Minister der Reichen: Lindner will 20 Milliarden für Sozialausgaben kürzen

17.04.2023, Lesezeit 10 Min.
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Lindners angedrohte 20-Milliarden-Kürzung verändert den Charakter der Ampelregierung: Zu den Minireformen werden größere Angriffe auf die Sozialausgaben kommen. Der Streikfrühling muss die Antwort darauf sein.

„Nicht alles, was wünschenswert ist, kann sofort kommen.“ Im Interview mit der Mediengruppe Bayern machte Finanzminister Christian Lindner am vergangenen Mittwoch deutlich: Eine schnelle Einigung im Streit um die Kindergrundsicherung wird es nicht geben. Der Haushaltsstreit in der Ampelregierung schwelt schon seit Wochen.

Was das bedeutet, konkretisierte ein Bericht des Nachrichtenmagazins Spiegel: „Lindner will 20 Milliarden Euro sparen“. Informationen aus dem Bundesfinanzministerium zufolge plane Lindner ein solches Sparpaket in Form eines sogenannten Haushaltsbegleitgesetzes. Unangetastet bleiben sollen die Rüstungsausgaben – auf Kosten der Sozialausgaben, insbesondere im Arbeits- und Familienministerium.

Der brüchige Frieden innerhalb der Ampelkoalition ist damit unmittelbar in Frage gestellt. Schließlich wollen sich die Grünen mit ihrer Familienministerin Lisa Paus gerade mit der versprochenen Kindergrundsicherung vergeblich als soziale Kraft innerhalb der Bundesregierung darstellen. Und auch die SPD versucht, sich mit der Ankündigung ihres Arbeitsministers Hubertus Heil zu profilieren, den Mindestlohn anheben zu wollen. Wie Christian Lindner jedoch richtigerweise bemerkte, ist er dafür gar nicht zuständig. Die Mindestlohnkommission bekomme von ihm die Versicherung, „dass wir ihre Unabhängigkeit brauchen.“ Eine Politisierung der Lohnpolitik dürfe es in Deutschland nicht geben, so der Minister im Interview.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt sich die Frage: Wie stoppen wir Lindners Sparpläne?

Die „Fortschrittskoalition“ ist längst am Ende

Mit Lindners Ankündigung droht der Konflikt in der Regierung wieder aufzubrechen, der erst mit dem Koalitionsausschuss Ende März notdürftig beigelegt worden war. Robert Habeck hatte zuvor über den Vertrauensverlust innerhalb der Regierung geklagt. Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) sprach sogar schon von einer Regierungskrise.

Während der langwierigen Verhandlungen zwischen den Koalitionsparteien, bei denen der Klimaschutz im Zentrum stand, hatte Kanzler Olaf Scholz versprochen, es würden „sehr, sehr, sehr gute Ergebnisse“ herauskommen. Von guten Ergebnissen kann jedoch keine Rede sein. Der Naturschutzbund (Nabu) nannte sie vielmehr „schwer enttäuschend“. Zwar wurden Investitionen in die Bahn beschlossen, die durch eine Reform der LKW-Maut finanziert werden sollen. Jene Mehreinnahmen decken den Investitionsbedarf jedoch längst nicht. Im Gegenzug haben die Automobilultras von der FDP den schnelleren Ausbau des Autobahnnetzes zugesagt bekommen – eine Katastrophe für Klima und Umwelt. Der Meister der politischen Bauchschmerzen, Robert Habeck, kommentierte, darauf sei er „nicht stolz“.

Eine weitere Konterreform gegen das Klima betrifft die Ziele zur CO2-Einsparung in den einzelnen Ressorts. Diese sollen fortan nicht mehr verbindlich sein. Werden die Ziele in einem Sektor, also z.B. im Verkehr- oder Gebäudebereich, nicht erreicht, könnten sie in einem anderen ausgeglichen werden. Dabei handelt es sich ebenfalls um ein Zugeständnis an das FDP-geführte Verkehrsministerium, das seine CO2-Ziele deutlich verfehlt.

Im Streit um die Zukunft des Heizens war Robert Habeck zwischenzeitlich so dargestellt worden, als wollte er höchstpersönlich mit vorgehaltener Waffe alte Menschen zwingen, ihre Gasheizungen gegen Wärmepumpen einzutauschen. So wird es natürlich nicht kommen. Vielmehr ist es der FDP gelungen, eine Formulierung unterzubringen, nach der man „technologieoffen“ bleiben wolle. Es könnten also bald im Zeichen des Klimaschutzes absurderweise alte durch neue Gasheizungen ersetzt werden.

Nötig war die zähe Verhandlung überhaupt geworden, weil der Koalitionsvertrag der Ampelregierung kaum noch das Papier wert ist, auf dem er gedruckt steht. Der Ukrainekrieg und die Inflation haben zu viel verändert. Vor bald anderthalb Jahren als selbsternannte „Fortschrittskoalition“ gestartet, wagt heute in Regierungskreisen niemand mehr, diesen Begriff in den Mund zu nehmen. Zu weit ist die Realität vom einst formulierten Anspruch entfernt.
Umso mehr versuchen die Vertreter:innen der Ampel kleinere Reformen prominent aufzubauschen. Die Pläne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) für eine Cannabis-Legalisierung sind zwar jetzt endlich da, doch in deutlich abgeschwächter Form. Das Versprechen auf eine deutliche Steigerung des Mindestlohns war von Christian Lindner rasch relativiert worden.

Wie virulent der Streit innerhalb der Koalition tatsächlich ist, zeigte sich zuletzt auch bei der Abschaltung der letzten verbliebenen Atomkraftwerke. Als Kanzler Scholz vergangenen Oktober seine Richtlinienkompetenz eingesetzt hatte, um den Streit um den Weiterbetrieb der letzten verbliebenen Atomkraftwerke zu beenden, sorgte das für großes Aufsehen. Vom „Basta-Kanzler“ war damals in der FAZ die Rede. Am vergangenen Samstag war es dann tatsächlich soweit, die letzten AKW gingen endgültig vom Netz. Das hinderte jedoch den Chef der kleinsten Koalitionspartei nicht daran, noch einmal an der Entscheidung seines Chefs zu rütteln. Es sei bedauerlich, „dass es keine Mehrheit gibt dafür, die deutschen Kernkraftwerke mindestens in der Reserve zu halten.“ Als dann auch noch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder tönte, er wolle Isar 2 unter Regie des Freistaates selbst weiter betreiben, war das nur noch das absurde Nachspiel.

Olaf Scholz hat sein Kabinett nur notdürftig unter Kontrolle; er ist darauf angewiesen, ständig zwischen seinen Koalitionspartnern zu lavieren – zuletzt stärker zu Gunsten der angeschlagenen Liberalen. Die SPD selbst besitzt in den Debatten kaum Profil. Das jedoch kann für sie aber auch komfortabel sein. Denn der drohende Sparkurs wird so nicht direkt als ihr Werk wahrgenommen werden.

Lindners Kürzungsdrohungen kommen nicht aus dem Nichts. Zwar spült die weiterhin hohe Inflation stattliche Steuereinnahmen in die Kassen – doch längst nicht genug. Steuererhöhungen hat Lindner immer wieder rigoros ausgeschlossen. Dabei ist die wirtschaftliche Perspektive für den deutschen Imperialismus alles andere als rosig. Auch wenn sich die ökonomischen Folgen des Kriegs in der Ukraine abgeschwächt haben und sich die Energiepreise weitgehend normalisiert haben, kühlt sich die Weltwirtschaft weiter ab. Die zunehmende Instabilität drückte sich zuletzt in einer kleinen Bankenkrise aus. Auch Deutschland ist davon betroffen. So prognostiziert der Internationale Währungsfonds für dieses Jahr sogar eine leichte Rezession. Der fiskalische Balanceakt über dem Abgrund der Inflation, den auch die deutsche Wirtschaft meistern muss, besteht weiterhin darin, die Zinsen zu erhöhen, ohne die Realwirtschaft abzuwürgen.

Bedeutet das, dass wir uns nun auf ein Szenario einstellen müssen, in dem zu den ausbleibenden Reformen der Ampel auch Angriffe hinzukommen, die von den Massen unmittelbar als solche wahrgenommen werden? Die Gleichung ist einfach: Die Militärausgaben steigen, die Wirtschaft ist in der Krise, Steuererhöhungen sind ausgeschlossen – bleibt nur die Kürzung bei den Sozialausgaben. Die Arbeiter:innenklasse muss darauf eine Antwort finden.

Streiken gegen Kürzungen und Aufrüstung

Zu all dem inneren Zwist kam für die Bundesregierung auch ein Stressfaktor „von unten“: die Streiks im öffentlichen Dienst. Schließlich ist der Bund im öffentlichen Dienst als „Arbeitgeber“ in die Tarifauseinandersetzung verwickelt. Ein hoher Abschluss würde die finanziellen Querelen der Regierung weiter verschärfen.

Nun jedoch liegt erst einmal ein Ergebnis der Schlichtung auf dem Tisch. Für die Beschäftigten ist die Kombination aus Einmalzahlungen und geringen Lohnerhöhungen erst 2024 ein Schlag ins Gesicht. Dennoch wird der öffentliche Druck auf die ver.di-Führung groß sein, das Ergebnis anzunehmen. Allein dass es sich dabei um einen scheinbar neutralen Schlichterspruch handelt, verleiht dem Ergebnis innerhalb der sozialpartnerschaftlichen Normen große Legitimität getreu dem Motto: Mehr ist angesichts der Krise nicht drin. In den Streiks waren zahlreiche Neumitglieder in die beteiligten Gewerkschaften eingetreten. Die Bürokratie hat selbst ein gewisses Interesse daran, sie nicht sofort wieder zu desillusionieren. Ob sich die ver.di-Führung dazu gezwungen sieht, das Schlichtungsergebnis zu verwerfen und eine Urabstimmung zur Einleitung von Erzwingungsstreiks durchzuführen, wird aber daran liegen, wie groß der Druck ist, den die Basis auf sie aufbauen kann.

Zwar blieb das Streikgeschehen hierzulande deutlich hinter dem Ausmaß der Klassenkämpfe in Frankreich oder dem Vereinigten Königreich. Doch auch in Deutschland gingen die Streiks über die sterile Tarifroutine hinaus. Nicht nur waren sie quantitativ beachtlich und drückten damit deutlich den Unmut der Beschäftigten nach Jahren des Verzichts aus. Es kam dabei auch zu einer bemerkenswerten Annäherung zwischen den streikenden Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, etwa zur Klimabewegung oder der feministischen Bewegung am 8. März. Daraufhin entspann sich sogar in den bürgerlichen Leitmedien eine kleine Debatte über den politischen Streik. Auch dass ver.di und die Eisenbahngewerkschaft EVG gemeinsam streikten, ist keine Selbstverständlichkeit. Zuletzt rief die IG Metall für die kommende Tarifrunde in der Stahlindustrie sogar die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich aus.

Derweil kam es zuletzt zu einem für Deutschland gänzlich ungewöhnlichen Vorfall im Klassenkampf: Ein wilder Streik von osteuropäischen Fernfahrern wurde von paramilitärisch ausgerüsteten Streikbrechern gewalttätig angegriffen. Tatkräftige Unterstützung erhalten die Streikenden seither durch die DGB-Gewerkschaften, deren Bürokratie sich für prekäre migrantische Arbeiter:innen sonst eher wenig Interesse aufbringt. Dabei mag eine Rolle spielen, dass der Konflikt nicht als ein deutsches, sondern als ein importiertes Phänomen wahrgenommen wird. So gerät die dringend gebotene Solidarität mit den Streikenden allzu leicht zu einer Verteidigung gegen einen Angriff auf die friedlich-sozialpartnerschaftlichen Gepflogenheiten, inklusive Lob für das Eingreifen durch die Polizei. Nur: Ein gänzlich ausländisches Problem ist der Streik längst nicht. Denn das polnische Unternehmen fährt auch für große deutsche Handelsketten.

Trotz der neuen Elemente des Klassenkampfes und des Drucks von der Basis behält die Gewerkschaftsbürokratie die Situation jedoch vorerst im Griff. Symptomatisch hierfür war der enttäuschende Tarifabschluss bei der Post. Obwohl die Beschäftigten sich mit übergroßer Mehrheit nach dem Scheitern der Verhandlungen für einen Erzwingungsstreik ausgesprochen hatte, setzte sich die Bürokratie noch einmal mit den Bossen an einen Tisch und verhandelte minimale Verbesserungen nach – ein Szenario, das auch für den öffentlichen Dienst nicht ausgeschlossen ist.

Doch auch die Einleitung einer Urabstimmung allein wäre nicht genug. Angesichts von Lindners Drohungen müssen die Lohnrunden zu Streiks gegen jede Kürzung bei den Sozialausgaben und gegen die Aufrüstung werden. Freiwillig wird die Gewerkschaftsbürokratie diese Verbindung nicht herstellen. Entfaltet die Arbeiter:innenklasse wie in Frankreich auch gegen die bremsende Rolle der Bürokratie ihre Kraft, werden die bisherigen Probleme für die Regierung Scholz plötzlich ganz klein wirken.

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