„Mindestens zehn Mal hat sich die Polizei der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht“

16.01.2024, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Ayrin Giorgia

Wir veröffentlichen hier das Interview mit Alexander Klein, einem Demosanitäter aus Hamburg. Er hat die Eskalation der Polizeigewalt bei der LL-Demo am vergangenen Samstag aus nächster Nähe mitbekommen.

Hattet ihr im Vornherein mit einer derartigen Eskalation der Gewalt gerechnet?

Nein, mit so einer Eskalation haben wir nicht gerechnet, da es die letzten Jahre ruhig geblieben ist. Auch sollte man ja denken, dass sich die Polizei bei einer Gedenkdemonstration etwas zurückhalten sollte. Bei den Nazi-Aufmärschen heißt es immer, es sei nicht verhältnismäßig da einzugreifen, aber das sind ja auch Rechte.

Wie habt ihr den Anfang der Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrant:innen wahrgenommen?

Wir sind darauf aufmerksam geworden, als sich ein Teil der Demo umgedreht hat und angefangen hat, in die andere Richtung zu laufen. Uns wurde dann mitgeteilt, dass es Verletzte geben soll und wir uns beeilen sollen, was wir dann auch getan haben. Sofort haben wir Polizist:innen gesehen, die wild um sich geschlagen haben und ohne Rücksicht auf Verluste einfach immer wieder in die Menge geschlagen und Pfefferspray eingesetzt haben.

Wie habt ihr die darauf folgende Eskalation wahrgenommen?

Die Polizei war überfordert. Durchgehend sind sie einfach plötzlich in die Menge gelaufen und haben Leute geschlagen. Auch Menschen, die auf dem Fußweg waren, wurden immer wieder umgeschubst ohne Grund. Die Polizei hat nie Anstalten gemacht zu gucken, ob jemand, den sie geschlagen hat, verletzt ist. Auch bei den Leuten, die umgefallen sind, hat die Polizei nichts gemacht und ist immer einfach weitergegangen.

Was war für euch auffällig am Verhalten der Polizei?

Die Polizei hat wahllos einfach auf die Leute eingeschlagen. Unsere Sanitäter:innen standen neben Genoss:innen und die Polizei ist auf sie zugerannt und hat einfach in die Menge geprügelt in der Hoffnung, irgendwen zu treffen. Auch wurden einfach Leute von Polizist:innen geschlagen und rausgezogen. Die Polizei meinte auch, mit vier Mann auf eine Person springen zu müssen. Auch mussten wir beobachten, wie ein Polizist bewusst und voller Freude einer Person vier Mal in die Leber geschlagen hat.

Welche Folgen hatte die Polizeigewalt?

Polizeigewalt hat viele unterschiedliche Auswirkungen auf Personen. Es fängt an, dass die Menschen Angst vor der Polizei bekommen (die sie ja angeblich beschützen soll). Langfristige psychologische Nachbetreuung ist häufig notwendig. Polizeigewalt sorgt auch dafür, dass sich Genoss:innen zurückziehen und sich nicht mehr trauen, politische Arbeit zu machen. Auch sorgt Polizeigewalt dafür, dass Betroffene Angst vor Menschen bekommen oder Sozialphobien entwickeln.

Konntet ihr ungehindert arbeiten? Wenn nein, wieso?

Nein, leider nicht. Die Berliner Polizei hat nach unserer Auffassung bewusst dafür gesorgt, dass Verletzte nicht rechtzeitig behandelt werden konnten. Nachdem ein älterer Herr durch die Polizei umgeschlagen wurde, blieb dieser auf dem Boden regungslos liegen. Anstatt sich um diese offensichtlich verletzte Person zu kümmern, stützte sich ein Polizeibeamter auf den Oberkörper des Verletzten ab, um aufzustehen. Auch meinten Polizeibeamte, als wir den Verletzten angefangen haben zu behandeln, andere Menschen wegschubsen zu müssen. Diese wurden direkt zu uns gedrängt und konnten auch nicht ausweichen. Zwei Polizeibeamte sind in unseren Rettungsrucksack getreten und haben einfach weitergemacht, als sei nichts passiert. Mehrmals wurden Polizeibeamte durch einen Rettungssanitäter aufgefordert, einen Rettungswagen und einen Notarzt anzufordern (acht Mal, um genau zu sein), was immer abgelehnt wurde mit der Begründung, dass sie keine Zeit haben und wir abhauen sollen. Die Polizei meinte auch, direkt neben uns Pfefferspray einsetzen zu müssen. Als ich weiter Rettungswagen anfordern wollte, habe ich Zivilpolizisten mit Warnweste angesprochen, dass sie bitte zwei Rettungswagen anfordern sollen. Deren Antwort war: „Sehen Sie, was auf der Weste steht: Da steht Polizei und nicht Feuerwehr und ihr seid ja da“. Mindestens zehn Mal haben sich Polizist:innen der unterlassenen Hilfeleistung nach Paragraph 323c des Strafgesetzbuchs schuldig gemacht. Selbstverständlich sind hier keine Strafen zu erwarten, da sie ja eh machen, was sie wollen.

Habt ihr in letzter Zeit eine Verschärfung von staatlichen Repressionen wahrgenommen? Sowohl gegenüber linken Strukturen im Allgemeinen, aber auch konkret auf Demos und gegen euch als Rettungskräfte?

Ja, die Polizei versucht unsere Arbeit zu kriminalisieren. Egal ob durch langgezogene juristische Maßnahmen oder direkte Einschüchterung. In Eisenach wollte die Polizei Thüringen einem unserer Kollegen in die Unterhose gucken, weil sie meinten, man könnte dort Sachen verstecken. Generell denken wir, dass die Polizei uns bewusst zu schwächen versucht, zum Beispiel indem sie unnötige Gerichtsverfahren wie im Jahr 2022 einleiten. Wir konnten alle vier für uns gewinnen. Insgesamt merkt man einen sehr hohen Verfolgungsdruck gegen linke Strukturen. Bei 750 Nazis ist ein Haftbefehl offen und da gibt es keine Öffentlichkeitsfahndungen…

Gerade zu Silvester wurde wieder propagiert, dass die Blaulichtorganisationen Seite an Seite stehen und Polizei wurde mit Rettungsdienst und Feuerwehr auf eine Stufe gestellt. Bei der Demo am Sonntag zeigte sich aber, dass die Polizei ganz anders als Rettungsdienste und Feuerwehr auftritt. Was sind eure Gedanken dazu?

Das ist ein unverschämter Versuch, alle als eine Familie abzustempeln. Auch soll das dazu dienen, dass die Polizei nicht mit Kritik konfrontiert ist und das auch auf Rettungsdienst und Feuerwehr übertragen wird. Zurecht sind der Rettungsdienst und die Feuerwehr hoch angesehen in der Gesellschaft. Die Polizei versucht, diese Stimmung einzufangen und sich damit auf eine bessere Stufe zu stellen. Eigentlich müsste man sich als Rettungsdienst und Feuerwehr von so etwas distanzieren.

Wie seid ihr im Netzwerk organisiert?

Wir sind ein Netzwerk und haben ausschließlich Rettungssanitäter:innen, Notfallsanitäter:innen und Krankenschwestern im Netzwerk.

Ihr begleitet linke Demos bundesweit, wie schafft ihr das?

Wir arbeiten zu 100 Prozent ehrenamtlich und machen das neben unserem Hauptberuf im Rettungsdienst und/oder im Krankenhaus. Wenn es eine Anfrage gibt, prüfen wir, ob die zeitliche Möglichkeit für uns dort hinzufahren besteht. Wenn die Zeit es zulässt, reisen wir auch mit den Gruppen dorthin, wo das Ziel ist oder die Demonstration stattfinden soll. Dadurch ist unser Einsatzgebiet ganz Deutschland und es kann auch mal sein, dass wir von Hamburg nach München fahren. In der Regel wünschen sich die Gruppen, dass Sanitäter:innen bei An- und Abreise dabei sind, gerade wenn es um Einsätze außerhalb Hamburgs geht, um auch während der Fahrt eine Sicherheit zu haben, falls es Genoss:innen nicht gut geht. Für all das verlangen wir selbstverständlich kein Geld. Die Reisekosten und Unterkunft tragen wir immer selber. Auch muss die Demonstration eine linke Ausrichtung haben. Wir sichern keine Veranstaltung oder Demonstration der gesellschaftlichen Mitte ab. Ausnahmen bilden nur Organisationen, die sich für sozial schwache Kinder und Jugendliche einsetzen.

Kann man euch (finanziell) unterstützen?

Ja, wir haben hohe monatliche Kosten, die aktuell alleine durch einzelne Personen getragen werden. Da wir auf Demonstration kostenlose Sanitätsdienst anbieten, sind wir auf Spenden angewiesen. Anreise und Unterkunft müssen bezahlt werden. Auch die Ausrüstung, die immer auf dem aktuellen Stand ist, muss bezahlt und finanziert werden. Aktuell benötigen wir 3500 Euro, um vernünftige Jacken für unsere Einsatzkräfte zu kaufen. Auch benötigen wir nach vier Jahren neue Helme. Man kann uns per Spende unterstützen!

Spenden an das Sanitätsnetzwerk Hamburg

PayPal: @Sanhh1

Bankkonto: Sanitätsnetzwerk Hamburg / DE 18 2004 0000 0105 4402 00

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