Mercosur-Abkommen: Letztes Aufbäumen des Freihandels?
Die EU einigt sich auf ein Freihandelsabkommen mit Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay – eine Gefahr für Jobs, Umwelt und Wirtschaftsentwicklung in Lateinamerika, doch ein unerwarteter Gewinn für europäische Exportunternehmen. Überlebt die Doktrin des freien Handels nun doch?
Die Europäische Kommission und vier Mercosur-Staaten – Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay – haben sich nach jahrzehntelanger Verhandlungszeit auf einen Text für ein Handelsabkommen zwischen ihren Wirtschaftsräumen geeinigt. Verfechter:innen des Freihandels – oder des „fairen Handels“, wie es Grünen-Politiker:innen gerne euphemistisch ausdrücken – jubeln, dabei muss der Text noch immer mehrere institutionelle Instanzen der EU und ihrer Mitgliedstaaten durchlaufen.
Bei der Unterzeichnung des Abkommens kommt es vor allem auf die rechtliche Ausgestaltung an. Rein handelspolitische und wirtschaftliche Aspekte können von den EU-Institutionen, allen voran der ungewählten bürokratischen Europäischen Kommission, durchgewinkt werden. Dort, wo der Handelspakt auch andere politische Bereiche, zum Beispiel im Gesundheits- oder Umweltbereich, regulatorisch berührt, dürfen meistens auch nationale Parlamente mitentscheiden.
Das alte Spiel des Extraktivismus und der Abhängigkeit
Das Mercosur-Abkommen verläuft grob entlang klassischer Linien, die lateinamerikanische Volkswirtschaften seit Jahrzehnten in quasi-kolonialen Handelsstrukturen gefangen halten: Lateinamerika liefert Nahrungsmittel, landwirtschaftliche Güter und Rohstoffe und im Gegenzug dürfen höherwertige europäische Industriegüter in die dortigen Märkte eindringen. Auch um die symbolträchtigen Autos von VW und Co. geht es hierbei. Im Wettbewerb mit dem europäischen Kapital gibt es nur wenige Chancen für Industrien in Lateinamerika, selber profitabel zu werden oder zu bleiben. Lateinamerika wird damit in der Position des peripheren Zulieferers der westlichen Marktzentren gehalten.
Die lateinamerikanischen Regierungen, darunter auch die sozialdemokratische Regierung unter Lula aus Brasilien und die liberalreaktionäre Regierung Mileis in Argentinien, beteuern zwar, gegen diese Dynamik Vorkehrungen getroffen zu haben. Auch die Befürchtung vieler NGOs und Gewerkschaften, dass durch die europäischen Nachfrage nach Rohstoffen und landwirtschaftlichen Waren der Regenwald und die Umwelt leiden werden, wird mit Verweis auf eine vage Inkorporation des Pariser Klimaabkommens im Abkommenstext beiseite gewischt.
Doch den Gewerkschaften und Arbeiter:innen in Lateinamerika ist klar, dass sie unter der Herrschaft des Freihandels immer die Kosten des Niedergangs der Industrien tragen müssen. Ihre Jobs stehen auf dem Spiel, die Industrialisierung wird gehemmt.
So kritisiert der Gewerkschaftsdachverband Pit-Cnt aus Uruguay das „undemokratische und intransparente“ Abkommen dafür, dass es die ungleiche Entwicklung unter den beteiligten Staaten verschärfe.
„[Das Mercosur-Abkommen] begünstigt lediglich die Rohstoffexportsektoren, die am meisten gegen Natur und Umwelt, Arbeit und Menschenrechte verstoßen“. Die Pit-Cnt weiter: „Für die Gewerkschaften der Region ist dieses Abkommen ein ungleicher Pakt, der die Klimakrise ignoriert, verbotene Pestizide und die Abholzung von Wäldern fördert, die Gesellschaft für bloße Unternehmensgewinne opfert und das extraktivistische Profil unserer regionalen Wirtschaft noch verstärkt“.
Gegen den Zeitgeist, dem Standortniedergang zum Trotz
Die Einigung ist auch ein trotziges Signal der EU, dass sie ihre traditionelle Freihandelspolitik noch nicht aufgibt. In Zeiten, in denen die USA mit neuen Importzöllen um sich wirft, China die Vergeltungsmaßnahmen und Produktionssubventionen hochfährt, und die Welthandelsorganisation wie tot vor sich hintreibt, sieht sich das europäische Handelskapital mit dem Wegfall ihres Erfolgsmodells konfrontiert. Vor allen anderen betrifft dies die deutsche Exportindustrie. Mit dem Mercosur-Abkommen möchte die neu zusammengestellte Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen dem Handelskapital Europas eine Rettungsleine zuwerfen.
Es ist zutiefst fraglich, ob die EU damit eine Trendwende für den Niedergang des europäischen Exportkapitals einläuten kann – die Zeichen stehen schlecht. Lateinamerika ist kein nachfragestarker Markt und auch dort etabliert sich die chinesische Konkurrenz mittlerweile. Weitere Standortschließungen hierzulande bei VW und ähnlichen Betrieben werden sich dadurch nicht abwenden lassen.
Somit bildet sich ein gemeinsames Interesse der Beschäftigten hierzulande mit den Arbeiter:innen der Mercosur-Staaten heraus, ihre unternehmerischen und politischen Klassen zu konfrontieren und selbst die Macht in der Industrie zu übernehmen. Nicht die Marktmacht und Freihandelsabkommen, sondern die Beschäftigten selbst sollten über die Zukunft ihrer Betriebe entscheiden.
Für eine entsprechende Verstaatlichung unter Arbeiter:innenkontrolle kämpfen in Deutschland die Bundestagskandidatinnen Leonie Lieb in München sowie Inés Heider und Franziska Thomas in Berlin.