Meine Gefühle, dein Spiegel
Seit dem 7. Oktober, werden wir, die hier lebenden „nicht-deutschen“ Menschen, noch stärker öffentlich angegriffen und abgestempelt, wir werden stets in unseren „Grundrechten“ beschränkt. Neben offiziellen Institutionen, die die „Ausländer:innen“ für das, was in Deutschland passierte, verantwortlich machen, machen auch viele Linke das Gleiche. Viele von uns müssen über ihr Leben und ihre Umgebung neu reflektieren, auch ich… Ein Gastbeitrag von Bahram Ghadimi.
Wieder einmal ist der Dezember da… und wie in jedem Dezember muss ich unweigerlich an den Januar denken. Um genau zu sein, ist es der 5. Januar, um den meine Gedanken jedes Jahr kreisen. Der 5. Januar, der Tag, an dem ich die Hölle der Islamischen Republik überlebte. Der Tag, an dem ich dazu verdammt wurde, nach einer unklaren Zukunft zu suchen, in einer Welt, die mir nie eigen werden sollte.
Es war eine Dezembernacht wie heute, als ich, damals noch in Maschhad, zu Nasser sagte: „Sollte ich nicht in den Iran zurückkehren können, werde ich…“. Ich verkaufte meine letzten Sachen, um die Kosten meiner Reise tragen zu können. Im Haus alter Familienfreunde verabschiedete ich mich von meiner Familie und ging. In Frankfurt angekommen, als ich die Treppen des Flugzeugs hinabstieg, durchdrang mich eine Kälte, die ich heute noch an meinem Leib spüre. Als ob es -20, -30 Grad gewesen wären.
Nur einige Tage später kam ich bei einem Genossen unter, der mich monatelang selbstlos bei sich aufnahm. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein, das werde ich nie vergessen. Genauso wenig vergesse ich die langen Nächte, die ich im Lamberts arbeitete, als wir die abgelaufenen, alten Schokoladen mit kochendem Wasser schmelzen mussten, um die Haselnüsse zur Wiederverwendung herauszulösen.
Es war erst nach dem Tod von Günter Sare, als ich richtig in Frankfurt ankam. Das Café Exzess wurde ein neues Zuhause für mich, ein Ort, an dem wir unsere gemeinsamen Träume, die bestehende Ordnung herauszufordern, miteinander teilten. Damals noch machten wir uns im Lahuti Kulturverein Bertolt Brecht zum Banner, um unsere Stimme gegen Ausbeutung und Rassismus zu erheben.
In der Zeit lernte ich dank eines Sozialarbeiters die ersten deutschen Familien kennen, mit denen ich mich anfreundete. So begegnete ich auch Thomas, der eine Zeit lang zu einer wichtigen Bezugsperson für mich wurde.
Noch vor dem zweiten Golfkrieg gründeten wir gemeinsam mit Thomas und anderen Leuten die Musikgruppe Intifada. Jahre später, als das Exzess eine Andenken-CD mit Liedern aller dort aufgetretenen Gruppen zusammenstellte, wurden wir wegen unserer Nähe zum palästinensischen Volk von der CD ausgeschlossen. Thomas war damals schon schwerkrank und ich schwieg und schaute weg – Ich verstand es damals nicht.
Damals und bis zum heutigen Tag dachte ich, dass Freundschaft und Genossenschaft ewig halten.
Dass es wohl eine persönliche Sache sein würde, sollte es ein Problem unter Freunden geben. Eine Sache, die auf einen individuellen Fehler zurückzuführen ist, und das man das dann einfach aus der Welt schaffen kann.
Ein Zeitsprung vorwärts zu jenen Tagen, als die Zapatistas Europa besuchten. Ich fühlte mich eins mit meinen deutschen Genoss:innen. Ihre Solidarität und ihre Worte waren an vielen Tagen wie Heilung für meine Wunden. Und doch gab es Momente der Warnung, die du erstmal nicht ernstnimmst.
Du schaust darüber hinweg und schenkst den Warnmomenten keine weitere Beachtung. Wenn die zapatistischen Genossen mal wieder eine halbe Stunde oder länger auf die „deutsche Pünktlichkeit“ der Genossen warten mussten, fragst du nach, ob sie sich so eine Verspätung auch leisten würden, wenn es sich um ein Treffen mit anderen Deutschen gehandelt hätte, und nicht um ausländische Genossen? Entgeisterte Blicke sind dann die Antwort. Spätestens dann, auf der Demo vom GIS (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) zur EZB (Europäische Zentralbank), tritt es zu Tage. Dann, als ihr gegen den deutschen Kapitalismus, gegen den amerikanischen Kapitalismus und gegen die EZB demonstriert und plötzlich die Aufforderung kommt, palästinensische Fahnen auszuschließen(!). Und so kam es, dass die Lautsprecher unserer „internationalistischen“ Genoss:innen die Palästinafahne der Demo verwiesen, damit es zu keiner „Spaltung“ kommt. Damit die „Antifa“ den Demonstrationszug nicht verlässt. Nicht zu vergessen, dass auch die Bilder der „Terroristin“ Leila Khaled runtergenommen werden sollten.
Langsam, langsam beginnen die Alarmglocken bei dir zu läuten. Langsam, langsam wird dir klar, dass die hiesigen „Antifaschisten“ mit ihrem Staat ziemlich gleicher Meinung sind, wenn es um „uns“ geht – Genoss:innen die nicht aus Deutschland stammen, also uns: Ausländer.
Du erinnerst dich an die „Antifaschisten“, die sich während der amerikanischen Invasion des Irak hinter den US-Imperialismus stellten, weil der „Faschist Saddam“ die PLO unterstützte und somit als Gefahr für Israel galt.
Du erinnerst dich an die „undogmatische Linke“ – Sympathisant:innen der Frankfurter Schule, die geistigen Kinder Habermas‘ – die sich hinter den deutschen Imperialismus stellten und den Angriffskrieg auf Jugoslawien forderten, um die dortigen „Faschisten“ zu vertreiben.
Und jetzt ist es der 7. Oktober, der Tag, an dem die Geschichte beginnt. Der Tag, an dem israelische Frauen und Kinder durch die Terroristen ermordet und verschleppt werden, und du hörst zum ersten Mal die „Antifaschisten“, sagen: „Hast du etwa selbst keine Kinder?“, oder: „Jetzt versteht man erst diese armen Leute, deren Kinder von ‚Faschisten‘ entführt wurden…“
Du schließt deine Augen und ein letztes Mal erinnerst du dich zurück. Wie verwundert du in den ersten Jahren in Deutschland warst, darüber, dass jedes Mal, wenn man Deutsche, die den Krieg überlebt hatten, danach fragte, was den Jüd:innen angetan wurde, sie ausnahmslos alle behaupteten, nichts von den Nazilagern gewusst zu haben.
Also fliehst du. Du flüchtest dich diesmal zu den linken israelischen und jüdischen Menschen. Zu jenen, die die Geschichte von viel früher in Erinnerung haben. Denjenigen, deren Großeltern von den Großeltern hiesiger „Antifaschisten“ in die Gaskammern geschickt wurden. Du flüchtest dich zu denjenigen, die seit Jahrzehnten das wache und bewusste Gewissen Israels sind. Männer und Frauen, die jeden Tag für ihre Haltung von Fremden und Bekannten beleidigt und beschimpft werden. Du flüchtest dich zum mutigen Orly Noy, zum großen Ilan Pappe, dem einzigartigen Moshe Zuckermann, zum leidenschaftlichen Finkelstein, zu Chris Hedges, Gideon Levy, Amira Hess und all den Männern und Frauen der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden“ und den vielen Wenigen, die sich weigern, Menschlichkeit nach Hautfarbe, Herkunft und Sprache aufzuteilen, denjenigen, die sich weigern, die Verbrechen der Herrschenden mitzuverantworten.
Und plötzlich öffnen sich wieder deine Augen und du merkst, dass du immer Ausländer warst, immer Ausländer bleibst – du beginnst zu begreifen, dass diejenigen, die Jahr um Jahr ihre faschistischen Großeltern besuchen, die keine ihrer Geburtstagsfeiern versäumen, dass jene dich anschauen und in dir ihren Feind sehen. Hinter deinem Rücken töten sie deinen Namen: “B ist Hamas-Symphatisant(!), und da die Hamas faschistisch ist, ist auch er…“
Ja, langsam verstehest du. Dass du dich 40 Jahre lang belogen hast. 40 Jahre lang dachtest du, dass ihr auf derselben Seite steht, dass auch du in der Solidarität mitgemeint bist, wenn ihr zusammen gegen NPD, AFD und sonstige Rechte demonstriert. Aber jetzt siehst du, dass, wenn es hart auf hart kommt, deine „Freunde“ näher an Aiwanger sind. Immerhin sagt Aiwanger ja, dass „in Deutschland kein Platz sei für Antisemitismus“, aber du?! Du verteidigst die Rechte des palästinensischen Volkes?! Endlich verstehst du, dass die Deutschen ja eigentlich nie Antisemiten waren, es sich um eine „importierte Krankheit“ aus arabischen und afrikanischen Ländern handelt, die droht ihre schöne, weiße Heimat zu beflecken.
Du siehst, wie die Antifa-Fahne zusammen mit Grünen, CDU, SPD und der FDP an der Paulskirche weht, und weißt, dass in einem Land, in dem jede Solidarität mit Palästina als Antisemitismus diffamiert wird, der Satz „In Deutschland ist kein Platz für Antisemiten“ für sie nur eine höflichere Form ist für „Ausländer raus“. Dass es ein Vorwand ist, die eigene deutsche Geschichte reinzuwaschen. Sie wollen sagen: Wir waren es nicht. Antisemitismus ist eine arabisches oder ausländisches Phänomen.
Du versucht dir einzutrichtern, dass das alles nur ein schlechter Fiebertraum ist. Dass es in anderen Städten anders läuft. Aber eine lateinamerikanische Freundin erzählt dir, dass ihr nach 40 Jahren in einem linken Hausprojekt verboten wurde, über den Krieg gegen das palästinensische Volk zu sprechen. Du siehst, wie sie mit Hilfe einer Fehlübersetzung die Zapatisten des Antisemitismus bezichtigen werden und niemand sich dafür interessiert, es zu korrigieren. Zapatisten sind ja auch nicht weiß. In Leipzig müssen sich Migrant:innen gegenseitig schützen und in Berlin sind Demonstrationen erst möglich, wenn Exilierte, Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund diejenigen Gruppen verlassen, die mehrheitlich deutsch sind und sich zusammentun. Gemeinsam mit jüdischen Aktivist:innen organisieren sie Aktionen für Palästina.
Auf der anderen Seite häufen sich die Erklärungen von deutschen linken Gruppen, die gezwungen waren, sich zu äußern und den Krieg anscheinend kritisieren. Aber auch darin wird allzu oft das Narrativ des israelischen Staates aufgegriffen. Und so kommt es zu einer Annäherung zwischen Gruppen, die den Zionismus unterstützen und den deutschen Linken, die bis vor kurzem noch eine kritische Haltung zeigten.
In dieser Situation hoffe ich, dass sie in der Zukunft, wenn sie gefragt werden, was sie getan haben, als der Völkermord an den Palästinenser:innen begangen wurde, nicht antworten:
Wir wussten von nichts.
Ja und so kommt es, dass du einsiehst, dass du ein Ausländer bist. Einsam und allein gegen den Staat, die Parteien, die Mehrheit der linken Gruppen. Gegen die Macht des Kapitals.
Du siehst ein: Deine einzigen Verbündeten in diesem Land sind Ausländer wie du selbst und sich für den Frieden einsetzende Jüd:innen…
Und du erinnerst dich an Kurt Tucholsky: „Deutsch bleibt Deutsch, da helfen keine Pillen.“