Misstrauensvotum gegen Barnier: Wie geht es nach dem Regierungssturz weiter?

06.12.2024, Lesezeit 7 Min.
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Foto: European Parliament / flickr.com

In Frankreich zeichnen sich mehrere Szenarien ab, die mehr Instabilität und Autoritarismus verheißen.

Michel Barnier ist gestürzt. Zum ersten Mal seit 1962 wurde eine französische Regierung durch einen Misstrauensantrag abgesetzt. Alle Augen sind nun auf Präsident Emmanuel Macron gerichtet, der einen Ersatz für den Premierminister ernennen und eine Lösung für den Haushalt 2025 finden muss, der durch das Misstrauensvotum eingefroren wurde. Es zeichnen sich mehrere Szenarien ab, die auf instabilere, autoritärere und reaktionärere Zeiten hindeuten.

Macron hat zwar erklärt, er wolle so schnell wie möglich einen neuen Premierminister ernennen, doch die Spaltung des Parlaments macht seine Suche zu einem Hindernislauf. So könnte es sein, dass die Regierung Barnier für eine mehr oder weniger lange Zeit im Amt bleibt, um die „laufenden Geschäfte“ zu führen.

Die zurückgetretene Regierung könnte jedoch versuchen, dem Beispiel der früheren Regierung unter Gabriel Attal (Januar bis September 2024) folgend, die verschiedenen Haushaltstexte mithilfe eines verfassungsrechtlichen Tricks zu verabschieden. Obwohl die Regierung abgesetzt wurde, sind einige Verfassungsrechtler:innen der Ansicht, dass ein Misstrauensantrag nicht als „Ablehnung des Textes“ gilt. Der Verfassungsrechtler Benjamin Morel erklärt: „Das ist politisch sehr kompliziert, denn es bedeutet, dass eine Regierung, die durch ein Misstrauensvotum abgesetzt wurde, das Parlament ignoriert, um einen abgelehnten Haushalt durchzusetzen“. Vor allem käme dies einem rechtlichen Drahtseilakt gleich und würde einen weitaus härteren Machtgriff darstellen als jeder Einsatz des Artikels 49-3 [Anm. d. Redaktion: Ein bekannter Artikel der französischen Verfassung, der der Exekutive ein machtpolitisches Druckmittel zur Durchsetzung von Gesetzesvorhaben verleiht].  

Unter diesen Umständen ist es wahrscheinlicher, dass Macron versuchen wird, eine neue Regierung zu ernennen, um den Schaden zu begrenzen. Im Angesicht der zersplitterten politischen Fraktionen ist es unwahrscheinlich, dass er dies in Kürze erreichen kann. Zwei Monate hatte es damals gedauert, Barnier zu ernennen. Zunächst könnte der Präsident versuchen, einen neuen Premierminister zu finden, der sich die Gunst der extremen Rechten im Austausch für weitere rassistische Zugeständnisse erkaufen würde. In der Presse kursieren bereits mehrere Namen: Sébastien Lecornu, derzeitiger Armeeminister, der „bei den Abgeordneten des Rassemblement National (RN) gut angesehen“ ist, oder Bruno Retailleau, Innenminister und Architekt eines Einwanderungsgesetzes, das dem Programm der Rechten nachempfunden ist. In einem anderen Register erwägt die Tageszeitung Le Monde den liberalen François Bayrou, der sich „die Gunst von Marine Le Pen gesichert “ habe, als er sich hinter sie während eines vergangenen politischen Skandals stellte.

Eine andere Möglichkeit wäre die Ernennung einer technokratischen Expert:innenregierung, deren Aufgabe es wäre, sich um die laufenden Geschäfte zu kümmern. Es liegen bereits Namen von hohen Beamten auf dem Tisch: Thierry Baudet, Thierry Breton, ehemaliger EU-Kommissar, oder François Villeroy de Galhau. 

Denkbar wäre auch eine Koalitionsregierung, die von der sozialdemokratischen Parti socialiste (PS) bis zur konservativen Les Républicans (LR) reichen würde. Während sich in der PS die Idee eines Nichtangriffspakts mit den Konservativen durchsetzt, versucht Gabriel Attal von Macrons liberalkonservativer Renaissance Partei, einen Kompromiss zu finden, der die linke La France Insoumise und RN ausschließt. Nachdem die PS der Regierung Anfang der Woche einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben hat, wird man diese mögliche Neuformierung aufmerksam verfolgen müssen. Ein möglicher PS-LR-Block wäre jedoch fragil, da LR-Politiker Laurent Wauquiez bereits klargestellt hat, dass ein sogenannter „gemeinsamer Sockel“ nur für die Stützung von Michel Barnier gelte, während PS hingegen einen Premierminister fordert, „der die Werte der Linken teilt“.

In jedem Fall könnte die neue Regierung Zeit gewinnen, indem sie ein Sondergesetz vorschlägt, um die Ablehnung des Haushalts auszugleichen. Dieses ist in Artikel 45 des Organgesetzes über die Finanzgesetze vorgesehen und wurde zuletzt 1979 angewandt. Das würde es dem Staat ermöglichen, den Haushalt 2024 vorläufig zu verlängern, Steuern zu erheben und die Bezahlung der Beamten sicherzustellen, wobei die Zustimmung des Parlaments monatlich eingeholt werden müsste. Der sparsame Haushalt des Vorjahres würde somit teilweise umgesetzt, bis ein neues Haushaltsgesetz verabschiedet wird. Eine Lösung, die kaum Probleme beseitigen und die Finanzmärkte sicherlich nicht beruhigen würde.

Falls die Situation der Unregierbarkeit andauert und falls die Finanzmärkte beginnen, die hohe französische Staatsverschuldung abzustrafen, wird auch die Möglichkeit der Nutzung von Notstandsvollmachten diskutiert. Mit der Begründung, dass „die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die Integrität ihres Territoriums oder die Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen auf schwerwiegende und unmittelbare Weise bedroht sind und das ordnungsgemäße Funktionieren der verfassungsmäßigen öffentlichen Gewalten unterbrochen ist“, könnte Macron eine Notstandsregierung erklären. Die Zeitung des europäischen Finanzkapitals, die Financial Times, scheint bereits jetzt davon auszugehen, dass dies der beste Weg ist, die Situation zu lösen.

Durch die Auslösung eines solchen Artikels, der bisher nur einmal von General de Gaulle benutzt wurde, um den Algier-Putsch 1961 niederzuschlagen, würde Macron das Regime jedoch ins Ungewisse stürzen: Es wäre ein bonapartistischer Sprung, wie es ihn in der Geschichte der Fünften Republik noch nie gegeben hat. Sollte Macron diesen Weg wählen, könnte ihm seine schwindende Legitimität zum Verhängnis werden. 

Tatsächlich befindet sich der Präsident in einer äußerst fragilen Situation, und sein Rücktritt wird immer offener diskutiert. Als Zeichen für das Ausmaß der Krise wird diese Möglichkeit sogar innerhalb des „gemeinsamen Sockels“ von Jean-François Copé, Abgeordneter der LR, bis Charles de Courson, Abgeordneter der zentristischen Sammelpartei Libertés, indépendants, outre-mer & territoires, entwickelt. La France Insoumise ging sogar so weit, ein Schreiben an den Innenminister zu schicken, in dem sie die Modalitäten für die Organisation einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl forderte, während RN ebenfalls den Druck erhöht.

Auch wenn die Entwicklungen der Situation noch nicht absehbar sind, zeigen diese verschiedenen Hypothesen, welche Ressourcen der herrschenden Klasse noch zur Verfügung stehen, um die Situation in ihrem Sinne zu lösen. Ob das Regime die Krise löst, indem es seine Instrumente verschärft, um die Arbeiter für die Krise zahlen zu lassen, oder ob es sich der extremen Rechten annähert, indem es Marine Le Pen ein neues Einwanderungsgesetz oder andere rassistische Zugeständnisse gewährt – es ist dringend notwendig, dass die Arbeiter:innenbewegung die Krise aufgreift und ihr einen fortschrittlichen Ausgang verschafft.

Angesichts der reaktionären Auswege, die die herrschenden Klassen vorschlagen, ist klar, dass die Arbeiter:innen und die einfachen Bevölkerungsschichten von den Institutionen der Fünften Republik nichts zu erwarten haben. Angesichts der Sparmaßnahmen, der riesigen Entlassungspläne und der neuen Offensiven, die Macron oder seine neue Regierung durchführen werden, müssen die Massen ab sofort dem Regime mit einem allgemeinen und politischen Streik entgegentreten, um den Rücktritt Macrons und das Ende der Fünften Republik zu erzwingen.

Dieser Artikel erschien zunächst am 4. Dezember auf Révolution Permanente.

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