Mesut Özil als Musterbeispiel: Sogar als Weltmeister bleibst du ein Immigrant
Seine Rücktrittserklärung hat einmal mehr die rassistische Unterdrückung in Deutschland an die Oberfläche gebracht. Doch Özils Fall zeigt noch mehr: Die Migrationsfrage und der Rechtsruck sind Ausdruck grundlegender Widersprüche der kapitalistischen Demokratie in Deutschland.
„In den Augen von Grindel und seinen Helfern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren. (…) Gibt es Kriterien, ein vollwertiger Deutscher zu sein, die ich nicht erfülle? Ist es so, weil es die Türkei ist? Ist es so, weil ich ein Muslim bin? Indem man als Deutsch-Türke bezeichnet wird, werden Menschen bereits unterschieden, die Familie in mehr als einem Land besitzen.“
Mit diesen Worten hat Mesut Özil seine Ablehnung gegenüber der Spitze des Deutschen Fußballbundes (DFB) und der deutschen Fußballnationalmannschaft geäußert. Sein Rücktritt eröffnet in der Öffentlichkeit eine wichtige Diskussion über rassistische Unterdrückung. Denn die deutsche kapitalistische Demokratie ist unfähig und unwillig, den Wünschen der multiethnischen Arbeiter*innenklasse und Massen nach sozialer und ökonomischer Gleichberechtigung nachzukommen.
Musterbeispiel für die deutsche Integration oder Musterbeispiel für die Grenzen der kapitalistischen Demokratie?
Als Mesut Özil mit der deutschen Fußballnationalmannschaft den dritten Platz bei der Weltmeisterschaft 2010 geholt und dabei große Leistungen vollbracht hat, strahlten die Augen von Bundeskanzlerin Merkel und dem gesamten politischen Establishment vor Freude. Lange Zeit galt er als Musterbeispiel für „erfolgreiche Integration“, obwohl Özil sich auch damals schon mit Erdogan traf. Doch damals sah die deutsche Bourgeoisie kein Problem darin, solange das nicht im Widerspruch zu außenpolitischen Interessen stand. Nun wird Özil zum Sündenbock erklärt.
Das Paradoxe daran: Die deutsche Bundesregierung hat Erdogan immer noch als strategischen Partner definiert und ihm mit Milliarden-Geldern ermöglicht, die Geflüchteten an der Weiterreise nach Europa zu hindern. Zum Schutz der reaktionären Grenzen der kapitalistischen Nationalstaatlichkeit sterben monatlich hunderte Geflüchtete im Mittelmeer. Die Diktatur Erdogans in der Innenpolitik interessierte die Bundesregierung dabei nicht so sehr, weil der Fokus zunächst darin bestand, die ohnehin restriktiven Einwanderungsgesetze zu verschärfen, um die massenhafte Ankunft von Geflüchteten zu bremsen.
Die Partizipation deutscher Konzerne am türkischen Besatzungskrieg in Kurdistan ist ebenfalls exemplarisch für die Haltung der deutschen Bourgeoisie: Sie beharrt auf Erdogan, weil der türkische Staat in dieser Konstellation der Region immer noch der beste Verbündete ist. Nach Angaben des World Economic Forum ist die Türkei, was die Sicherheit der Investitionen angeht, auf einem oberen Rang der Liste. Doch im Tausch für diesen wirtschaftlichen Liberalismus in der Epoche der Handelskriege verlangt sie immer offener die Anerkennung der bonapartistischen Diktatur.
Die moralische Anklage gegenüber Özil ist deshalb mehr als heuchlerisch und offenbart nur den herrschenden Rassismus. Doch auch die umgekehrte Anklage führt in eine Sackgasse: Wer die Forderung aufstellt, dass die Bundesregierung sich von „diktatorischen Machthabern“ distanzieren und „demokratische Kräfte“ unterstützen sollte, heißt die imperialistische Einmischung gut, die die Grundlage für die Vormachtstellung des deutschen Kapitals ist.
Die deutsche kapitalistische Öffentlichkeit
Die multiethnische Zusammensetzung des deutschen Proletariats ist unumkehrbar. Die Migrationsfrage spielt in Deutschland deshalb eine dermaßen wichtige Rolle in der Gesellschaft, weil aus dieser Situation auch neue Generationen entstanden sind, die politische und soziale Ansprüche haben, aber völlig unterrepräsentiert bleiben. Auch Özil kommt aus einer Familie der Arbeitsmigration, deren Geschichte sich bei Millionen von Menschen in anderer Form wiederholt. Der Staat bleibt aber stets rassistisch.
15 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen dürfen nicht wählen, weil sie keinen deutschen Pass besitzen. Dabei ist das aktive und passive Wahlrecht das Herz der demokratischen Rechte, das ihnen wie selbstverständlich vom deutschen bürgerlichen Staat verwehrt wird. Hinzu kommen noch jene Migrant*innen, die einen deutschen Pass haben und mitunter eine niedrigschwellige Integration in die kapitalistische Öffentlichkeit erreicht haben. Özil und Cem Özdemir gehören dazu, auch wenn sie sich gegenüberstehen als Erdogan-Anhänger oder Anhänger der deutschen Bourgeoisie.
Die rassistische Unterdrückung betrifft zweifellos auch die beiden, doch aufgrund ihrer sozialen Stellung und ihrem Zugang zum Staat drückt sie sich bei ihnen anders aus. Zugleich zeichnet sich die Migrationsfrage in Deutschland dadurch aus, dass eine relativ heterogene Gruppe wie die Migrant*innen durch die Behandlung der deutschen Gesellschaft eine Homogenisierung erfahren: Egal wie weit sie es geschafft haben, bleibt es ihnen verwehrt, einen vollen Zugang zur Gesellschaft zu haben.
Sie bleiben in den Augen der deutschen kapitalistischen Öffentlichkeit immer Gastarbeiter*innen, Kanaken oder gefährliche Geflüchtete. Diese chauvinistische Demütigung der Migrant*innen stellt ihnen weitere Hürden, um sich zu behaupten. Gleichzeitig ermöglicht diese Demütigung den Faschist*innen, die Migrant*innen und Geflüchteten mit Hilfe staatlicher Strukturen wie im Falle des NSU zu ermorden.
Die deutsche imperialistische Bourgeoisie ist auch nationalistisch und kolonialistisch. Selbst mit dem Faschismus haben die Kapitalist*innen wie Krupp, die Autoindustrie, Bayer etc. harmonisch zusammengearbeitet. Die Disziplinierung der Geflüchteten (Abschiebung und Integration als billige Arbeitskräfte) ist heute eine Vorwarnung an die multiethnische Arbeiter*innenklasse in Deutschland. Doch sie ist fragmentiert und ihre Führung befürwortet höchstens den Schutz der Sozialpartnerschaft, deren materielle Grundlage aus den ausgeplünderten und ausgebeuteten billigen Arbeitskräften anderer Länder hervorgegangen ist. Denn die Sozialpartnerschaft als Grundlage des sozialen Friedens ist ein deutsches und imperialistisches Phänomen.
Bis zur kapitalistischen Restauration wurden „Gastarbeiter*innen“ vor allem als Billiglohnkräfte in den Schlüsselsektoren der westdeutschen Industrie eingesetzt. Die von ihnen ausgelösten Streikwellen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre haben zu den tiefsten Brüchen mit der Gewerkschaftsbürokratie in der Geschichte der BRD geführt, da diese primär ihre Aufgabe in der Verteidigung der Privilegien der deutschen Arbeiter*innenaristokratie und der Aufrechterhaltung der Sozialpartnerschaft sah. Exemplarisch dafür steht bis heute der Streik der türkischen Arbeiter bei Ford im Jahre 1973, der mit der Betriebsbesetzung einen radikalen Inhalt angenommen hat, aber zu schwach war, um die Spaltungstaktik der Gewerkschaftsbürokratie der IG Metall zu verhindern.
Strategische Aufgaben in Deutschland
Einer der wichtigsten strategischen Aufgaben für Revolutionär*innen in den imperialistischen Kernländern ist es, dem Chauvinismus der Arbeiter*innenklasse einen proletarischen Internationalismus entgegenzusetzen. Angesichts der sich vertiefenden Spannungen zwischen den imperialistischen Staaten halten wir es für eine dringende Aufgabe, um die Fragmentierung der Arbeiter*innenklasse in Deutschland zu überwinden.
Die Aufgabe der deutschen Arbeiter*innen und Jugendlichen besteht darin, sich für die Rechte der Migrant*innen aktiv einzusetzen und die gemeinsamen Interessen an der Einheit zu erkennen. Wenn sie die Gewerkschaftsführungen dazu zwingen können, ist es durchaus möglich, die Bundesregierung und die kapitalistischen Bosse zurückzudrängen.
Die Fragmentierung der Arbeiter*innenklasse ist dabei nicht nur rassistisch (und sexistisch) strukturiert, sondern auch durch vielfältige Formen der Prekarisierung. Aktuell haben mehr als drei Millionen Beschäftigte in Deutschland, d.h. jeder zwölfte Beschäftigte, einen befristeten Arbeitsvertrag. Die Angst vor Entlassung oder Nicht-Verlängerung des Arbeitsvertrags schafft einen enormen Druck auf sie. Besonders Migrant*innen müssen unter diesen Bedingungen arbeiten. Und obwohl heute Geflüchtete als Billigarbeitskräfte auch zum Teil in die Schlüsselsektoren integriert werden, bilden sie vor allem in diesen outgesourcten und prekarisierten Bereichen eine wichtige Masse, in denen die Sozialpartnerschaft nach der Agenda 2010 zu einer Karikatur ihrer selbst geworden ist.
Die aktuellen Antworten der reformistischen Parteien sind deshalb ungenügend, um einen progressiven Ausgang aus der aktuellen Krise zu ermöglichen. Ihr Festhalten an der Sozialpartnerschaft und besonders die Rolle der SPD als Stabilitätspfeiler der Regierung kann zu nichts anderem führen als zur Unterordnung der Arbeiter*innenklasse unter die Interessen des deutschen Kapitals – und damit zur Fortsetzung der vielschichtigen Fragmentierung der Arbeiter*innenklasse.
Sichtbar wird dies gerade auch darin, dass sich die reformistischen Lösungsvorschläge hinter eins von zwei falschen bürgerlichen Abschottungsprojekten einreihen: entweder die Unterstützung der Abschottung „à la Merkel“ mit Hilfe der Europäischen Union – wie es die SPD vertritt –, oder die Forderung nach Sicherung des deutschen „Wohlfahrtsstaats“ gegen die Ansprüche von Migrant*innen und Geflüchteten – wie es Teile der Linkspartei um Sahra Wagenknecht verkünden, und dabei auf die Logik nationalistischer Abschottung à la Seehofer (CSU) und AfD anspringen.
Deshalb gehen Aufgaben über die sozialen Forderungen im Inneren hinaus: Trotz aller Konflikte in der Regierung ist sich das deutsche Kapital über einen imperialistischen Plan einig: Sie wollen ausgehend von der Krise der Staatlichkeiten in Nordafrika einen „Marshall-Plan für Afrika“ lancieren. Das heißt nichts anderes, als die lokale Wirtschaft mit Investitionen und neuen Märkten den deutschen Großkonzernen unterwerfen, um die veramte Bevölkerung als billige Arbeitskräfte auszubeuten. Die Europäische Union zu verteidigen bedeutet heute nichts anderes als die Kolonialisierung Afrikas zu befürworten.
Eine Konfrontation sowohl der rassistischen Spaltung der Arbeiter*innenklasse in Deutschland als auch der Sozialpartnerschaft, die diese Fragmentierung mit aufrecht erhält, muss deshalb Hand in Hand gehen mit einer klaren antiimperialistischen Positionierung, gegen die Ausplünderung der peripheren Länder durch das deutsche und europäische Kapital.
Hierbei fällt den migrantischen Arbeiter*innen in Deutschland natürlich eine zentrale Rolle zu: Ihre Fluchterfahrung, ihre rassistisch strukturierte Überausbeutung sind essentiell, um in der gesamten Klasse ein antiimperialistisches Verständnis zu schaffen.
Migrantische Arbeiter*innen müssen sich um ihre sozialen und ökonomischen Forderungen organisieren, um dafür zu sorgen, dass im Kampf gegen den Chauvinismus und den deutschen Staat die unerfüllten demokratischen und sozialen Rechte ins Aktionsprogramm der gesamten Arbeiter*innenbewegung aufgenommen werden.
Selbstorganisierung der Geflüchteten in den Gewerkschaften, Wahlrecht, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Anerkennung aller Asylanträge, das Recht auf Arbeit, Bildung in eigener Sprache und Wohnen sind fundamental für die Partizipation am gesellschaftlichen Prozess. Eine gemeinsame Front von einheimischen und ausländischen Arbeiter*innen für diese Forderungen aufzubauen, ist eine zentrale Aufgabe für Revolutionär*innen heute.