München: Rede von Youth for Palestine zur Demo „365 Tage Genozid“

16.10.2024, Lesezeit 6 Min.
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Youth for Palestine hat sich im Zuge der studentischen Palästinaproteste gegründet, legt den Fokus auf Aktionen und Organisierung unter Schüler:innen im Protest gegen den Genozid in Gaza. Denn nicht nur an unseren Unis, sondern auch an unsere Schulen werden palästinasolidarische Stimmen unterdrückt. In diesem Sinne möchte Youth for Palestine die Isolierung von solidarischen Schüler:innen aufheben.

Wir veröffentlichen hiermit eine Rede, die für einen Protest zum Thema „365 Tage Genozid“ in München gehalten wurde. Die beiden Aktivist:innen sprachen für die diesen Sommer gegründete Schüler:innenvernetzung Youth for Palestine.

„When schools are bombed, so are hopes and dreams“

Mich verfolgt die Vorstellung, wie ich mich fühlen würde, wenn der Ort, an dem ich zur Schule gegangen bin, einfach komplett zerstört worden wäre. Der Ort, an welchem ich zuerst gelernt habe, zu lesen und zu schreiben, zerbombt wurde. Die ersten sozialen Kontakte, tot. Und nicht nur meine Grundschule, auch meine weiterführende Schule und auch die Schule, an welcher ich jetzt gerade meine Ausbildung mache. Und nach dieser sogar die Universität. Welche Hoffnung hätte ich? Welche Ziele? Im April 2024 wurden in Gaza 5479 Studierende, 261 Lehrer:innen und 95 Professoren getötet. Keine einzige Schule im Südlibanon ist seit einem Jahr geöffnet. In Gaza sind alle Bildungseinrichtungen zerstört. Man spricht von einem sogenannten „scholasticide“. Doch was verstehen wir darunter? Das Wort setzt sich zusammen aus den Wörtern Schule und Genozid. Diese beschreiben die gezielte und systematische Zerstörung von jeglichem Bildungswesen und basiert auf einem von den United Nations veröffentlichten Artikel über die systematische Zerstörung des Bildungswesens in Gaza. 

Dazu gehört auch das Einsetzen von extremer Gewalt, die Zerstörung von Schulgebäuden, sowie die Tötung von Schüler:innen, Studierenden und Lehrenden , und die Zerstörung von Unterrichtsmaterial. Der Weltlehrertag wurde unter dem Motto „Qualifizierte Bildung ist nur mit qualifizierten Lehrer:innen möglich“ eingeführt. Und palästinensische Lehrer:innen sind regelrecht überqualifiziert. Sie haben es jahrzehntelang geschafft, trotz sehr kleinem Budget, sehr überfüllten Klassen und konstanten Krisensituationen, 2021 im Bildungsbereich 78,4 Prozent der Ansprüche von HRMI (Human Rights Measurement Initiative) als „Low and Middle Income“ Land zu erreichen. (Zum Vergleich: Deutschland erreicht als „High Income“ Land nur 75,4 Prozent). Doch in der jetzigen katastrophalen Lage ist überhaupt gar keine Bildung mehr möglich. Die Lehrer:innen können nicht mehr ihrem Beruf nachgehen, sondern müssen als Bezugsperson und Psycholog:innen für die vertriebenen und traumatisierten Kinder agieren. Umstände, unter denen sie selbst genauso leiden. 

Dies hat gravierende Einflüsse auf die Zukunft der Kinder und Jugendlichen. Eingeschränkter bis gar kein Zugang zu Bildung, Bildungsnachteile wie Alphabetisierung, keinen Job oder Aufstiegsmöglichkeiten. Die Zerstörung und die taktischen Angriffe mit dem Ziel, palästinensisches Wissen auszulöschen, um den Diskurs, die Identität und die palästinensische Befreiungsbewegung zu verhindern, nimmt den Lehrern sowohl die Mittel, die Geschichte des Volkes an die nächste Generation zu geben, als auch die Möglichkeit, sie auf eine Zukunft vorzubereiten. Insgesamt 625.000 palästinensische Schüler:innen haben gerade keinen Zugang zu Bildung. Also frage ich mich nochmal. Welche Hoffnungen hätte ich? Welche Ziele? Wir bei Youth for Palestine träumen von einer Welt, in der das essentielle Menschenrecht auf Bildung auch für jedes einzelne Kind durchgesetzt wird. Wo jedes Kind eine Zukunft vor Augen haben kann, die nicht geprägt ist von Gewalt, Bomben und Terror. In welchem wir hier in Deutschland keine Angst davor haben müssen, in unserer Schule angegriffen zu werden, sondern in Ruhe lernen können. Und in welcher solche Angriffe und Taten klar verurteilt und geahndet werden. 

Als ich älter wurde, wurde mir von vielen Menschen immer mehr und mehr gesagt, dass ich selber schauen muss, wo ich bleibe, und dass ich mich nicht um alles und jeden kümmern kann. Dass die Welt nunmal ungerecht sei, und man schauen muss, wo man selber bleibt. Und das deutsche Bildungssystem trägt direkt zu solchen Aussagen bei. Lehrer hier sind immer schlechter qualifiziert, Schüler auf die moderne Weltlage vorzubereiten – oder diese selbst überhaupt zu hinterfragen und einzuordnen. Während man 100 Milliarden in die Bundeswehr gesteckt hat, gibt es riesige Löcher im Unterricht über deutsche koloniale und imperialistische Geschichte, das Mitwirken Deutschlands in verschiedensten Krisen, wie dem Genozid in Gaza, und zudem wenig bis gar keine Vermittlung über die Analyse von Medien oder Politik und die Bildung einer eigenen Meinung. Das hinterlässt die Schüler:innen verwirrt und unsicher und verursacht entweder ein komplettes Ohnmachtsgefühl oder Apathie und Anfeindungen, besonders beim Thema Palästina, wo man eh gerne zensiert und mit basislosen Anschuldigungen beworfen wird, sobald man das Land überhaupt erwähnt. Ich denke, das ist falsch. 

Denn es gibt ein System dahinter, und wir möchten es klar benennen. Ich werde nicht stillschweigen und meine Chance verpassen, auszusprechen, dass es falsch ist, was gerade passiert. Dass es einen Namen hat, nämlich einen Genozid. Dass es Bomben auf Schulen hagelt, in der Schüler ihre letzte Zuflucht aufsuchen. Ich will nicht, und ich werde nicht. Ich will, dass ich nicht mehr alleine bin, wenn ich in der Schule „Free Palestine“ rufe, dass mir nicht unterstellt wird, ich sei Antisemitin, weil ich mich gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausspreche. Ich möchte, dass man es mit mir ruft. Wenn sich nur ein paar Schüler an jeder Schule zusammenfinden und sich gemeinsam für Solidarität mit Palästina einsetzen, ob durch ein Komitee oder die SMV, Flyer-Aktionen oder Informationsveranstaltungen, können wir auch gemeinsam Druck aufbauen und anfangen, Dinge zu verändern. Ich denke also nochmal darüber nach, was meine Träume und Ziele wären, und ich merke, dass die Schüler:innen Palästinas und ich die gleichen Hoffnungen und Wünsche teilen. Ein Palästina, ohne Besatzung, ohne Apartheid. Ein Ende der Bombardierung durch Israel, egal ob im Libanon, Gaza, Westjordanland, Yemen oder Syrien. Ein freier Zugang zu Schulen. Ein freies Palästina.

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