MERA25: Solidarisch mit Palästina – aber ohne strategischen Ausweg
MERA25 profiliert sich im EU-Wahlkampf mit Palästinasolidarität und inszeniert sich als Partei für einen radikalen Wandel. Was steckt hinter der Partei und kann die Wahl von MERA25 tatsächlich zur Befreiung Palästinas und einem Systemwandel beitragen?
Im Zuge des Genozids in Gaza ist der politische Bankrott der Partei DIE LINKE noch offener hergevortreten. Anstatt eine internationalistische Position einzunehmen und sich mit dem palästinensischen Volk zu solidarisieren, weigert sie sich, eine klare Haltung zu beziehen oder stellt sich in großen Teilen sogar unverhohlen auf die Seite Israels und des deutschen Imperialismus. Für viele, die sich enttäuscht von der LINKEN oder auch den Ampelparteien abgewendet haben, erscheint MERA25 als Hoffnungsschimmer. Insbesondere in der palästinasolidarischen Bewegung konnte sich die Partei durch ihren stark auf Palästina ausgerichteten EU-Wahlkampf einen Namen machen und genießt große Sympathien. Es handelt sich bei MERA25 um eine Sektion des Bündnis Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25), welches 2016 vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis ins Leben gerufen wurde und auch in Griechenland, Frankreich, Schweden und Italien zur EU-Wahl antritt. Sie selbst bezeichnet sich als „eine neue Partei für einen radikalen Wandel“, die zugleich „realistisch, rebellisch und radikal“ sei. Als sozialistisch will sich MERA25/DiEM25 explizit nicht verstanden wissen, sondern wählt „bewusst keine Bezeichnung, die über links und progressiv hinausgeht“, um ein möglichst breites politisches Spektrum abdecken zu können.
Was fordert MERA25?
Für Palästina/Israel hat DiEM25 richtigerweise die Zwei-Staaten-Lösung als gescheitert erkannt und fordert einen einzigen demokratischen, säkularen Staat im historischen Palästina, mit gleichen Rechten für Palästinenser:innen und Juden:Jüdinnen. Darüber hinaus schlagen sie einige kurzfristige Maßnahmen vor, um gegen die Unterdrückung und Ermordung der palästinensischen Bevölkerung vorzugehen. So solle die Europäische Union sofort die Staatlichkeit Palästinas anerkennen und ein an die BDS-Kampagne angelehntes Programm umsetzen. Dazu gehören „[d]as sofortige Embargo für Waffenverkäufe, Technologietransfers und Wartungsarbeiten nach/von Israel. Die sofortige Auflösung aller Militärbündnisse und Verträge der EU-Mitgliedstaaten mit Israel. Die sofortige Einstellung des gesamten Handels mit Siedlergemeinschaften in den besetzten Gebieten.“
Doch MERA25 spricht sich nicht nur gegen den Völkermord in Gaza aus, sondern schlägt auch recht umfassende ökonomische, soziale, ökologische und demokratische Reformen vor. Ihr Europawahlprogramm liest sich wie ein Flickenteppich aus Forderungen, die in den letzten Jahren innerhalb der breiteren politischen Linken populär wurden. So fordern sie europaweit die Einführung einer Jobgarantie – das heißt, dass Arbeitslose eine Beschäftigung vom Staat angeboten bekommen müssen – sowie eine Vier-Tage-Woche für alle europäischen Arbeiter:innen. Zusätzlich fordern sie die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens – von ihnen „universelles Lebenseinkommen“ genannt – welches lediglich 60 Prozent des Medianeinkommens des jeweiligen EU-Mitgliedstaates betragen soll.
Im Bezug auf den Umweltschutz greifen sie das vom „progressiven“ Flügel der US-amerikanischen Demokratischen Partei popularisierte Konzept des „Green New Deal“ auf. Durch massive staatliche Investitionen plant MERA25 „menschenwürdige grüne Arbeitsplätze zu schaffen, alle örtlichen öffentlichen Verkehrsmittel in Europa kostenlos oder günstig zu machen, Unternehmen bei der Umstellung auf eine klimaneutrale Produktion zu unterstützen“ um die europäische Wirtschaft gemeinwohlorientiert und ökologisch auszurichten. Finanziert werden sollen diese ambitionierten Projekte zum einen durch die Einführung einer Steuer auf Vermögen über 2 Millionen Euro, zum anderen durch eine veränderte Geld- und Fiskalpolitik, die sich stark an der Modern Monetary Theory orientiert.
Diese beruht auf der Annahme, dass Staaten in ihrer eigenen Währung nicht Pleite gehen können und daher eine hohe Neuverschuldung für Staatsausgaben problemlos möglich wäre. In der Vorstellung von MERA25 soll die Geldpolitik aus den Händen der Europäischen Zentralbank in die Hände des Europäischen Parlaments überführt werden, damit dieses dann eine „ermöglichende Geldpolitik“ im Sinne der „sozial-ökologische[n] Transformation aus unserem Kontinent“ beschließen könne. Auch die Abschottungs- und Abschiebepolitik der EU wird von der Partei kritisiert. Über den Anspruch, die Genfer Konvention und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte anzuerkennen und Kommunen zu unterstützen, die bereit sind, Geflüchtete aufzunehmen, gehen ihre Forderungen aber nicht hinaus. Offene Grenzen und ein Bleiberecht für alle sucht man im Wahlprogramm von MERA25 vergeblich.
Die EU, eine Institution des Fortschritts und Friedens?
Viele Aspekte des Programms von MERA25, wie den Stopp der Waffenlieferungen an Israel, die Arbeitszeitverkürzung und Vermögenssteuern sind durchaus unterstützenswert. Doch welche Strategie bietet die Partei an, um dieses Programm in die Tat umzusetzen?
Der Referenzpunkt für sämtliche ihrer Forderungen ist die Europäische Union. Die aktuelle EU wird von der Partei zwar für undemokratisch und neoliberal erklärt, ihre Kritik an dem Staatenbündnis bleibt aber oberflächlich und inkonsequent. Anstatt den Rahmen der EU radikal zu hinterfragen, spricht sie dieser ein grundsätzlich fortschrittliches Potenzial zu und will sie zu einer föderalen, europäischen Republik umbauen.
Als Hindernis identifiziert die Partei den übermäßigen Einfluss der „Oligarch:innen“ auf die Politik, der zu Vertrauensverlust der Bürger:innen in die EU und einer Politik im Interesse der Reichen führen würde. Dennoch hält sie genau diese von Oligarch:innen kontrollierte Institutionen der parlamentarischen Demokratie für geeignet, eine Demokratisierung des europäischen politischen Systems anzustoßen. Durch das Erzielen von linken Mehrheiten bei den EU-Wahlen und einer Machtverschiebung von Kommission und Rat hin zum Parlament, soll die EU von innen heraus reformiert und auf eine progressive Weise umgestaltet werden. Von dort aus will sich DiEM25/MERA25 für die Einführung von Bürger:innenräten als „Ergänzung“ zu den Organen der repräsentativen Demokratie sowie für die Einberufung von „verfassungsgebenden Volksversammlungen“ um die Grundlage für eine europäische Republik zu schaffen, einsetzen.
Es stellt sich die Frage, wie die friedliche Reformierung eines Systems, in dem mächtige Oligarch:innen die Kontrolle ausüben, in ein Instrument für progressive Veränderung, die den Interessen der Oligarch:innen zuwiderläuft, gelingen soll. Die Antwort bleibt DiEM25/MERA25 schuldig, denn die friedliche Reformierung der EU ist eine Illusion. Anstatt eine Perspektive zu bieten, wie Armut, Krieg und Umweltzerstörung tatsächlich überwunden werden können, schürt die Partei falsche Hoffnungen in das System, welches diese erst hervorbringt. Die EU ist seit ihrer Gründung ein Instrument in den Händen der Kapitalist:innen der führenden europäischen Länder, um ihren imperialistischen Erfolg in Europa und international zu sichern. Der undemokratische, militaristische, arbeiter:innenfeindliche und rassistische Charakter der aktuellen EU-Politik ist kein Ausdruck davon, dass diese von ihren Idealen abgekommen und auf die falsche Bahn geraten ist, sondern dass sie ihren ursprünglichen Zweck erfüllt. Auch keine „linksprogresssive“ Mehrheit oder Regierungsbeteiligung wird daran etwas ändern können.
Außenpolitisch möchte MERA25 die Souveränität Europas erhöhen und die EU zu einem eigenständigen Akteur auf der Weltbühne machen. Der zusammengeschweißte EU-Machtblock, solle sich vom „Vasallentum“ gegenüber den USA lösen und einen stärkeren Ausgleich mit dem russischen und chinesischen Regime suchen:
Wir wollen eine unabhängige und blockfreie Europäische Union, die sich dem globalen Frieden verschrieben hat. Ein umfassender internationaler Sicherheitsrahmen soll die Militärblöcke ersetzen und Spannungen mit friedlichen Mitteln lösen. Das Europa, das wir anstreben, sorgt für soziale und ökologische Gerechtigkeit innerhalb und zwischen den Nationen, beendet die Dominanz eines Landes über andere und pflegt friedliche und unabhängige Beziehungen zu Washington, Moskau und Peking. Kein Land dominiert ein anderes. Durch vermeidbare Kriege wurden zu viele Länder und ihre Bevölkerungen in Chaos, Tod und Vertreibung gestoßen. Europa muss sich mutig gegen alle Aggressoren aus jedem Block stellen und sich, gestützt auf die UNO-Charta, für friedliche Konfliktlösungen einsetzen.
Dass es sich bei den führenden Staaten der EU, Deutschland und Frankreich, selbst um imperialistische Großmächte handelt, die nicht plötzlich ein Interesse an Frieden und Gerechtigkeit in der Welt entwickeln werden, wird von MERA25 ausgeblendet. Durch den Einsatz für die Stärkung des imperialistischen Projekts EU wird deutlich, wie oberflächlich der von ihnen proklamierte „Internationalismus“ ist. Ihre Hoffnung basiert darauf, dass die Regierungen einsichtig sind bei der Beachtung von humanitären Grundsätzen und dem Völkerrecht, ohne den Antrieb von Kriegen in den imperialistischen Spannungen zu benennen: Dem Kampf um billige Arbeitskraft, Ressourcen, Absatzmärkte und Einflusszonen. Der Krieg in der Ukraine und der Genozid in Gaza zeigen wie illusorisch diese Hoffnungen sind. Eine Perspektive, wie die Arbeiter:innenbewegung selbständig gegen Kriege eintreten kann, etwa mit der Blockade von Waffenlieferungen, formuliert MERA25 in ihrem Parteiprogramm nicht.
Vertrauen in die Institutionen oder ein Ausweg der Arbeiter:innenbewegung?
Passend zu ihrem Anspruch, keine sozialistische Partei zu sein, fehlt im Programm von MERA25 auch jegliche Klassenperspektive. Diese ist jedoch unerlässlich, um eine Strategie zu entwickeln, die tatsächlich in der Lage ist, Forderungen wie die Befreiung Palästinas, ein Ende von Kriegen, Verarmung und Umweltzerstörung zu entwickeln. Die gesellschaftlichen Konflikte deutet MERA25 als Auseinandersetzung zwischen einem schwammig definierten europäischen Volk, zu dem Arbeiter:innen genauso wie Unternehmer:innen zählen können und einer ebenso so schwammig definierten Elite von Oligarch:innen und korrupten Politiker:innen. Ihr Populismus wird nicht, wie etwa vom Bündnis Sahra Wagenknecht, migrationskritisch und „anti-woke“, sondern „progressiv“ gewendet und soll auch Migrant:innen und queere Menschen mit einschließen. Er führt allerdings dazu, dass die strategische Position der Arbeiter:innenklasse im Kampf für Befreiung völlig ausgeblendet wird.
MERA25 will eine Partei der Bewegungen sein, entsprechend ist sie solidarisch mit den Palästina-Protesten. Doch formuliert sie auch für diese keine Perspektive, die darüber hinausgeht, progressive Politiker:innen in bürgerliche Institutionen zu wählen, wo diese dann auf die Einhaltung des Völkerrechts pochen. Diesen Weg zu gehen, wird die Palästina-Bewegung nicht voranbringen, sie kann sich sogar in den Hoffnungen auf die Parlamente und Gerichte verlieren.
So geschah dies auch mit der Linkspartei Syriza, die 2015 die griechische Regierung antrat, mit dem Wahlversprechen, die drastische, von EU und internationalen Gläubigern erzwungene Sparpolitik zu beenden. Damals in der Verantwortung als Finanzminister: Yanis Varoufakis, mittlerweile führender Kopf von MERA25/DiEM25. Seine Versuche, sich dem internationalen Druck zu widersetzen, scheiterten. Trotz einer Vielzahl von Generalstreiks gelang es der Syriza-Regierung nicht, sich gegen die EU und den internationalen Währungsfonds zu behaupten. Ihre Strategie war auf Verhandlungen ausgerichtet, nicht darauf, mit der Kraft der Arbeiter:innenbewegung die Kapitalist:innen zu enteignen. In einem verräterischen Akt setzte sie, trotz deutlicher Ablehnung in einem Referendum, die Spardiktate von EU und Gläubigern um. Varoufakis legte daraufhin sein Amt nieder.
Das Beispiel aus Varoufakis‘ Vergangenheit zeigt die Aussichtslosigkeit des institutionellen Weges. Die EU kann nicht reformiert werden, sondern ist ihrem ganzen Aufbau nach darauf ausgerichtet, dem Groß- und Finanzkapital zu dienen. Mit MERA25 haben wir gemein, dass wir die Macht der Oligarchie brechen wollen. Aber wir denken, dass es dafür notwendig ist, dass die Arbeiter:innenklasse ein unabhängiges politisches Programm aufstellt gegen die Festung Europa und den Aufstieg der extremen Rechten. Gegen Militarisierung und Kürzungspolitik, für Masseninvestitionen in Bildung, Klima und Gesundheit statt in Aufrüstung, finanziert durch die Enteignung der Gewinne und Vermögen der Kapitalist:innen. Gegen die undemokratischen Institutionen der EU und die Angriffe auf demokratische Freiheiten. Für die entschädigungslose Enteignung der Banken und Konzerne und eine ökologische Planung der Wirtschaft unter Arbeiter:innenkontrolle. Für offene Grenzen, sichere Fluchtrouten und volle soziale und politische Rechte für alle Migrant:innen.
Durchgesetzt werden können diese Forderungen nur mit den Methoden von Massenstreiks und dem Aufbau eigener demokratischer Rätestrukturen in den Betrieben, Ausbildungsstätten und Nachbarschaften, mit der Perspektive, die bürgerlichen Institutionen zu konfrontieren und zu ersetzen. Unsere Vision ist die der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa, keine Mitverwaltung oder Reform der EU des Kapitals.
Für dieses Ziel braucht es eine revolutionäre Partei, die ihren Schwerpunkt nicht in den Parlamenten, sondern den Kämpfen der Arbeiter:innen, Jugend und Unterdrückten hat, die diese ausweiten, vereinen und zum Sieg führen kann.
Eine große Hürde bei der Entwicklung einer schlagkräftigen, antiimperialistischen Arbeiter:innenbewegung sind die bürokratischen Führungen der Gewerkschaften. Diese tragen die Politik der bürgerlichen Regierungen im Wesentlichen mit und verhindern die Politisierung und Zusammenführung von Streiks. MERA25 hat aktuell keine klare Orientierung auf die Arbeiter:innenklasse und formuliert auch keine Perspektive, um diese bürokratischen Führungen zu konfrontieren und eine Alternative zu entwickeln. Wir beteiligen uns dagegen an dem Aufbau anti-bürokratischer Fraktionen in den Gewerkschaften und denken, dass es notwendig ist, der Bürokratie eine klare Perspektive der Selbstorganisation und des politischen Kampfes entgegenzustellen.
Des Weiteren können revolutionäre Wahlkandidaturen ein Schritt dazu sein, eine Alternative gegen Rechtsruck, Krieg und Krise aufzubauen. Nicht um Illusionen in die bürgerliche Demokratie zu schüren, sondern um sie zu entlarven und revolutionäre Ideen bekannter zu machen. Wir rufen also zu der Entwicklung einer sozialistischen Wahlfront auf, die nicht auf Verhandlungen in den Institutionen abzielt, sondern die Parlamente als Bühne nutzt, um den Klassenkampf zu stärken.
Trotz unserer strategischen Unterschiede wollen wir uns auch gemeinsam an der Seite mit MERA25 und anderen linken und gewerkschaftlichen Kräften in Proteste wie der aktuellen Palästina-Bewegung einbringen. Insbesondere brauchen wir eine Verbindung der Studierenden- und Arbeiter:innenbewegung, etwa bei der kommenden Tarifrunde an den deutschen Seehäfen. Die Hafenarbeiter:innen haben die Möglichkeit, Waffenlieferungen an Israel und weltweit zu blockieren. Lasst uns mit der Palästina-Bewegung eine Verbindung zu den Kolleg:innen suchen, damit wir nicht darauf hoffen müssen, dass EU-Institutionen oder UN-Resolutionen die Kriege beenden werden, sondern die Jugend- und Arbeiter:innenbewegung einen eigenen Ausweg findet.