Migrationsregime: Erneuerung durch Zwang
Die Ampelregierung wirbt Fachkräfte an und schiebt Geflüchtete ab. Die Arbeiter:innenklasse muss die rassistische Spaltung überwinden. Eine Brücke bildet die Einheitsfront.
Olaf Scholz gilt inzwischen als Abschiebekanzler, der sein „im großen Stil Abschieben“ in die Tat umsetzt. Gleichzeitig vereinbart er mit mehreren Ländern ein Anwerbeabkommen, um Fachkräfte zu gewinnen. Auch wenn diese Praxis auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, steht dahinter die Absicht, die Migrationsbewegung nach Deutschland zu regulieren, das heißt das Migrationsregime zu erneuern. Die Ampelregierung will nur „nützliche“ Migrant:innen haben. Dadurch geraten Geflüchtete in einen Zustand der Segregation.
Die Funktion des Migrationsregimes
Wir müssen uns mit dem Migrationsregime auseinandersetzen, um die Interessen hinter der aktuellen Agenda der Bekämpfung von „irregulärer Migration“ zu verstehen. Denn das Migrations- und Asylregime in Deutschland ist eng miteinander verwoben. Es handelt sich um ein System der Ungleichheit vor dem Gesetz und von Einkommen, der chauvinistischen Verordnungen der Regierungen der Länder und im Bund, der bürokratischen Praxen in der Verwaltung und der Polizei, der bürgerlichen demagogischen Berichterstattung und der rassistischen Überlegenheit.
Sandro Mezzadra, Politologe und Professor für politische Wissenschaft an der Universität Bologna mit dem Schwerpunkt Globalisierung und Migration, vertritt eine Sicht auf das Migrationsregime, wonach es sich nicht nur auf die Kontrolle von Migrant:innen konzentriert, sondern auch auf deren wirtschaftliche Eingliederung in ein globales System:
Es ist offensichtlich, dass ein solches Migrationsregime – auch wenn zu seinen eher unmittelbaren Auswirkungen die Befestigung der Grenzen und die Verfeinerung der Internierungs- und Abschiebemaschinerie gehören – nicht auf die Exklusion der Migrantinnen und Migranten zielt, sondern darauf, die Momente des Überschusses (also der Autonomie), die für die Migrationsbewegungen heute charakteristisch sind, zu verwerten, auf ihre ökonomische Dimension zurückzuführen und so auszubeuten: Das Ziel lautet, mit anderen Worten, gewiss nicht, die Grenzen der ‚reichen Länder‘ hermetisch zu schließen, sondern ein System von Sperren zu errichten, das letztlich (um es mit den Worten des US-amerikanischen Forschers Nicholas De Genova zu sagen) dazu dient, ‚einen aktiven Prozess der Inklusion migrantischer Arbeit durch ihre Klandestinisierung‘ zu produzieren.
Mezzadra argumentiert, dass das Migrationsregime nicht primär auf die vollständige Exklusion von Migrant:innen abzielt, sondern vielmehr darauf, ihre Mobilität zu kontrollieren und ihre Arbeitskraft zu verwerten. Klandestinisierung bedeutet, dass migrantische Arbeiter:innen beispielsweise in prekäre und rechtlich unsichere Positionen gedrängt werden, was ihre Ausbeutung erleichtert.
Das deutsche Migrationsregime ist darauf ausgerichtet, durch Fachkräfteanwerbeabkommen die Zuwanderung von Fachkräften zu organisieren und dabei das Asylrecht restriktiv zu regulieren. Die Ampelregierung steht vor der großen Herausforderung, die Problematik des Fachkräftemangels, der eine essentielle Bedeutung für die imperialistischen Ambitionen und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Kapitalist:innen hat, zu lösen. Doch gleichzeitig diszipliniert die Ampelregierung die Lebens- und Arbeitsstandards der Migration, was eher als Push-Faktor eingeordnet wird. Dabei geht es um folgende Logik: Sie setzt nicht auf Quantität, sondern siebt die migrantischen Arbeiter:innen aus und teilt sie in nützliche und unnützliche, qualifizierte oder unqualifizierte Geflüchtete oder Fachkräfte ein.
Nach Mezzadra ist das Migrationsregime „geprägt durch das Zusammenwirken von Nationalstaaten (die immer weniger als exklusive Akteure auftreten und genau dadurch ihr Beharrungsvermögen auf der Bühne der ‚Globalisierung‘ zeigen), ‚post-nationalen‘ Gebilden wie der Europäischen Union, neuen globalen Agenturen wie der International Organization for Migration (IOM) und so genannten Nichtregierungsorganisationen (NGO), die ‚humanitäre‘ Ziele verfolgen.“
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Wechselwirkungen zwischen (inner-)staatlichen (zum Beispiel der EU) und nicht-staatlichen Akteuren zu untersuchen. Denn sie begegnen sich nicht auf Augenhöhe. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) veranlasste beispielsweise an allen deutschen Grenzen umfangreiche Kontrollen, obwohl diese Herangehensweise gegen das EU-Recht verstößt. Doch der deutsche Staat kann sich praktisch über das geltende Recht hinwegsetzen, um mit autoritären Maßnahmen sein Vorrecht zu behaupten.
Auch die Rolle von NGOs ist ziemlich beschränkt. NGOs oder auch die IOM sind von finanziellen Zuwendungen der Nationalstaaten abhängig, was ein strukturelles Ungleichgewicht schafft. Diese Abhängigkeit führt dazu, dass NGOs ihre Handlungsstrategien anpassen, weshalb sie keine unabhängigen oder gleichberechtigten Verhandlungspartner sein können. Im Gegenteil fungieren die NGOs nach der Theorie des erweiterten Staates1 als Werkzeuge des Staates, um bestimmte Agenden zu legitimieren oder die Verantwortung für soziale Probleme zu delegieren. Während im Sommer 2015 die NGOs an vorderster Front standen, um die Geflüchteten willkommen zu heißen, stehen sie heute während der Abschiebeoffensive ideenlos da, da ihr Assistenzialismus2 über den Schutz vereinzelter Geflüchteter nicht hinausreicht. Der Assistenzialismus ist weit davon entfernt, nachhaltige Lösungen zu finden. Es entstehen materielle Abhängigkeiten und asymmetrische Beziehungen, die die Geflüchteten in dem Fall auf Dauer in eine passive Rolle drängen. Diese Feststellung gehört unter anderem zur Bilanz der Refugee-Bewegung in Deutschland, die insbesondere zwischen 2013-2016 bundesweit in mehreren Städten in unterschiedlichen Formen (Protestcamp, Hungerstreik, Demonstrationen, Besetzungen) gekämpft hat. Auf dem Höhepunkt haben sie temporäre Errungenschaften erzielt wie die Abschaffung von Essenspaketen und Residenzpflicht, die allerdings später wieder eingeführt wurden.
Obwohl die Anzahl der Geflüchteten nicht überproportional steigt (ausgenommen davon sind die ukrainischen Geflüchteten), wächst der politische Druck, insbesondere ausgeübt durch CDU/CSU und AfD, mehr abzuschieben. Diese machen das Thema Migration und Asyl zu einem zentralen politischen Streitpunkt und fordern Verschärfungen im Umgang mit den Geflüchteten.
Asylkompromiss damals und heute
Als 1992/93 unter dem Schlagwort „Asylkompromiss“ das Asylrecht durch die Einführung der Regelung über sichere Herkunftsstaaten praktisch entkräftet wurde, gab es ähnliche Zustände in Deutschland wie heute, wenngleich diese heutzutage mitunter einen anderen Ausdruck finden.
In den frühen 1990er Jahren eskalierte die faschistische Gewalt in Deutschland, als Neonazis vermehrt Brandanschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten und Gewalt gegen Migrant:innen verübten. Statt entschieden gegen diese Gewalt vorzugehen, sprach die damalige CDU-geführte Regierung unter Helmut Kohl vom Missbrauch des Asylrechts und verabschiedete mit Unterstützung der SPD den sogenannten Asylkompromiss. Dieser führte zu einer Änderung des Grundgesetzes, die das Recht auf Asyl massiv einschränkte. Mit dem neuen Artikel 16a wurde Geflüchteten, die über sogenannte „sichere Drittstaaten“ nach Deutschland kamen, das Recht auf Asyl verweigert (das sogenannte Dublin-Verfahren). Diese Einschränkung war faktisch eine Aushebelung des Asylrechts, da Deutschland fast ausschließlich von sicheren Drittstaaten umgeben ist. Die Folge war, dass ein Großteil der Asylsuchenden kaum noch Chancen auf ein faires Verfahren hatte. Zudem wurden beschleunigte Asylverfahren wie Flughafenverfahren eingeführt, um Abschiebungen schneller durchzuführen. In gewisser Weise kann man sagen, dass Deutschland die Verantwortung für den Schutz von Geflüchteten an „sichere Drittstaaten“ delegiert hat, indem es faktisch von der Pflicht entbunden wurde, Asylanträge zu prüfen, wenn die betreffende Person bereits in einem anderen Land Schutz hätte suchen können.
Dieser „Kompromiss“ markierte nicht nur einen tiefen Einschnitt in das deutsche Asylrecht, sondern hatte auch weitreichende Konsequenzen für den Schutz von Geflüchteten und den gesellschaftlichen Umgang mit Migration. Drei Tage nach dem sogenannten Asylkompromiss wurde der Brandanschlag in Solingen verübt. Es war eine Phase des rechten Terrors, dem dokumentierten Berichten zufolge in den Jahren 1990-93 insgesamt 58 Menschen zum Opfer gefallen sind.3
Der rechte Terror hat eine Kontinuität bis heute – hunderte Brandanschläge auf die Unterkünfte von Geflüchteten, die rassistischen Anschläge in Hanau und am OEZ in München, der NSU-Terror und so weiter. Die Angriffe auf Geflüchtete haben 2023 das Niveau von 2016 erreicht, da der Aufstieg der AfD und Verschärfungen der demokratischen Rechte der Migration (insbesondere des geflüchteten Teils davon) die Nazis zum Terror motivieren. Im Vergleich zu 2016, wo im Jahr 995 Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte dokumentiert wurden. In 2024 sind die dokumentierten Angriffe auf ungefähr die Hälfte gesunken, was damit zusammenhängt, dass die Ampelregierung selbst den Forderungen der Rechten entgegenkommt. Es werden bis heute immer wieder Kompromisse mit den Ultrarechten in Deutschland und Europa gemacht: Polizeiaufgabengesetze, restriktive Migrationspakete, Integrationsgesetze, Abschiebungen und die neuen Asylreformen stehen in einer Kontinuität. In Deutschland bedeutet dies faktisch, dass man sich programmatisch den Positionen der Rechten annähert, während gleichzeitig eine politisch-organisatorische Distanz gewahrt wird. So wird, unter dem Deckmantel der Krisenbewältigung im Sicherheitsbereich, eine restriktive Agenda durchgesetzt, die ultrarechte Positionen gesellschaftlich salonfähig macht, ohne eine direkte politische Allianz einzugehen. Dass die Zahl an Angriffen sich halbiert hat, bedeutet nicht übrigens, dass es wenige Angriffe gegen Geflüchtete gibt, weil es hunderte sind. Wenn die Geflüchteten schutzlos dastehen, freuen sich zuallererst die Faschist:innen, die von Pogromen phantasieren.
Der Asylkompromiss von 1993 war ein Generalangriff mit der Folge der Aussetzung des Asylrechts. Heute geht es darum, dessen Inhalt möglichst effizient umzusetzen. SPD und Grüne haben in ihrer Regierungsphase den Asylkompromiss von 1993 auf ein höheres Niveau gebracht, da sowohl auf europäischer als auch bundesweiter Ebene weitere Angriffe auf das Asylrecht durchgeführt wurden. Die Abschiebungen nach Afghanistan und die Abschottung durch Grenzkontrollen gegen sogenannte irreguläre Migration sind Beispiele dafür. Scholz hat zwar im Zuge der Zeitenwende eine restriktivere Migrationspolitik als Merkel geführt; allerdings folgt er ihrer Linie, die eine Reihe von Deals mit „sicheren Herkunftsstaaten“ vereinbart hat, um die Abschottung zu garantieren. Ähnlich wie Merkel damals hat Scholz einen neuen Deal mit Erdogan vereinbart, um die Grenzkontrollen zu stärken und mehr Abschiebungen in die Türkei vorzunehmen.
Die Entrechtung der Geflüchteten hat zur Folge, dass sie in einer de facto Segregation leben.
Geflüchtete erfahren Segregation
Auch wenn die Segregation in Deutschland nicht durch gesetzliche Vorschriften wie die „Rassentrennung“ in den USA4 festgelegt ist, entsteht sie eher durch strukturelle, soziale und ökonomische Barrieren. Die historischen Erfahrungen der Jüd:innen im faschistischen Deutschland und durch Ghettoisierungen, schwarzen Bevölkerung in den USA und in Südafrika sowie der Palästinenser:innen unter Apartheid machen höhere Stadien der Segregation aus, deren materielle Bedingungen in Deutschland noch nicht gegeben sind. Die Form der Segregation in Deutschland ist oftmals das Ergebnis von Faktoren wie Ausgrenzung am Arbeits- und Wohnungsmarkt, mangelnden Sprachkenntnissen und institutionellen Regelungen.
Das Lagersystem und die Residenzpflicht5 führen zu einer Konzentration von Geflüchteten in bestimmten Wohngebieten und sozialen Räumen, was einer Segregation ähnelt, da die Trennung den Alltag bestimmt. Die Geflüchteten müssen mit Sanktionen rechnen, wenn sie sich beispielsweise in die nächste Stadt bewegen.
Anfang April 2024 stimmte der Bundestag einer Gesetzesänderung zu, die die Einführung sogenannter Bezahlkarten für Geflüchtete vorsieht, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) beziehen. Diese Bezahlkarten, die in den Bundesländern eingeführt werden sollen oder bereits eingeführt wurden, ersetzen Bargeldleistungen. Die Bezahlkarten-Maßnahme verschärft die soziale Ausgrenzung von Geflüchteten, denn ihre Selbstbestimmung, Mobilität und Flexibilität im Alltag werden dadurch eingeschränkt. Zur Segregation gehört die erzwungene Deklassierung durch das Arbeitsverbot, die zentralisierte Einsperrung in den Lagern mit Residenzpflicht und die systematische Abschiebung.
Geflüchtete machen die am meisten entrechtete und unterdrückte Schicht der Arbeiter:innenklasse aus, die zwar einer erzwungenen Deklassierung ausgesetzt ist, dennoch aber, meistens unter illegalisierten Verhältnissen, ihre Arbeitskraft verkauft. Beispielsweise müssen geduldete Personen eine Erlaubnis beantragen, um arbeiten oder eine Ausbildung beginnen zu können. Diese Genehmigung wird jedoch häufig verzögert oder abgelehnt. Für die Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern gelten oft pauschale Arbeitsverbote. Nach Paragraf 5 des Asylbewerberleistungsgesetzes von 1993 können Asylsuchende zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet werden. Für solche Tätigkeiten erhalten sie lediglich 80 Cent pro Stunde, was de facto einem Sklavenverhältnis entspricht. Wenn sie dies ohne triftigen Grund ablehnen, drohen ihnen Kürzungen der Leistungen. Die Illegalisierung ihrer Arbeitskraft verschärft ihre Ausbeutung, da sie keine rechtlichen Schutzmechanismen haben und häufig Löhne weit unter dem Mindestlohn bekommen.
Abhängig von der Migration in Bezug auf den Fachkräftemangel, klammert die Ampelregierung die Asylfrage davon aus. Demnach seien Geflüchtete eher potentielle Gefährder, die man mit Sanktionen wie Arbeitsverboten, Duldung und Einsperrung in den Lagern jenseits der gesellschaftlichen Alltags versieht. Die Mehrheit der Geflüchteten, die mit einer Duldung oder unter noch schlimmeren Bedingungen leben, bleiben vom Fachkräfteeinwanderungsgesetz ausgeschlossen.
Migrationspolitik: Wenn Nützlichkeit über Menschenrechten steht
Die Migrationsforscherin Naika Foroutan hat im September für die Süddeutsche Zeitung einen Gastkommentar zur aktuellen Migrationspolitik geschrieben. Sie stellt darin richtigerweise fest, dass Geflüchtete nicht die Ursache der Überlastung von Städten und Kommunen sind, sondern der staatliche Strukturabbau und die Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst ab 2009, die zu mangelnden Investitionen und einer Schwächung der Handlungsfähigkeit von Städten und Kommunen geführt haben. Im Gegenteil: Die deutsche Wirtschaft braucht angesichts der Engpässe unter Fachkräften immer mehr Zuwanderung, um wettbewerbsfähig zu bleiben, worauf Foroutan ebenfalls hinweist. Das eigentliche Problem sei, dass „während […] im Hintergrund entscheidende Anwerbeabkommen stattfinden, […] vorne die Abwehrrhetorik verschärft [wird]. Mit dieser unehrlichen Kommunikation kann der Zulauf der AfD nicht reduziert werden. Aber auch der Teil der Bevölkerung, der sich bewusst ist, dass Deutschland ohne Einwanderung dem Niedergang entgegensteuert, wird verunsichert und wendet sich ab.“
Foroutans Argument reduziert die Frage der Migration jedoch auf ein ökonomisches Bedürfnis des Staates, um gegen die rechte Demagogie eine Position zu beziehen. Diese Argumentation macht Fehler auf zwei unterschiedlichen Ebenen.
Zum einen bedeutet die Abschottungspolitik gegenüber den Geflüchteten nicht, dass der deutsche Staat den Bedarf an Arbeitskräften und den demographischen Wandel unter den Arbeiter:innen irrationalerweise leugnen und sich von der Welt abkapseln würde. Es entsteht vielmehr ein Nützlichkeitsrassismus. Das Migrationsregime wird periodisch erneuert, um eine „möglichst kapitalfreundliche Steuerung und Kontrolle von Migration zu ermöglichen.“ Die Folgen des Fachkräftemangels haben auch Merkel lange beschäftigt. Auch während ihrer Legislaturperioden gab es immer wieder Versuche, den Fachkräftemangel durch Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften zu lösen.
Es gibt die utilitaristische Sichtweise6 auf Arbeitsmigrant:innen, da der Fokus vorwiegend auf den wirtschaftlichen Nutzen gelegt wird, den sie durch ihre Arbeitskraft für das Zielland, also dessen Wohlstand, erbringen. Foroutan fördert diese Perspektive in ihrem Gastkommentar, auch wenn sie eine demokratische Kritik ausübt. Das Wohl der Gesellschaft wird in dieser Sichtweise durch die Effizienz und Produktivität der Arbeitsmigrant:innen maximiert. Sie sind ein Mittel zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele. Ihre kulturellen, persönlichen und politischen Bedürfnisse und die langfristige soziale Teilhabe treten in den Hintergrund, da der Wert ihres Daseins auf den ökonomischen Beitrag reduziert wird.
Zum anderen ist diese Logik versöhnlich dem imperialistischen Kurs gegenüber, zu günstigen Bedingungen die besten Fachkräfte aus den abhängigen oder halb-kolonialen Ländern an sich zu reißen, um die Länder weiter abhängig zu halten. Die Ampelregierung reagiert auf den Fachkräftemangel, indem sie das „modernste Einwanderungsrecht der Welt“ entwickeln möchte. Das alles ist nicht dem Demokratiewillen geschuldet, sondern dient dazu, deutsche Konzerne wettbewerbsfähig zu halten. Laut einer Studie des Institut der deutschen Wirtschaft gibt es einen immer weiter steigenden und auf mehrere Bereiche expandierenden Fachkräftemangel. Vor Kurzem wurde öffentlich, dass mit Kenia ein Migrationsabkommen vereinbart wurde, um Fachkräfte zu gewinnen und Abschiebungen von nicht akzeptierten Teilen zu erleichtern. Bei dem Abkommen ist die Bourgeoisie insbesondere an Arbeiter:innen aus dem MINT-Bereich interessiert, da Kenia eine gewisse Vorbildfunktion im Umgang mit erneuerbaren Energien innehat und junge Fachkräfte durch höhere Löhne (im Vergleich zum Lohn in Kenia) angeworben werden sollen. Ein ähnliches Abkommen hat Deutschland auch mit Indien, Georgien, Marokko und Kolumbien. Künftig werden noch Moldau, Ghana und Kirgisistan folgen. Um den Personalmangel in der Pflege zu beheben, haben Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mit der brasilianischen Regierung eine Absichtserklärung unterzeichnet, um brasilianische Fachkräfte nach Deutschland zu holen. In der letzten Legislaturperiode der Großen Koalition (GroKo) gab es eine ähnliche Vereinbarung mit Mexiko. Des Weiteren gibt es noch Partnerschaften mit Bosnien und Herzegowina, den Philippinen, Indien und Tunesien. Das ganze läuft unter dem Label „Make it in Germany“.
Dies stellt eine gewöhnliche imperialistische Herangehensweise dar, um die Länder aus dem Weltmarkt herauszudrängen und ihnen die besten Arbeitskräfte abzuwerben.
Foroutan misst den demographischen Faktoren beim Fachkräftemangel eine zentrale Bedeutung bei. Diese Perspektive greift jedoch zu kurz, da die eigentlichen Ursachen des Fachkräftemangels tiefer in den sozioökonomischen Strukturen des Kapitalismus verwurzelt sind. Die gegenwärtige Problematik resultiert weniger aus einer angeblich natürlichen Folge demographischer Entwicklungen, als vielmehr aus den bestehenden Machtverhältnissen und der ungleichen Verteilung von Ressourcen. Niedrige Löhne und prekäre Arbeitsbedingungen in vielen Sektoren, insbesondere im Bereich der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, führen dazu, dass Arbeitskräfte abwandern oder nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Ein Ansatz, der stattdessen auf die Enteignung kapitalistischer Produktionsmittel und eine planmäßige Wirtschaftsgestaltung setzt, könnte die Verteilung der notwendigen Arbeit gerecht organisieren. Dies würde ermöglichen, die gesellschaftlich erforderliche Arbeit auf alle zu verteilen und so den vermeintlichen Fachkräftemangel aufzulösen. Eine Übergangsforderung, die Klasseneinheit wiederherstellen kann, ist die Arbeitszeitverkürzung, das heißt “Aufteilung der Gesamtzahl der Arbeitsstunden unter der Gesamtzahl der Arbeiter:innen (gleitende Lohn- und Arbeitszeitskala)“ (Trotzki, Diskussion zum Programmentwurf des Übergangsprogramms, 1938). Eine Verkürzung der Arbeitszeit wird erst dann für die arbeitende Bevölkerung Früchte bringen, wenn sie bei vollem Lohn- und Personalausgleich, Entlassungs- und Schließungsverboten organisiert wird.
Die Unterschichtung
Mezzadra erarbeitet das Konzept der Autonomie der Migration, das die aktive Rolle von Migrant:innen in den globalen Migrationsprozessen betont und sich von der Vorstellung distanziert, dass Migration nur durch äußere Zwänge wie Armut oder Krieg gesteuert wäre. Es geht darum, Migration nicht nur als Ergebnis von staatlichen Regelungen zu sehen, sondern als eigenständigen, aktiven Prozess, der von den Migrant:innen selbst geprägt wird:
Ich glaube, dass die Reaktion der MigrantInnen auf die globale Wirtschaftskrise einen wichtigen Aspekt zeitgenössischer Migrationsbewegungen zeigt, die sie von anderen historischen Bewegungen unterscheidet: ihre extreme Flexibilität, ihre große Fähigkeit, auf veränderte ökonomische, soziale und politische Gegebenheiten zu reagieren und sich ihnen anzupassen. […] Was ich damit sagen will, ist, dass die Reaktionen der MigrantInnen auf die Krise zeigen, dass diese nicht passive AkteurInnen, keine ‚toten Körper‘ sind, die durch die objektiven Dynamiken des Kapitalismus mobilisiert werden. MigrantInnen sind aktive Subjekte, die eine Rolle spielen in der andauernden Umgestaltung der sozialen Beziehungen, welche den Kapitalismus ausmachen.
Wie Mezzadra darlegt, zeigt die Migrationsbewegung eine enorme Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Doch er betont die individuelle Entscheidung übermäßig. Migration ist kein isoliertes Phänomen; die Entscheidung zu migrieren, ist in vielen Fällen nicht das Ergebnis individueller Wahlfreiheit, sondern vielmehr eine Reaktion auf strukturelle Zwänge. Kriege, die häufig durch geopolitische Interessen und die Einmischung imperialistischer Staaten ausgelöst oder verschärft werden, zwingen Menschen zur Flucht, da ihre Lebensgrundlage zerstört wird. Politische Verfolgung wiederum resultiert oft aus autoritären Regimen, die unter anderem von imperialistischen Mächten unterstützt werden. Wirtschaftliche Abhängigkeit und Arbeitsplatzmangel in den abhängigen und (halb-)kolonialen Ländern sind das Ergebnis von ungleichen Handelsbeziehungen, erzwungenen neoliberalen Strukturanpassungsprogrammen und der Ausbeutung von natürlichen und personellen Ressourcen durch multinationale Konzerne, die den wirtschaftlichen Spielraum dieser Länder massiv einschränken. Diese Umstände sind das Resultat eines Systems, das auf Profitmaximierung aus ist, ohne Rücksicht auf die Lebensbedingungen der Menschen zu nehmen.
Mezzadra spricht den migrantischen Arbeiter:innen eine protagonistische Subjektrolle zu, durch die sie mit ihren Kämpfen die politische Ordnung erschüttern könnten. Dementsprechend misst er in seiner politischen Orientierung der Arbeit größte Bedeutung bei, „[…] da Migrationspolitiken (und die Bedingungen von MigrantInnen) nach wie vor hauptsächlich durch die Bestrebungen beeinflusst und bestimmt sind, Arbeitsmigration zu regulieren – mit der Konsequenz, dass die Arbeitssituation von MigrantInnen die Basis für ihren Zugang zu Rechten ist.“
Aufgrund der rassistischen Unterdrückung der Migrant:innen in Deutschland gibt es Bestrebungen zu einer Sichtweise, die die Handlungsfähigkeit von Migrant:innen betont, die ansonsten oft als passive Opfer wahrgenommen werden. Ihre Kämpfe können als Motor für Veränderungen in der Gesellschaft dienen. Doch die Theorie der Autonomie der Migration abstrahiert die migrantischen Teile von den einheimischen Arbeiter:innen; eine solche Einheit wird weder benannt noch untersucht. Indem die migrantischen Kämpfe isoliert betrachtet werden, wird die Komplexität der Klassenverhältnisse übersehen. Wie sieht die spezifischen Bedingungen der Arbeitsmigration aus, wovon Mezzadra spricht?
Die Ampelregierung prahlt damit, ein modernes Einwanderungsrecht verfasst zu haben, das am 18. November 2024 in Kraft tritt. Das Gesetz sieht beispielsweise vor, dass Unternehmen ausländische Fachkräfte bis zu acht Monate einstellen können, um eine kontingentierte kurzzeitige Beschäftigung zu schaffen. Das heißt, dass die Beschäftigten meistens einem hohen Leistungsdruck ausgesetzt werden, um den Arbeitsvertrag zu verlängern.
Personen mit mindestens zwei Jahren Berufserfahrung und einem im Herkunftsland anerkannten Berufsabschluss dürfen als Arbeitskräfte nach Deutschland einwandern. Dabei muss der Abschluss künftig nicht mehr in Deutschland anerkannt werden. Doch diese Lockerung gilt nur für die nicht reglementierten Berufe7.
Für reglementierte Berufe8 bleibt jedoch die Anerkennung des Abschlusses in Deutschland weiterhin erforderlich. Diese Regelung soll sicherstellen, dass die beruflichen Standards eingehalten werden und die entsprechende Fachkompetenz nachgewiesen ist, bevor eine Tätigkeit in diesen Bereichen ausgeübt werden kann. Doch vor allem im Erziehungs-, Bildungs- und Gesundheitswesen ist der Personalmangel gravierend. Das neue Einwanderungsgesetz geht also am Problem vorbei. In diesen Berufsgruppen sind das Tempo und die Bedingungen der Arbeit für die sogenannten „einheimische Teile“ unhaltbar geworden, weshalb die Bundesregierung ausländische Arbeitskräfte anzuwerben versucht. Denn die unerträglichen Arbeitsbedingungen vor allem im öffentlichen Dienst haben zur Folge, dass immer weniger Jugendliche sich für eine Ausbildung in diesen Sektoren entscheiden.
Es entsteht eine Unterschichtung in diesen Berufen, das heißt bestimmte Arbeitskräfte üben ihre Berufe mit schlechterer Bezahlung aus, weil ihnen die Eingruppierung als Fachkraft wegen Ab- oder Teilanerkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse verwehrt bleibt. Die Unterschichtung beschreibt einen Prozess, bei dem eine bestimmte Gruppe auf eine niedrigere soziale, ökonomische oder rechtliche Ebene gedrängt wird. Die Ampelregierung wirbt Fachkräfte an, gleichzeitig aber werden diese migrantischen Arbeiter:innen hinsichtlich ihres Status und ihres Lohns heruntergestuft. Erzieher:innen werden zu Kinderpfleger:innen, Pflegekräfte werden zu Krankenpflegehelfer:innen und so weiter. Ihre Lebens- und Arbeitserfahrungen im Herkunftsland werden dabei ignoriert, weil die Abschlüsse nicht anerkannt werden. Diese Gruppe von Arbeiter:innen hat zum einen mit hohen Mieten und Lebenshaltungskosten, zum anderen mit rechtlichen Restriktionen und langen Anerkennungsprozessen zu kämpfen. Wenn der Abschluss nicht anerkannt wird, sind mehrere gezwungen, nochmal eine Ausbildung abzuschließen, um einen besseren Lohn zu erhalten. Insbesondere in denjenigen Sektoren, die Fachkräfte anwerben, wird diese Unterschichtung praktiziert.
Marios Nikolinakos analysierte im Jahr 1973, wie die Gastarbeiter:innen in Deutschland zur Unterqualifizierung verdammt waren. Er argumentierte, dass die Arbeitsmigrant:innen einer strukturell untergeordneten Position ausgesetzt waren, die zur Aufrechterhaltung niedriger Löhne beitrug: „Der Anteil an Gastarbeiter, die es zum Facharbeiter bringen konnten, ist minimal. 1968 betrug er nur 2%. Die Gastarbeiter konkurrieren also mit den einheimischen Arbeitern auf dem Arbeitsmarkt nicht. Im Gegenteil, sie füllen die Lücken, die durch den beruflichen und sozialen Aufstieg der einheimischen Arbeiter entstehen.“9 Eine ähnliche Tendenz ist im Jahr 2024 immer noch vorhanden. Während die Unternehmen über Fachkräftemangel klagen und Studien veröffentlichen, verschleiern sie die Tatsache, dass es zwischen den offenen Stellen für „qualifizierte“ und „geringqualifizierte“ Arbeitskräfte eine deutliche Kluft gibt und die Nichtanerkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse beispielsweise die qualifizierten Arbeitskräfte zu geringqualifizierten herab stuft.
Die politischen Führungen
SPD und Grüne erleben angesichts der rassistischen Migrationspolitik die ersten Unruhen in ihren eigenen Reihen. Die Führung von Scholz und Faeser wird von dutzenden Bundestagsabgeordneten dafür kritisiert, dass sie sich zu sehr auf Abschottung und Verschärfungen konzentriert. Dies stehe im Widerspruch zu sozialdemokratischen Werten. Dass die SPD schon vor der Ampelregierung in der GroKo die Verschärfung der Asylgesetze mitzuverantworten hat, bleibt unbeachtet.
Die Polarisierung bei den Grünen ist tiefgehender, zumindest in ihrer Jugend, da der Bundesvorstand der Grünen Jugend geschlossen aus der Partei ausgetreten ist und ihm sieben Landesvorsitzende gefolgt sind. Sie werfen der Partei vor, „dass es mittelfristig keine Mehrheiten […] für eine klassenorientierte Politik gibt, die soziale Fragen in den Mittelpunkt rückt und Perspektiven für ein grundsätzlich anderes Wirtschaftssystem aufzeigt.“ Die Asylpolitik wird unter anderem als Grund für den Austritt genannt . Noch ist ungewiss, welchen Weg die Gruppe nun einschlagen wird. Der Austrittsbrief klammert die Kriege in der Ukraine und in Gaza aus – obwohl sie als wichtigste geopolitische Konfliktpunkte – gelten, weil die politische Unterstützung für Israel und die Ukraine vermutlich entweder für korrekt befunden wird oder sie eine Spaltung in diesen Fragen für irrelevant halten. In beiden Szenarien haben wir es mit einer Tendenz zu tun, deren Einheit fragil ist.
Die Linkspartei sagt, sie trage die Hetze gegen Geflüchtete nicht mit und kritisiert den Rechtsruck der Ampelregierung. Doch ihre Worte in der Opposition entsprechen nicht den Taten, sobald sie in der Regierung ist. Sie hat in Berlin und Thüringen die Abschiebungen in Kauf genommen, um Teil der Regierung zu bleiben. Sie trägt Verantwortung für den Aufstieg der rechten Narrative und die Entrechtung der Geflüchteten. Die systematische Entrechtung von Geflüchteten über die Jahre hinweg hat diese schutzlos und deklassiert den Rechten überlassen. Die Linkspartei hatte nie eine klassenkämpferische Orientierung, ihre Ressourcen in den Gewerkschaften dafür einzusetzen, einen politischen Massenstreik (von Arbeiter:innenversammlungen und Komitees angeführt und unter Einbezug von Jugendlichen und der unterdrückten Massen) zu organisieren, der gegen Kriege und Abschiebungen Forderungen für die Einheit der multiethnischen Arbeiter:innen erhebt. Eine elektorale oder zivilgesellschaftliche Kritik an der Regierung treibt den Kampf gegen den Rassismus nicht voran.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ist ebenfalls eine politische Organisation, die unter Gewerkschafter:innen und Arbeiter:innen Anhänger:innen findet. Das BSW nimmt dem Anschein nach eine pazifistische Haltung gegen den Krieg ein, indem die Politiker:innen einem anti-transatlantischen Kurs folgen und diplomatische Beziehungen mit l Russland für den Block gegen die NATO pflegen. Ihre Argumentation basiert darauf, die Fluchtursachen zu bekämpfen, um die Zuwanderung zu regulieren. Doch die weltweite Fluchtbewegung ist ein Resultat der Widersprüche unserer Zeit: Die Globalisierung der Produktivkräfte, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die imperialistische Aufteilung des Weltmarktes stehen im Konflikt mit den nationalen Grenzen der kapitalistischen Staaten. Heute befinden sich mehr Menschen auf der Flucht als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein entscheidender Faktor hierfür ist der Zerfall ganzer Regionen in Westasien und Afrika, die durch Kriege und imperialistische Interventionen zerstört wurden und in einem Zustand permanenter Instabilität verharren. Allein aus Gründen der Klimakrise wird die Fluchtbewegung enorm wachsen. Das ist für das BSW irrelevant. Stattdessen werden Maßnahmen wie das Einführen von Obergrenzen und die Durchführung von Abschiebungen befürwortet. Das BSW trägt dazu bei, den Sozialchauvinismus in den Reihen der Arbeiter:innen zu verbreiten.
Ermutigt von den Angriffen der Regierung auf die Geflüchteten, fordert die AfD in den Städten, wo sie eine soziale Basis hat, ein Verbot für Geflüchtete zur Teilnahme an Volksfesten und Wochenmärkten. Die Entwicklung der AfD ist alarmierend, da sie in 14 von 16 Landesparlamenten vertreten ist und in beinahe allen Wahlen Wähler:innenstimmen dazu gewonnen hat. Bei den EU-Wahlen haben 33 Prozent der Arbeiter:innen10 die AfD gewählt. Unter Gewerkschaftsmitgliedern bekam sie 18,5 Prozent – mehr Stimmen als SPD und DIE LINKE zusammen. Sie bedient sich der Demagogie, die die deutsche Bevölkerung als Opfer der Migration darstellt und Geflüchteten die Schuld für die „Benachteiligung“ des deutschen Kleinbürger:innentums und der Arbeiter:innen gibt.
Was machen die Gewerkschaften als Vertretungsorgane der Arbeiter:innen, während all das passiert? Tatsächlich waren die bürokratischen Führungen der Gewerkschaften selbst bei den Demonstrationen des Unteilbar-Bündnisses, die ab 2018 mehrmals stattfanden, gegen die Forderung von offenen Grenzen, da sie meinten, die Rechte würden davon profitieren. Die Gewerkschaftsbürokratie hat in Worten einen Kurswechsel in Bezug auf Geflüchtete vertreten, das heißt die Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt – ohne genauer auf ihre Arbeitsbedingungen einzugehen und für ihre Integration in den Produktionsprozess ernsthafte Kämpfe zu organisieren. Sie ist abwesend, wenn es darum geht, die Sklavenverhältnisse wie 80-Cent-Jobs, die Ungleichheit in Lohn und vor dem Gesetz oder das Arbeitsverbot zu bekämpfen. Denn die politischen Angelegenheiten werden an bürgerliche Parteien delegiert, während die Gewerkschaften hauptsächlich Tarifverträge verhandeln. Die pazifistische Haltung der Gewerkschaften dem Rassismus gegenüber ist eine große Hürde, weil sie sowohl die Bekämpfung von Rechten als auch die Erkämpfung sozialer Rechte von unterdrückten Teilen der Arbeiter:innen hemmt. Die migrantischen Arbeiter:innen arbeiten nicht mehr nur in den mehrwertschöpfenden industriellen Sektoren wie zu Zeiten der sogenannten Gast:arbeiter:innen, sondern auch in prekären Jobs und dem öffentlichen Dienst. Die Trennung zwischen migrantischen Arbeiter:innen und ihren deutschen Kolleg:innen in Bezug auf gesellschaftliche und ökonomische Angelegenheiten entfaltet weiterhin eine destruktive Wirkung.
Sind die deutschen Arbeiter:innen korrumpiert?
Einst schrieb Walter Benjamin, dass es „nichts gibt, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom.“ Aufgrund der wachsenden Zustimmung, die chauvinistische Ideen erfahren, könnte die Frage gestellt werden, ob sich die Geschichte etwa wiederholt.
Separatistische Tendenzen vertreten die Ansicht, die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren könne keine revolutionäre Rolle einnehmen. Sie sind der Ansicht, die deutschen Arbeiter:innen würden von der Spaltung profitieren und unterstellen eine „imperialen Lebensweise“. Die Arbeiter:innen würden demnach genauso wie die Kapitalist:innen des Globalen Nordens von der systematischen Ausbeutung des Globalen Südens profitieren. Diese Vorstellung führt jedoch zu einer grundlegenden Verkennung der Klassenverhältnisse im Kapitalismus. Im Kapitalismus wird der Mehrwert, der durch Mehrarbeit geschaffen wird, vom Kapital angeeignet, unabhängig davon, ob sich die Arbeiter:innen im Norden oder Süden befinden.
Der Verkauf der Arbeitskraft als Ware entwickelt sich unterschiedlich. Aufgrund der relativ höheren Kapitalakkumulation in den hochindustrialisierten Ländern entsteht eine Tendenz, die Arbeiter:innenaristokratie heißt. Sie macht die Minderheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse aus. Diese Schicht hat durch ihren Einfluss auf zentrale Bereiche der Produktion, wo am meisten Mehrwerterschöpfung stattfindet, und durch kollektive gewerkschaftliche Kämpfe relativ günstige Bedingungen für den Verkauf ihrer Arbeitskraft erreicht. Tatsächlich ist die Ausbeutungsrate (also das Verhältnis von Mehrwert zu notwendiger Arbeit) in solchen Sektoren sogar höher als diejenige der durchschnittlichen und unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse. Dies liegt daran, dass die Arbeiter:innen zwar relativ hohe Löhne erhalten, jedoch in Bereichen arbeiten, die extrem wertschöpfend sind und hohe Profite generieren. Das bedeutet, dass die Kapitalist:innen durch die höhere Produktivität und den Wert, der durch die Arbeit in diesen Sektoren geschaffen wird, trotz besserer Löhne und Arbeitsbedingungen große Mengen an Mehrwert schöpfen können. Die Arbeiter:innenaristokratie boomte in der Nachkriegszeit, doch sie schrumpft seit den Angriffen des Neoliberalismus in den späten 1970er und 1980er Jahren und der Weltwirtschaftskrise von 2007/2008 in den traditionell industriellen Sektoren. Gleichzeitig entsteht jedoch eine Arbeiter:innenaristokratie in neuen Sektoren, beispielweise durch die Digitalisierung und den Strukturwandel sowie die Proletarisierung der Mittelschichten11.
Der Klassenkampf schreibt diese Sektoren nicht ab, weil sie unter anderem Schlüsselpositionen innehaben, wie Automobil, Maschinenbau, Chemie- und Elektroindustrie, Verkehr, Transport, die in der Tat entscheidend für die Funktionalität einer Gesellschaft sind. Die Zugehörigkeit zur Arbeiter:innenaristokratie schlussfolgert nicht zwangsläufig, dass diese Gruppen weniger kampfbereit sind als andere oder zur Korrumpierung verdammt sind. Ihre Spaltung durch die politischen Führungen (Gewerkschaftsbürokratie und Parteien) hindert sie daran, ihre Kraft einzusetzen, die in der Lage wäre, mit der kapitalistischen Ordnung zu brechen.
Verwechselt werden in der separatistischen Logik jedoch Privilegien mit Elementarrechten. Privilegien sind Sonderrechte, die nicht universell sind, sondern nur unter bestimmten Bedingungen oder für bestimmte Gruppen gelten. Elementarrechte sind Grundrechte, die universell unabhängig von Nationalität, Geschlecht und Herkunft gelten sollen. Dazu gehören das Recht auf Leben, das Recht auf Meinungsfreiheit, das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz. Migrant:innen, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, sind von letzterem ausgeschlossen. Indem aber die deutschen Arbeiter:innen Elementarrechte innehaben, von denen Migrant:innen ausgeschlossen sind, entsteht kein Privileg, sondern eine Unterschichtung. Von Sparmaßnahmen beispielsweise, sind auch die weißen Arbeiter:innen im öffentlichen Dienst betroffen.
Die Privilegien erhalten die Bosse, CEOs, Berufspolitiker:innen, bestimmte Vereine, bürgerliche NGOs sowie Funktionär:innen der Gewerkschaften, die nicht nur ökonomische Vorteile genießen, sondern auch über Kommandostrukturen verfügen. Bei der Bürokratie geht es nicht darum, wer welche politische Meinung vertritt, sondern welche materielle Stellung sie innehat. Sie entsteht dadurch, dass der deutsche Staat mittels höherer Bezahlung und besseren Posten einen Teil der sozialen Bewegungen und der Arbeiter:klasse besticht. Denn er braucht Vermittlungsinstanzen, damit die Gewerkschaften als Hilfsinstrumente zur reibungslosen Umsetzung der kapitalistischen Agenda dienen können. In der Praxis wird dazu eine Kaste mit Privilegien ausgestattet, sodass die Vermittlungsinstanz ihr Vorhaben durchsetzen kann. Diese Kaste hat sich in allen Führungs- und Machtpositionen eingenistet. Sie hat dadurch nicht nur eine Vermittlungsfunktion, sondern kommandiert auch. Ein Resultat davon ist die fehlende Streikdemokratie in den Kämpfen. Es gibt kaum Streikversammlungen, die über den Verlauf der Arbeitskämpfe entscheiden. Die Arbeiter:innen werden in die Entscheidungen nicht einbezogen. Die niedrige Zahl an migrantisch besetzten Posten in führenden Gremien kann daher nicht nur auf die Frage der Repräsentation reduziert werden. Es sind also nicht die Arbeiter:innen, die von der Unterschichtung oder Entrechtung profitieren, sondern die Unternehmen und die bürokratischen Vermittlungsinstanzen. Die Besetzung dieser Posten durch migrantische Funktionär:innen würde an der strukturellen Ungleichheiten nichts ändern. Im Gegenteil findet in den migrantischen Reihen eine Spaltung statt zwischen denjenigen, die den sozialen Aufstieg geschafft haben, und denjenigen, die dafür schuften müssen.
Die Arbeiter:innen befinden sich im Alltag unter dem ständigen Einfluss der herrschenden Ideen, die kapitalistisch, rassistisch, patriarchal oder individualistisch geprägt sind. Ein Blick in die Zeitungen der bürgerlichen Presse genügt, um zu verstehen, wie sehr sie die Bevölkerung gegen Migrant:innen (insbesondere Geflüchtete) aufbringen. Diese Strukturen bewirken, dass Arbeiter:innen zumeist darin gefangen bleiben, sich nur mit ihren eigenen Interessen zu beschäftigen und nur selten über den Tellerrand des kapitalistischen Systems hinaus blicken. Der Rassismus treibt einen Keil zwischen Arbeiter:innen, die ansonsten viel gemeinsam und jeden Grund haben, sich zu verbünden und zu organisieren.
Das Migrationsregime spaltet die multiethnischen Arbeiter:innenklasse. Auf der einen Seite werfen die Einheimischen den Migrant:innen Lohndrückerei vor, auf der anderen Seite halten die Migrant:innen die deutschen Arbeiter:innen für korrumpiert, da sie vom Rassismus profitieren würden. Separatistische Tendenzen, die aus diesem Konflikt entstehen, nehmen dem kapitalistischen Staat die Arbeit ab, die multiethnischen Arbeiter:innenklasse zu spalten.
Dass es zur Lohndrückerei kommt, liegt nicht an der Böswilligkeit seitens unserer Klassengeschwister, sondern an einem Mangel an systematischen und organisierten Kontakten zwischen den Arbeiter:innen und ihren Gewerkschaften. Denn die Bosse haben das Kommando in der Hand und sind die wahren Lohndrücker:innen. Zu Gastarbeiter:innen und Lohndrückerei schreibt Nikolinakos: „Die lohndrückende Funktion der Gastarbeiter kommt nur in Bezug auf die einheimischen ungelernten Arbeitskräfte in Frage. Dies gilt insofern, als die Gewerkschaften keinen Einfluß ausüben können. […] Die Gewerkschaften können durch ihre Macht mindestens die relative Anpassung der Löhne je nach Konjunkturlage erzwingen.“12
Die Lohnunterschiede durch Leiharbeit und Unterschichtung betreffen auch die migrantischen Arbeiter:innen, insofern sie weder sicher angestellt sind noch gleichermaßen entlohnt werden. Es mag sein, dass sie in Deutschland mehr verdienen, da der Euro im Vergleich zu Währungen in den Heimatländern aufgewertet ist. Doch viele haben nicht die Absicht, zurück in ihre Herkunftsländer zu ziehen, sondern innerhalb der multiethnischen Gesellschaft in Deutschland ein würdiges Leben zu leben. Es gibt Migrant:innen, die nur temporär bleiben wollen, sowie andere, die mit dem Ziel emigrieren, langfristig zu bleiben, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu finden und an der Gesellschaft teilzuhaben. Beispielhaft hierfür sind die Erfahrungen der Gastarbeiter:innen, die seit mehreren Generationen Teil der Gesellschaft sind. Doch die Arbeitsmigration aktuell ist mit strukturellen Hindernissen konfrontiert, wie etwa rassistischer Diskriminierung und Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt, prekären Arbeitsverhältnissen und Wohnungssituationen sowie Einschränkungen sozialer Teilhabe und einem fehlenden Wahlrecht.
Um diese Barriere zu überwinden, braucht es eine Brücke, die das alltägliche Bewusstsein der Arbeiter:innen mit einem revolutionären Klassenbewusstsein verbindet: „Strategisch gesehen lag der Schlüssel darin, eine Brücke zwischen dem reformistischen Bewusstsein der proletarischen Arbeiter*innenmassen und der Vorbereitung der Bedingungen für die Offensive (dem Aufstand) zu schlagen. Nicht nur, weil dies das Voranschreiten der Arbeiter*inneneinheitsfront zum Kampf gegen die Bourgeoisie ermöglichte (taktischer Aspekt), sondern auch weil die gemeinsamen Aktion im Klassenkampf den Revolutionär*innen die Möglichkeit gab, die Mehrheit für den „integralen Kommunismus“ zu gewinnen (strategischer Aspekt).“
Diese Brücke heißt Einheitsfront, die sowohl taktische als auch strategische Komponenten mit sich bringt.
Einheitsfront: Zurück zum Klassenkampf
In einer Einheitsfrontpolitik rufen wir alle Organisationen der Arbeiter:innenklasse, seien sie reformistisch oder bürokratisch geführt, dazu auf, sich um bestimmte Forderungen für einen Teilkampf zusammenzuschließen. Die Aktionseinheit mit den Teilen der Arbeiter:innen, die noch Vertrauen in die bürgerliche Demokratie haben, spielt eine zentrale Rolle. Sie schafft einen Raum, in dem Arbeiter:innen durch gemeinsame Kämpfe gegen Rassismus, soziale Ungerechtigkeit und Ausbeutung vereint werden, selbst wenn sie unterschiedliche politische Überzeugungen vertreten. Durch die Einheitsfront werden sie in konkreten Kämpfen um ihre Rechte politisiert und sehen dabei, dass ihre Interessen als Klasse nicht isoliert, sondern nur kollektiv durchsetzbar sind. Entscheidend ist hierbei, dass diese Einheit nicht durch parlamentarische Mittel, sondern durch die Methoden des Klassenkampfes verwirklicht wird. Diese Erfahrung hilft, das Vertrauen in die Wirksamkeit des Klassenkampfes zu stärken und eine breitere Mobilisierung für weitergehende Ziele zu organisieren. So verbindet die Aktionseinheit die Verteidigung ihrer Rechte mit der wachsenden Erkenntnis, dass die wirkliche Veränderung in den Händen der Arbeiter:innenklasse liegt.
Die Einheitsfront bleibt aber nicht nur eine defensive Maßnahme für die Verteidigung gegen die Angriffe der Kapitalist:innen. Sie hat eine strategische Bedeutung insofern, dass sie den revolutionären Organisationen den Weg eröffnet, ihren Einfluss im Prozess der gemeinsamen Erfahrungen zu erhöhen und Stellungen an strategischen Positionen zu erobern, um die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse für die Offensive anzuführen.
Was erwarten wir von den Gewerkschaften als größte Organisationen der Arbeiter:innen? Die Gewerkschaften können die revolutionäre Partei nicht ersetzen, da sie, wie Trotzki feststellte, andere Aufgaben, Zusammensetzungen und Kriterien bezüglich der Mitgliederaufnahme haben. Sie soll es auch gar nicht; stattdessen müssen sie die etlichen Arbeiter:innen organisieren, die noch keinen revolutionären Standpunkt einnehmen. Daher können wir von den Gewerkschaften kein vollkommen revolutionäres Programm erwarten. Doch gleichzeitig bedeutet diese Differenzierung gerade nicht, Gewerkschaften auf einen bloßen Ökonomismus zu reduzieren, damit die politischen Entscheidungen den Berufspolitiker:innen überlassen werden. Es ist lediglich notwendig zu betonen, dass die Gewerkschaften Einheitsfrontorgane der Arbeiter:innen sind und nicht einer einzigen Partei untergeordnet werden dürfen. Die Gewerkschaften können und sollen sich durchaus zu sozialen und politischen Fragen wie Krieg, rassistischen und patriarchalen Unterdrückungen, der Wohnungsfrage, Klimagerechtigkeit, Polizeigewalt und Regierungsangelegenheiten äußern. Es ist aber nicht möglich, die Gewerkschaftsbürokratie alleine durch öffentliche Aufrufe auf einer Zeitung zu Mobilisierungen und Streiks für die Verteidigung zu bringen. Sie muss von ihrer eigenen Basis unter Druck gesetzt werden. Damit die Arbeiter:innen einen realen Einfluss auf die Politik ihrer Gewerkschaften haben, müssen sie ihre eigenen demokratischen Organe (Streikkomitees, Betriebskomitees, Versammlungen) innerhalb der gewerkschaftlichen und sozialen Kämpfe aufbauen, woraus sie Forderungen an ihre Führungen richten können. Unsere Strategie bezeichnen wir als sowjetische Strategie. Darunter verstehen wir eine Strategie, die in allen möglichen taktischen Teilkämpfen darauf ausgerichtet ist, die Entwicklung der Selbstorganisierungsorgane (Streik- und Betriebskomitees, Versammlungen, übersektorale Koordinierungsinstanzen für Streiks) voranzutreiben. Je mehr praktische Erfahrungen in der Selbstorganisation die Arbeiter:innen schon vor einer revolutionären Situation sammeln, desto einfacher wird es, diese Strukturen später auch in einem offensiven Machtkampf einzusetzen. Der Kampf darum, die Gewerkschaften der Kontrolle der bürokratischen Führung zu entreißen, ist daher eng verbunden mit dem Aufbau einer revolutionären Führung für die Arbeiter:innen und ihrer Selbstorganisationsstrukturen. Die Entbürokratisierung der Gewerkschaften geht einher mit einer Reihe von radikaldemokratischen Maßnahmen wie Rotation der Ämter, durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn, jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit der Funktionsträger*innen, freie Entscheidung über Streiks in ständigen Streik-Versammlungen mit einfachen Mehrheiten. Über diese Elemente der „sowjetischen Strategie” (auf Räten basierend) erkennt die Arbeiter*innenklasse, dass sie nicht nur sich selbst souverän organisieren kann, sondern die ganze Gesellschaft nach ihrem Bilde.
Die Segregation der Geflüchteten, die Abschiebeoffensive, die rassistische Gewalt der Rechten und der Polizei, die Unterschichtung der Arbeitsmigration und das fehlende Wahlrecht von Personen ohne deutsche Staatsbürger:innenschaft sind mitunter Folgen einer politischen Untätigkeit der Gewerkschaften und dem Bankrott einer humanitaristischen und zivilgesellschaftlichen Klientelismuspolitik. Infolgedessen bleibt es dabei, dass Aktivist:innen soziale Arbeit leisten, Nachbar:innen für Hilfsgüter sorgen und NGOs Anti-Rassismus- und Empowerment-Trainings organisieren, während die Regierung Abschiebeabkommen unterzeichnet und die Grenzen abschottet.
Der Kampf gegen Rassismus ist nicht nur ein moralischer oder humanitärer, sondern ein zentraler Teil des Klassenkampfes. Er richtet sich gegen eine der Hauptwaffen des Kapitals, die die Einheit der Arbeiter:innen untergräbt und ihre Verteidigung schwächt. Die Einheitsfront ist daher im Kampf gegen Rassismus unerlässlich, um die dringenden Probleme unserer Klasse zu lösen, die sich in Form von Segregation, Deklassierung, Unterschichtung, Abschiebungen und rassistischer Gewalt ausdrücken. Die DGB-Gewerkschaften, die seit den 1950er Jahren Erfahrungen mit Millionen von migrantischen Arbeiter:innen haben, müssen einen anderen Weg gehen, als damals: 1950 lehnten sie die Anwerbung von Gastarbeiter.innen ab, 1973 unterstützten sie die Abschiebungen nach dem Anwerbestopp. Es muss einen Paradigmenwechsel geben, dass die Geflüchteten keine Gefährder sind, sondern in der sozialen Gemeinschaft teilhaben dürfen. Die Gewerkschaften könnten durch einen politischen Streik und die Aufnahme von Geflüchteten als Mitglieder die Regierung zwingen, das Arbeitsverbot, das gegen Geflüchtete verhängt wird, aufzuheben, was eine solide Art der Integration in die Klasse ausdrücken würde.
Flucht ist die Realität unserer Zeit und mit den Folgen des Klimawandels wird sie exponentiell steigen, ebenso wie durch die Kriege, die unter anderem mit deutschen Waffen geführt werden.Flucht ist eine Folge von Waffenhandel, geopolitischer Unterstützung von Kriegsparteien und der imperialistischen Ausbeutung von natürlichen und personellen Ressourcen sowie von abhängigen oder (halb-)kolonialen Ländern. Genau deshalb trägt der deutsche Staat Verantwortung gegenüber den Geflüchteten. Notwendigerweise wird der Kampf gegen den Rassismus eine antiimperialistische Dimension annehmen.
Anhand der Fluchtfrage offenbart sich ein gesellschaftlicher Widerspruch. Dieser Widerspruch entsteht dadurch, dass die Nationalstaatlichkeit in der Globalisierung der Produktivkräfte einen reaktionären Charakter angenommen hat. In einer globalisierten Wirtschaft sind die Produktivkräfte international vernetzt und bewegen sich zunehmend über nationale Grenzen hinweg. Dies steht im Gegensatz zur Beschränkung der Mobilität von Menschen. Im Grunde genommen handelte es sich bei der Forderung nach offenen Grenzen um das Element, ein Recht zu etablieren, um die Bewegungsfreiheit der Menschen, ihren Aufenthalt, ihre Arbeit, ihren sozialen Schutz über die Grenzen hinweg zu garantieren.
Die Forderung nach offenen Grenzen stellt die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaats in Frage. Wenn wir in einer Welt ohne Grenzen leben wollen, in der die Bewegungsfreiheit nicht nur für eine kleine Minderheit gilt, müssen wir uns fragen, wie dies erreicht werden kann. Antirassistische Forderungen wie diese, die den Bewusstseinsstand der Avantgarde erhöhen, werden die fortgeschrittenen Arbeiter:innen zu der einzig logischen Schlussfolgerung bringen: Die Emanzipation der Arbeiter:innen und Unterdrückten ist mit dem Nationalstaat und seinen Grenzen unvereinbar.
Die AfD hetzt gegen etwas, das längst Realität ist – die ethnische Vermischung der Gesellschaft. Ein klar abgrenzbares „deutsches Volk“, das biologisch ohnehin immer eine Wahnvorstellung der Rechten war, existiert selbst nach Maßstäben von Herkunft, Hautfarbe, Sprache und Religion nicht mehr. Die Arbeit in Deutschland ist migrantisiert beziehungsweise. multiethnisch, sowohl in prekären Bereichen als auch in industriellen proletarischen Zentren. Und dennoch ist die rassistische Spaltung der Rechten und der Regierung überall dort erfolgreich, wo die multiethnische Arbeiter:innenklasse nicht bewusst als solche auftritt. Wir müssen dieses Blatt wenden und eine sozialistische Vision entwickeln:
Rassismus und Abschottung sind ein Feind jeglicher internationalen Kooperation und menschlicher Emanzipation. Wir betrachten Geflüchtete nicht als Konkurrent:innen am Arbeitsmarkt oder als Unruhestifter. Sie sind heute der am stärksten entrechtete und unterdrückte Teil der Arbeiter:innenklasse. […] Gegen die Dystopie der Festung Europa wollen wir ein sozialistisches Europa aufbauen, in dem jeder Mensch unabhängig von Herkunft und Pass die Möglichkeit hat, sich für die Gemeinschaft einzubringen und ein gutes Leben aufzubauen. Im Sozialismus gibt es gleiche Rechte für alle; die wirtschaftliche Verwertbarkeit eines Menschen für Profite spielt keine Rolle. Wir können alle Fähigkeiten und Kräfte gebrauchen, die nötig sein werden für die gewaltigen Anstrengungen für einen ökologischen Umbau der Wirtschaft und Städte und den Aufbau einer neuen Gesellschaft.
Fußnoten
- 1. Damit ist gemeint, dass nicht nur die im engeren Sinne staatlichen Institutionen, wie die Regierung oder die Polizei, als Staat zu verstehen sind, sondern auch die Organe der Zivilgesellschaft, wie Schulen, Kirchen, Medien und Vereine. Der Staat bedeutet in seinem integralen Sinne das Zusammenspiel von staatlichen und „zivilgesellschaftlichen“ Institutionen zur Sicherung der Macht der herrschenden Klasse durch Zwang (wie direkte physische Gewalt) und Konsens (die Zustimmung der Beherrschten zu ihrer Unterdrückung). Für eine tiefergehende Beschäftigung: Trotzki, Gramsci und der Staat im „Westen“ von Fernando Rosso und Juan del Maso. Abrufbar unter: https://www.klassegegenklasse.org/trotzki-gramsci-und-der-staat-im-westen/ [19. Oktober 2024].
- 2. Eine politische Praxis, bei der unterdrückte Gruppen vor allem durch kurzfristige, oft wohltätige Hilfe unterstützt werden.
- 3. Es muss erwähnt werden, dass die Erfassung rechter Gewalt erst seit 1990 stattfindet und daher sowohl in West- als auch in Ostdeutschland der Anschein erweckt wird, es handele sich um eine problematische Folge der Wiedervereinigung. In Westdeutschland wurden Gastarbeiter:innen immer wieder Opfer rassistischer Gewalt:von der Wohnsituation in den Containern über Illegalisierung ihrer Streiks bis hin zur Ermordung.
- 4. Es handelt sich hier um die Jim-Crow-Gesetze, die ab Ende des 19. Jahrhunderts in den Südstaaten erlassen wurden und die die Trennung von Schwarzen und Weißen in öffentlichen Einrichtungen, Schulen, Verkehrsmitteln und anderen Lebensbereichen bis zur Abschaffung im Jahr 1964 vorschrieben.
- 5. Dadurch wird die Bewegungsfreiheit räumlich beschränkt. Die Residenzpflicht verpflichtet die Betroffenen, sich nur in dem von der zuständigen Behörde festgelegten Bereich aufzuhalten.
- 6. Der Utilitarismus stellt eine philosophische Strömung dar, die die Richtigkeit von Handlungen nach der Nützlichkeit ihrer Folgen beurteilt.
- 7. Nicht reglementierte Berufe in Deutschland sind solche, für die keine spezielle staatliche Anerkennung der beruflichen Qualifikationen erforderlich ist. Das bedeutet, dass eine Person auch ohne formale Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse in diesen Berufen arbeiten kann. Beispiele für nicht reglementierte Berufe sind der MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik), das Ingenieurwesen, Handwerk, Vertrieb, Medien sowie viele kaufmännische Berufe.
- 8. Medizinberufe, Rechtsberufe, das Lehramt an staatlichen Schulen sowie Berufe im öffentlichen Dienst.
- 9. Marios Nikolinakos: Die politische Ökonomie der Gastarbeiterfrage –- Migration und Kapitalismus, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 98.
- 10. In diesen Umfragen wird der Begriff Arbeiter:innen folgendermaßen verwendet: Er bezieht sich auf Personen, die körperliche Arbeit verrichten, im Gegensatz zu Angestellten, die geistige Arbeit verrichten.
- 11. Hierzu zählen etwa Handwerk:innen, Anwält:innen, Ärzt:innen.
- 12. Nikolinakos: Die politische Ökonomie der Gastarbeiterfrage, S.99.