München erinnert: Ein Kampf, der uns Hoffnung gibt

23.07.2024, Lesezeit 15 Min.
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Gedenkkundgebung in München. Foto: KGK

Am 22. Juli 2016 ermordete ein Münchner Täter neun Menschen im und um das Olympia-Einkaufszentrum in München. Die Tat war rechter Terror, was erst seit wenigen Jahren anerkannt wird. Wie wir trotz rechter Gewalt hoffen und kämpfen sollten.

Acht Jahre ist es her: Der rassistische Anschlag eines 18-Jährigen, der im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München neun Menschen ermordete und weitere fünf Menschen schwer verletzte. Am vergangenen Samstag fand in Gedenken eine Kulturveranstaltung im Import Export statt, bei der es eine Lesung, ein Podiumsgespräch mit Angehörigen und Überlebenden rechten Terrors in Deutschland und zahlreiche musikalische Beiträge gab. Auch gestern, am achten Jahrestag, wurde an die Opfer gedacht: Die Initiative „München OEZ erinnern!“ organisierte zusammen mit Angehörigen und der Stadt München eine große Kundgebung, bei der etwa 700 Menschen den Reden der Angehörigen der Opfer des OEZ Anschlags und Überlebenden von rechtem Terror aus Duisburg, Solingen, Halle und Hanau zuhörten.

Schon wenige Tage nach der Tat diskutierten wir bei Klasse Gegen Klasse, ob es sich wirklich um „Amok“ handelte – oder doch um faschistischen Terror. Bis sich diese Einschätzung auch bei den deutschen Behörden durchsetzen konnte, mussten die Angehörigen der Opfer einen hartnäckigen Kampf führen. Was anfänglich als „Amoktat“ eines gemobbten, psychisch kranken Jugendlichen vom Bayerischen Verfassungsschutz, den Behörden und den Medien verharmlost wurde, wurde erst Ende 2019 vom bayerischen Landeskriminalamt als „Politisch motivierte Gewaltkriminalität – rechts“ eingestuft. Damit steht das OEZ-Attentat in einer Reihe mit rassistischen Anschlägen wie den NSU-Morden, von denen zwei in München verübt wurden, Hanau, Halle und vielen weiteren. 

Doch was ist genau passiert? Und wie kann es sein, dass Justiz und Polizei so viel falsch gemacht haben im Umgang mit den Angehörigen, der politischen Einordnung der Tat und der lückenlosen Aufklärung über diesen Fall?

Rechter Terror in München

Oberbürgermeister Dieter Reiter sagte zu Beginn seiner Eröffnungsrede beim gestrigen Gedenktag, dass die Stadt München bundesweit die meisten Opfer rechter Gewalt seit dem zweiten Weltkrieg forderte. Tatsächlich sind es durch Brandanschläge, das Oktoberfestattentat, den Liverpool-Mord, die beiden NSU-Morde und den Anschlag am OEZ insgesamt 32 Morde mit rechtsextremistischem Hintergrund seit 1970. Das Oktoberfestattentat von 1980 war dabei der schwerste Anschlag in der Geschichte des Landes mit 13 Toten und 221 Verletzten, 68 von ihnen wurden schwer verletzt. Der Täter war Faschist und nahm an Übungen der Wehrsportgruppe Hoffmann teil. Trotzdem wird bis heute, wie so oft, die Einzeltäterthese aufrechterhalten.

Armela, Can, Dijamant, Guiliano, Hüseyin, Roberto, Sabine, Selçuk, Sevda – das sind die Namen der neun Ermordeten, die dem rechten Terror am 22. Juli 2016 zum Opfer fielen. Die meisten von ihnen waren noch sehr jung und wurden systematisch vom Täter des Anschlags ausgesucht. Der Täter hatte ein rassistisches Motiv und lud ihm bekannte und unbekannte Jugendliche an diesem Tag ins McDonalds am OEZ ein. Von den eingeladenen Personen kam niemand, doch die neun Opfer entsprachen dem konstruierten Feindbild des Täters, der aktiv migrantische Menschen auslöschen wollte. An jenem Abend waren 2.300 Beamte in München im Einsatz, darunter auch viele bewaffnete Zivilpolizisten. Vermutlich war das ein Motor für die Panik, die sich durch die ganze Stadt ausbreitete, da viele Menschen die bewaffneten Zivilbeamten für Täter hielten. Zeug:innen wollten gesehen haben, wie Menschen am Stachus oder im Hauptbahnhofviertel erschossen wurden. All das führte zu Panik, Unübersichtlichkeit und Falschinformationen zur eigentlichen Tat.

Weil ein Elternteil des Täters aus dem Iran stammte, war für viele Medien nach den Morden das Motiv schnell zur Hand: islamistischer Terror. Schon damals und auch noch heute wird Menschen mit Migrationsgeschichte in erster Linie Kriminalität zugeschrieben. So berichten einige der Angehörigen, dass sie in der Tatnacht von der Polizei am Tatort mit Waffen bedroht wurden, oder auch, dass Zimmer der Opfer durchsucht werden sollten. Ganz so, als seien sie die eigentlichen Täter. Mit der Behauptung von Islamismus hätte die Polizei allerdings nicht falscher liegen können. Der Münchner Täter schrie während seiner Tat: „Ich bin Deutscher – ich bin hier geboren, wegen den Scheiß-Kanaken tue ich das.“ Er wurde von Patient:innen, die mit ihm 2015 in therapeutischer Behandlung waren, als antisemitisch, rassistisch und neonazistisch bezeichnet. Er rief Nazi-Parolen aus, machte Handzeichen, die dem Hitlergruß ähnlich waren und malte Hakenkreuze in seine Hefte. Das Vorbild zu seiner Tat war der Attentäter von Oslo und Ütoya, dessen Anschlag auf ein Jugendcamp der sozialdemokratischen Parte sich 2016 zum fünften Mal jährte. Der Münchner Täter wählte nicht nur den gleichen Tattag und die gleiche Tatzeit, er suchte sogar ein Jahr lang nach der gleichen Waffe, die der norwegische Attentäter nutzte: eine Glock 17. Das Attentat am OEZ war somit ganz klar rechter Terror und diente dem Zweck, migrantisches Leben in Deutschland zu vernichten.

Auch die Annahme, es handle sich bei dem Täter um einen gemobbten, psychisch-kranken Menschen, hinkt. Dass Mobbing tiefe psychische Spuren hinterlassen kann und hinterlässt, steht hier außer Frage. Allerdings damit einen sogenannten „Amoklauf“ zu legitimieren ist schlichtweg falsch. Aus Mobbing ist nicht darauf zu schließen, dass man zum Mörder wird. Daraus, und aus dem Spielen von Ego-Shooter-Spielen, wie nach der Tat bekannt wurde, das Motiv zu vermuten, ist eine völlige Verzerrung der eigentlichen Tat. Der Münchner Täter plante seine „Rache“ viele Jahre, machte Schießübungen zur Vorbereitung, tauschte sich auf der Online-Gaming Plattform Steam mit anderen Leuten aus, die seine Ideologie teilten, suchte ein Jahr lang nach der Tatwaffe, die sein Vorbild nutzte, und plante seine Morde systematisch und akribisch.

Der Münchner Täter hat vielleicht vor Ort allein gemordet, allerdings war er keineswegs ein Einzeltäter, wie die Medien auch hier oft berichteten und berichten. Der Fall reiht sich ein in rechte Attentate, die gezielt rassistisch motiviert und neonazistisch geprägt sind. Wie Solingen, Mölln und die NSU-Morde vor ihm und Hanau, Halle und der Mord an Walter Lübke nach ihm. Es ist fatal, diese Tat nicht in die Chronologie von rechtem Terror mit aufzuführen, weil die Annahme eines Einzeltäters verharmlost, dass sich der Münchener-Täter an rechten Anschlägen vor ihm orientierte, die ihn „inspirierten“. Er wurde in der Szene hinterher als „Held“ gefeiert und zog auch Nachahmer nach sich, wie einen Jugendlichen, der 2017 an der Aztec High School in New Mexico zwei Menschen ermordete. Ihre Namen waren Casey Jordan Marquez und Francisco Fernandez.

Ein Gerichtsprozess gegen den Münchner Täter konnte nie stattfinden, da er sich nach seiner Tat suizidierte. Der Waffenhändler, der dem Täter die Glock 17 verkaufte, wurde 2018 zu sieben Jahren Haft verurteilt, wegen fahrlässiger Tötung in neun Fällen, fahrlässiger Verletzung in fünf Fällen und Verstöße gegen das Waffengesetz. Es ist weiterhin ungeklärt, wie viel er von dem Plan des Münchener Täters wusste. Auch vor Gericht wurden die Angehörigen despektierlich behandelt. Sie wurden als „ungehaltene Hinterbliebene“ bezeichnet, weil sie sich die Aufklärung aller Fragen zu dem Fall wünschten. Laut einigen Interviews mit Angehörigen haben die Medien den Fall immer wieder genutzt, um Schlagzeilen zu schreiben und Lügen über die Tat und die Angehörigen und Überlebenden zu schreiben.

In den Berichten von 2016 über Morde durch Täter:innen mit rechter Gesinnung wird das OEZ-Attentat nicht aufgeführt. Die Berichte wurden nicht nachträglich geändert. Noch immer ist die Justiz nicht in der Lage, frühzeitig Neonazis und Rassisten im Internet ausfindig zu machen und zu stoppen, bevor es zu spät ist. Man könnte meinen, Justiz und Polizei haben eigentlich nichts gelernt. Weder aus rechtem Terror vor dem OEZ, noch danach. Noch immer werden rechte Gewalttaten wie „Einzelfälle“ behandelt. Der Verfassungsschutz, die Polizei und die Regierung geben sich gegenseitig die Hand, wenn es darum geht, rechte Gewalt in Deutschland zu verharmlosen, Migrant:innen repressiv zu begegnen und migrantische Stimmen der Gegenwehr zum Verstummen zu bringen.

Acht Jahre später: Die Salonfähigkeit der extremen Rechten

In Sachsen-Anhalt wurde die AfD im Frühjahr 2016 bei den Landtagswahlen zweitstärkste Kraft. Der Münchner Täter sympathisierte offen mit dem Parteiprogramm der AfD und hoffte, mit dieser Tat die AfD zu fördern. Schon kurz nach der Tat setze AfD-Pressesprecher Christian Lüth einen Wahlaufruf auf Twitter ab mit den Worten „AfD wählen! Schüsse am Olympia Einkaufszentrum: Tote in München – Polizei spricht von akuter Terrorlage“.

Seitdem haben wir den rasanten Aufstieg der AfD beobachten müssen: Die AfD gibt heute als zweitstärkste Oppositionspartei in vielen Bereichen den Ton an, in den östlichen Bundesländern ist sie mittlerweile sogar die stärkste Kraft. Doch nicht nur ihre Wahlzahlen haben sich vergrößert, ihre Positionen haben sich auch immer stärker nach rechts bewegt. Höhepunkt dieser Entwicklung war ihre Mitbeteiligung am Geheimtreffen für massenhafte Abschiebungen und „Remigrationspläne“, wie eine Recherche der Plattform correctiv  Anfang des Jahres aufgedeckt. Die Partei steht soweit rechts, dass sie sogar von der Fraktion Identität und Demokratie unter Führung von Marine Le Pen mit ihrer Partei  Rassemblement National im EU-Parlament aus der eigenen Fraktion ausgeschlossen wurde. Ebenfalls zeigte eine BR-Recherche, dass die Bundestagsfraktion der AfD über 100 Rechtsradikale beschäftigt, was die Verzahnung der Partei mit der extremen Rechten aufzeigt. 

Diese Entwicklung ist nicht nur ein Angriff auf demokratische Werte, wie es oft von Seiten der Regierung heißt. Sie ist eine existentielle Bedrohung für Millionen Migrant:innen in diesem Land. Jedoch findet die rassistische Politik der AfD an den Grenzen der Partei keinen Halt: Die regierenden Parteien, wie die SPD und die Grünen, die sich von der AfD abgrenzen und in der Erinnerung an rechtsterroristische Anschläge, wie das am OEZ, das Wort Solidarität in den Mund nehmen, nehmen sich vor, „endlich im großen Stil abzuschieben“. Am Gedenken nahm nämlich ebenfalls Oberbürgermeister Dieter Reiter von der SPD teil. Genau von der Partei, die in der aktuellen Ampelregierung mit Olaf Scholz‘ Maßgabe einer gnadenlos rassistischen Asylpolitik längst Forderungen der AfD umsetzt. Während Reiter lobt, dass in München Zehntausende auf die Straße gingen und bei den Massenprotesten ein Zeichen „für Demokratie und Vielfalt“ setzten, zeigt der Rechtsruck ganz andere Seiten auf. Rechte Gewalttaten sind der Höhepunkt rechter Ideologien, die sich durch die rassistische Hetze der Regierung und der Medien in den Köpfen vieler Menschen festsetzen und sicherlich nicht durch „Lichtermeere“ im Zeichen der Demokratie bekämpfen lassen.

Die Wut, die uns kämpfen lässt

Der Stadtrat hat beschlossen, dass die Initiative „München OEZ erinnern!“ in den Stadtteil Moosach umziehen kann. Den Stadtteil, in dem das OEZ liegt, in dem viele der Opfer und ihre Angehörigen wohnten und wohnen. Das ist eine positive Nachricht. Auch das Anerkennen des rechten Terrors führt zu einem erleichterten Seufzen, weil nicht mehr an der Lüge festgehalten wird, es handle sich um „Amok“. Allerdings sind der Stadtrat, die politische Führung, die Justiz und die Polizei im Kampf gegen Rechts sicherlich nicht unsere Verbündeten. Auch ist es illusorisch, dass wir den Rechtsruck und konkreter noch die AfD an den Wahlurnen besiegen, in dem wir „das kleinere Übel“ wählen. Mit denjenigen Politiker:innen, die „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ fordern, haben wir genauso wenig gemein, wie mit denjenigen, die „endlich im großen Stil abschieben“ wollen.

Klar ist: Im Kampf gegen Rechts, gegen Rassismus und Spaltung müssen wir uns verbinden. Das Gedenken hilft dabei und bietet Opfern rassistischer Gewalt, ihren Angehörigen und Überlebenden einen Rahmen einander zu stützen und sich Kraft zu schenken. Beim Gedenken teilen wir unseren Schmerz, die Trauer und die Wut. Wut auf die Mörder, aber auch auf den Staat, auf die Justiz, auf die Polizei, die Regierung und das Rechtssystem, die uns im Stich lassen  oder uns daran hindern, wenn es um lückenlose Aufklärung der Taten geht. Die uns im Stich lassen, mit unserer Ohnmacht rechtem Terror ausgeliefert zu sein. Ein System, das Migrant:innen gleiche Chancen verspricht, gleiche Behandlung, gleiche Lebensstandards. Doch was es wirklich zu Verfügung stellt ist doppeltes Buckeln, sich unter Beweis stellen müssen, immer und immer wieder, schlechtere Bezahlung, Abschiebungen, Bezahlkarten, langwierige Asylprozesse und Kriminalisierung der Herkunft und der Wurzeln.

Die Koordination im Kampf, die uns Hoffnung gibt

Wir müssen die Wut, die uns überkommt, wenn wir das lesen und erleben, bündeln. Wir müssen einander unterstützen und Orte des Gedenkens schaffen. Diesen Weg zeigen uns die unterschiedlichen Initiativen von Angehörigen und Überlebenden, vom 19. Februar in Hanau, vom 9. Oktober in Halle, von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh und eben von „München OEZ erinnern!“. Sie konnten in den letzten Jahren nicht nur für Aufklärung sorgen, die staatliche Institutionen zu kaschieren versuchen. Sie haben trotz all ihrer Verluste und Trauer oder gerade deshalb, einen Weg der Koordination begonnen, die sich unter anderem auf dem Podium der Kulturveranstaltung zum Gedenken am vergangenen Samstag ausdrückte. Diese Koordination konnten wir letztes Jahr in einem offenen Brief an die Bundesregierung sehen. Darin wurde gemeinsam mit anderen Initiativen, wie der Initiative in Gedenken an Semra Ertan und vielen Überlebenden des rechten Terrors in den 90er Jahren, „die ignorante Haltung der Bundesregierung“ aufs Schärfste verurteilt.

Der Kampf gegen den Rechtsruck geht einher mit einem Kampf gegen die Regierung, die den Rechten mit ihrer Politik Vorschub leistet. Um Rassismus zu bekämpfen, müssen wir den bürgerlichen Staat, der dieser Ideologie die Grundlage schafft, abschaffen. Statt uns auf die rassistische Spaltung der Regierung einzulassen, brauchen wir wahre Solidarität und Zusammenhalt. Dafür müssen wir uns dem bekannten Satz von Max Frisch zu eigen machen, der erstaunlicherweise die deutsche Staatsräson in Sachen Migration gut zusammenfasst: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“. Erneut sehen wir, wie wir nicht nur als „Deutsche“ und „Migrant:innen“ gespaltet werden. Wir werden unterschieden in „gute“ Migrant:innen, wenn wir gehorsame Fachkräfte sind und in „schlechte“ Migrant:innen, wenn wir nicht ihrem Standard an „Integration“ oder besser gesagt an Assimilation entsprechen. Ohne unsere Arbeitskraft würde kein Krankenhaus, keine Bildungseinrichtung und kein öffentlicher Transport funktionieren. Die Kraft, die wir tagtäglich beweisen, damit diese Gesellschaft funktioniert und die die Einzige ist, die in dieser kapitalistischen Welt zählt, müssen wir als Kampfkraft nutzen, um die neue Welle an migrationsfeindlicher und rassistischer Stimmung zu brechen.

Wahre Solidarität und Zusammenhalt können wir nur durch einen einhetlichen Kampf als Arbeiter:innen und Unterdrückten schaffen. Die Arbeiter:innenklasse in Deutschland und international ist migrantischer denn je! Mit dieser Masse können wir kämpfen und gewinnen. Wir können rechten Terror bekämpfen und unsere Wut nutzen, um uns gemeinsam zu organisieren und Seite an Seite für ein besseres Leben ohne Angst, Ausgrenzung und ungleichen Chancen aufzustehen!

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