024 verfasst und veröffentlicht. Jetzt ist Februar 2024 und wir haben keine Antwort erhalten. Stattdessen hat die Universität Münster ihre Unterdrückung von Stimmen, die Israel und seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit kritisieren, noch verstärkt. Jede Studentin und jeder Student verdient einen Raum, der frei von Gedankenkontrolle ist; wenn dies der Fall ist, zu dem sich die Universität Münster bekennt, sind wir alle in Gefahr, unabhängig von der politischen Ausrichtung. Unsere bürgerlichen Freiheiten und die Werte, auf die sich unsere Gesellschaft angeblich stützt, nämlich Gleichheit, Meinungsfreiheit und Demokratie, sind in unmittelbarer Gefahr. Kürzlich wurde eine Vorführung des Films „Roadmap to Apartheid“, die von einer Gruppe von Studierende der Universität moderiert werden sollte, auf Anweisung des Rektorats zweimal abgesagt. Der Dokumentarfilm vergleicht den israelischen ethno-nationalistischen Rechtsrahmen in Bezug auf die Palästinenser:innen mit der Apartheid-Ära in Südafrika und stützt sich dabei auf Stellungnahmen und Zeugenaussagen verschiedener Quellen, darunter sowohl südafrikanische Anti-Apartheid-Aktivist:innen als auch israelische Menschenrechtsorganisationen. Diese Absagen sind zweifellos die Definition von Zensur. Wir bekräftigen die Forderung 9, dass die Universität sich zu ihrer Verantwortung bekennt, Maßnahmen zum Schutz der freien Meinungsäußerung zu ergreifen, um so ein Lernumfeld zu fördern, das kritische Stimmen nicht weiter an den Rand drängt. Wir erwarten von der Universität Münster mehr denn je, dass sie ihre vorurteilsbehaftete Selektivität aufgibt und sich an die Werte hält, die zu ihrem Fundament als wissenschaftliche Einrichtung gehören.

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