Meine Erfahrungen in einer demokratisch-zentralistischen Organisation
Dieser Artikel zielt darauf ab, einige der (falschen) Vorstellungen über den demokratischen Zentralismus aus erster Hand zu beleuchten und seine entscheidende Rolle beim Aufbau einer revolutionären Organisation zu erläutern.
Meine Verteidigung des demokratischen Zentralismus basiert sowohl auf theoretischen Überlegungen als auch auf praktischen Erfahrungen. Einerseits bin ich davon überzeugt, dass eine revolutionäre Partei, die nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus organisiert ist, notwendig ist, um eine Revolution zu gewinnen. Eine solche Partei sollte Tausende von engagierten Mitgliedern umfassen, die mit einem klaren Programm und einer klaren Strategie handeln. Dies ist für mich jedoch keine rein theoretische Diskussion, da ich selbst 10 Jahre lang Mitglied der Sozialistischen Arbeiter:innenpartei (Partido de los Trabajadores Socialistas, kurz PTS – Schwesterorganisation von RIO – Revolutionäre Internationalistische Organisation, die klassegegeenklasse.org herausgibt) in Argentinien war und hautnah erlebt habe, wie der demokratische Zentralismus in der Praxis funktioniert.
Aufgrund der argentinischen Wirtschaftskrise zu Beginn der 2000er Jahre war es mir nicht möglich, zu studieren. Stattdessen arbeitete ich im Jahr 2006 an den Spielautomaten in einem Casino. Die Arbeitsbedingungen waren schrecklich: Die niedrigen Decken, dunklen Räume, der Rauch und Lärm der Spielautomaten waren unerträglich. Ein Drittel der Mitarbeiter:innen litt unter Depressionen, und einige meiner Kolleg:innen erlitten sogar aufgrund der sechstägigen Acht-Stunden-Schichten Fehlgeburten. Als 70 einfache Angestellte entlassen wurden, kämpften wir für eine Verkürzung der Arbeitszeit auf sechs Stunden. Daraufhin streikten fast 1.000 Casinomitarbeiter:innen gegen die Entlassungen.
Ich war neu in der Politik und kannte Marx und Trotzki nicht, aber ich wusste, dass die Bosse meine Feind:innen waren und dass ich mich mit meinen Kolleg:innen zusammenschließen musste, um gegen diese schrecklichen Bedingungen zu kämpfen. Im Jahr 2008, im Alter von 23 Jahren, trat ich der PTS bei. Die PTS integrierte den gewerkschaftlichen Kampf in demokratische Versammlungen, in denen die Basis nicht nur untereinander diskutierte, sondern auch Schulungen über die Geschichte der argentinischen Arbeiter:innenbewegung organisierte, die unserem Kampf einen Kontext und ein tieferes Verständnis verliehen.
Obwohl jede Organisation ihre Widersprüche hat, sollte die Art der Gruppe, die wir aufbauen, auf unserem langfristigem Ziel basieren: der gewaltsamen Enteignung der Kapitalist:innenklasse und der demokratischen Verwaltung der gesamten Gesellschaft durch die Arbeiter:innenklasse. Dieses Ziel erfordert den Aufbau einer Partei, die sich im aktuellen Klassenkampf der Kapitalist:innenklasse entgegenstellt und gleichzeitig auf den kommenden Aufstand vorbereitet.
Warum also der demokratische Zentralismus, um diese revolutionären Ziele zu erreichen? Der demokratische Zentralismus bedeutet im Grunde genommen, eine breite interne Demokratie zu fördern, um geschlossen zu handeln und mit vereinter Kraft gegen den kapitalistischen Staat und seine Institutionen zu kämpfen. Es ist kein starres Modell oder eine vorgefertigte Formel, sondern ergibt sich aus der historischen Notwendigkeit, die der Klassenkampf einer Organisation auferlegt, die auf den Triumph der Arbeiterrevolution abzielt.
Warum Demokratie?
Der einzige Weg für eine sozialistische Organisation, das erforderliche Maß an Einheit in der Aktion zu erreichen, besteht darin, mit dem höchsten Grad an Demokratie zu arbeiten, der im politischen Moment zulässt. Die Disziplin, die während des akuten Klassenkampfes herrscht, resultiert aus der breiten Demokratie in weniger repressiven Zeiten. Die Notwendigkeit der Aktionseinheit während des Klassenkampfes basiert auf einem gemeinsamen Programm und einer gemeinsamen Strategie, die nur durch eine umfassende Debatte erreicht werden können. In Zeiten relativer Ruhe, in denen es kaum Klassenkampf oder Repression gibt, konzentriert sich eine Organisation darauf, durch breite demokratische Debatten und Diskussionen eine gemeinsame Strategie, ein Programm und eine gemeinsame Praxis zu schaffen.
In solchen Momenten wird das politische Geschick einer Führung daran gemessen, wie gut sie die Organisation auf entscheidende Momente des Klassenkampfes vorbereiten kann. Das Vertrauen der Mitglieder in ihre gewählte Führung gründet sich nicht nur auf ihr Handeln im Klassenkampf, sondern auch auf ihre politische Vision und ihr Eingreifen in das Innenleben der Organisation. Dies beinhaltet eine Vision für nationale und internationale Politik, ein Verständnis der dynamischsten Phänomene, eine Hypothese darüber, wohin sich der Klassenkampf entwickeln wird, sowie Offenheit für Diskussion und Kritik.
Die Anführer:innen müssen daher in der Lage sein, eine korrekte politische Theorie für die Gruppe zu entwickeln und ihre Positionen zu überdenken, wenn sich ihre Theorie als falsch erweist. Wie Leo Trotzki sagt:
Ein Revolutionär wächst nur in einer Atmosphäre der Kritik an allem Bestehenden auf, auch an seiner eigenen Organisation. Eine feste Disziplin kann nur durch bewusstes Vertrauen in die Führung erreicht werden. Dieses Vertrauen kann nicht nur durch eine korrekte Politik, sondern auch durch eine ehrliche Einstellung zu den eigenen Fehlern gewonnen werden.1
Unser Ziel sollte es sein, eine Partei von Anführer:innen aufzubauen, in der die Genoss:innen, ob sie nun als gewählte Führer:innen fungieren oder nicht, über die Ausrichtung der Organisation nachdenken und diskutieren können. Die gewählten Führungspersonen sollten einen Aspekt der politischen Ausrichtung der Organisation repräsentieren. Sie sollten nicht nur die politisch klügsten sein, sondern auch am besten dafür geeignet sein, die dringenden Aufgaben umzusetzen, die von der Partei beschlossen wurden. In diesem Sinne sollten die Führungspersönlichkeiten regelmäßig und individuell gewählt werden, nicht nach einem Schema F. Ihre Bewertung sollte auf der Grundlage ihrer bisherigen politischen Arbeit erfolgen.
Die interne Demokratie bereitet eine Organisation nicht nur darauf vor, in die Realität einzugreifen, sondern bildet auch neue Kader und Anführer:innen aus. Wie Trotzki sagt:
„Das Regime der Parteidemokratie kann nur dann zur Schaffung einer gehärteten und einmütigen Armee proletarischer Kämpfer führen, wenn unsere Organisationen, die sich auf die festen Prinzipien des Marxismus stützen, bereit sind, unversöhnlich, aber mit demokratischen Methoden, alle opportunistischen, zentristischen und abenteuerlichen Einflüsse zu bekämpfen“.2
Entscheidend für die interne Demokratie sind die politischen Debatten und Diskussionen über die Ausrichtung der Organisation, die verschiedenen Arten der Unterdrückung, den Marxismus, die internationale Praxis der Organisation und andere wichtige Bestandteile der sozialistischen Strategie. Ohne diese Diskussionen gäbe es keine Möglichkeit, die Organisation kritisch zu hinterfragen und über das Beste für sie nachzudenken. Die Demokratie würde zu einer bloßen Formalität verkümmern. Diese Debatten ermöglichen es uns, unterschiedliche Perspektiven zu beleuchten und zu einer fundierten Entscheidungsfindung zu gelangen, die im Interesse der gesamten Organisation liegt.
Die Mitglieder müssen uneingeschränkte Freiheit haben, um zu debattieren, zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen. Diese Freiheit wird strukturell durch Kongresse, Konferenzen, Mailinglisten und das Recht, Minderheitsmeinungen in den Publikationen der Organisation zu äußern, gewährleistet. Die Mitglieder sollten das Recht haben, Tendenzen und Fraktionen zu bilden, die vorübergehende Zusammenschlüsse auf der Grundlage einer bestimmten politischen Position sind.
Bei den letzten Kongressen der PTS (die über vier Tage dauerten) wurde eine Online-Streaming-Möglichkeit bereitgestellt, sodass die 3.000 Mitglieder die vollständigen Debatten verfolgen konnten. Am Ende wurden die Debatten von den Delegierten in Abstimmungen über Entschließungen zusammengefasst. Dies ermöglichte eine breite Beteiligung und Transparenz bei der Entscheidungsfindung innerhalb der Organisation.
Der „demokratische Zentralismus“ sollte keinesfalls als Instrument dienen, um Differenzen zu verbergen, Debatten zu unterdrücken oder jegliche Kritik zum Schweigen zu bringen. Solche bürokratischen Verzerrungen, die vom Stalinismus eingeführt wurden und sich bedauerlicherweise in vielen Organisationen, die sich als revolutionär bezeichnen, wiederholen, sollten vermieden werden. Die Freiheit, abweichende Meinungen zu vertreten und Tendenzen und Fraktionen zu bilden, ist ein wesentlicher Bestandteil einer gesunden Organisation. Sie bereichert die Debatte zwischen den verschiedenen Perspektiven und Sensibilitäten, die zwangsläufig in jeder Gruppe vorhanden sind.
Mit anderen Worten: Eine revolutionäre Organisation sollte und muss aus einer Vielzahl von Mitgliedern bestehen, darunter Arbeiter:innen, Student:innen, Intellektuelle, Menschen aus den ärmsten Vierteln und anderen unterdrückten Sektoren. Ihre Vielfalt und ihre unterschiedlichen Erfahrungen bereichern den Diskurs der Organisation und stärken die Verbindung zu den realen Kämpfen und Bedürfnissen der Unterdrückten.
Eine revolutionäre Gruppe sollte eine politische Ausrichtung auf Immigrant:innen ohne Papiere, People of Color, Trans-Personen und andere Gruppen der am meisten unterdrückten Sektoren der Gesellschaft haben, die in sozialen Bewegungen für eine revolutionäre und sozialistische Perspektive kämpfen. Jeder dieser Sektoren innerhalb einer Organisation hat seine eigene Perspektive und bringt die unterschiedlichen Kämpfe und Schwierigkeiten an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Gemeinschaften sowie die Widersprüche zum Ausdruck, die sie unter Druck setzen. Das macht sie zu den Ohren der Partei, die den Massen zuhören und sich auf die politische Realität der Arbeiterklasse einstellen und dafür sorgen, dass diese unterschiedlichen Perspektiven gehört werden. Es ist von zentraler Bedeutung, dass die am stärksten Unterdrückten in der Führung vertreten sind – nicht aus Alibi-Gründen, sondern als echte Führer, die die Gruppe auf die am meisten Unterdrückten und Ausgebeuteten ausrichten. Die Rolle der Partei besteht darin, diese unterschiedlichen Sensibilitäten unter dem Dach eines gemeinsamen Programms und einer gemeinsamen Strategie zusammenzubringen und sie zu synthetisieren, um effektiver in den Klassenkampf und die sozialen Bewegungen eingreifen zu können.
Lass uns weniger abstrakt sein. In den Vereinigten Staaten besteht eine entscheidende Aufgabe einer revolutionären Gruppe darin, zu erörtern, wie man sich mit der neuen Generation von „Sozialist:innen“ auseinandersetzt: den mehr als 50 % der jungen Menschen, die laut Umfragen den Sozialismus dem Kapitalismus vorziehen. Zwar ist es von entscheidender Bedeutung, dem Druck von Wählern und Reformisten zu widerstehen und den Grundsatz der Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von kapitalistischen politischen Parteien aufrechtzuerhalten, doch ist es auch notwendig, eine Gruppe aufzubauen, die durch Diskussionen und Debatten und nicht durch Befehle von oben zu diesem Schluss gekommen ist. Darüber hinaus sollte eine Fraktion erörtern, wie sie mit der neuen Generation von Sozialist:innen in Kontakt treten kann, ohne Sektierertum, aber auch ohne falsche Illusionen über progressive Demokraten zu fördern. Um sich in diesem komplexen Szenario zurechtzufinden und mit Kolleg:innen und Freund:innen über Politik zu diskutieren, muss die Partei die lebhafteste interne Debatte begrüßen. Gleichzeitig sollte sich eine Gruppe auf repressive Situationen wie bei Black Lives Matter Demonstrationen in Baltimore und Ferguson sowie auf die Konfrontation mit faschistischen Gruppen wie in Charlottesville im Jahr 2017 vorbereiten.
Warum Zentralismus?
In Vorbereitungszeiten wie heute wird die Parteiführung danach beurteilt, wie sie mehrere Aufgaben erfüllt: wie sie auf politische und strategische Debatten reagiert, gegen Reformismus und versöhnlerische Strömungen kämpft, die Fähigkeit zur Selbstkritik und politischen Bildung der Organisation etabliert, politische Kampagnen durchführt, eine Parteizusammensetzung entsprechend ihrer programmatischen Ziele entwickelt und ein demokratisches Innenleben gewährleistet.
Ein erfolgreicher (politischer und physischer) Kampf gegen die Bourgeoisie und ihren Staat – der aus Hunderttausenden von Beamten, einem tödlichen Repressionsapparat und Agenten innerhalb der Arbeiterklasse, wie der Gewerkschaftsbürokratie, besteht – erfordert eine zentralisierte Organisation, die in Zeiten des Umbruchs schnell und effektiv handeln kann. Dies ist nur durch eine einheitliche Aktion möglich.
In Momenten, in denen die Zeit knapp ist und die Ereignisse eine sofortige Reaktion erfordern, ist Disziplin erforderlich, um zusammenzuarbeiten. Aber diese Disziplin wird nur durch das Vertrauen erreicht, das über Jahre gemeinsamer Erfahrung und Intervention im Klassenkampf sowie eine gemeinsame politische Entwicklung mit den Mitgliedern der Organisation aufgebaut wurde. Wenn Gummigeschosse durch die Luft pfeifen und Tränengas die Sicht vernebelt, wenn die physische Sicherheit der Gruppe bedroht ist, liegt die Verantwortung für Entscheidungen bei denjenigen, die sich im Laufe der Zeit das Vertrauen der Mitglieder verdient haben: Entscheidungen wie die, ob wir der Polizei entgegentreten oder uns zurückziehen, ob wir zurückschlagen oder gewaltlos Widerstand leisten und dabei unseren Körper aufs Spiel setzen. Dies sind die Art von Entscheidungen, die schnell und ohne große Diskussionen getroffen werden müssen, und wir müssen uns dabei auf unsere Führung verlassen.
Ich habe mich oft am Widerstand auf der Straße gegen repressive staatliche Kräfte beteiligt. Ich habe Autobahnen und Bahngleise blockiert, Fabriken und Ämter besetzt, an Streikpostenketten teilgenommen und miterlebt, wie meine Genoss:innen von der Polizei verprügelt und verhaftet wurden.
In der PepsiCo-Fabrik, in der die PTS den Betriebsrat leitete, koordinierten die PTS und die gewählte Führung der Fabrik spontan eine massive Verteidigung der Fabrik, als die Räumung unmittelbar bevorzustehen schien. Hunderte von PTS-Aktivist:innen und Unterstützer:innen am Eingang der Fabrik fungierten als menschliche Schutzschilde für die Fabrik und zogen sich zurück, als die Polizei sie gewaltsam schlug. Dies war eine Entscheidung: Wir würden keine Offensive gegen die Polizei starten, aber wir würden sie nicht kampflos eindringen lassen. Unsere gewählten Vertreter:innen standen an vorderster Front, sprachen zu den Medien und wurden mit Pfefferspray besprüht. In der Zwischenzeit bemühten sich die Anwält:innen bei den Gerichten um die Freilassung der verhafteten Genoss:innen, andere Genoss:innen machten einen Live-Stream, während wieder andere die internationale Presse kontaktierten. Diese Aktion wurde von der gewählten Parteiführung und der Führung des Betriebskomitees geleitet, zusammen mit den Arbeiter:innen, die die PepsiCo-Fabrik besetzten.
Dennoch habe ich nie Befehle befolgt, wie ein Soldat in der kapitalistischen Armee. In einer regulären Armee hat man kein Mitspracherecht in Bezug auf die Ziele oder den Plan; die meiste Zeit wird man zur Teilnahme gezwungen, mit der Angst, ins Gefängnis zu kommen, wenn man sich weigert. Das ist das Gegenteil von dem, was demokratischer Zentralismus bedeutet.
Jede Organisation, die sich auf den Klassenkampf, geschweige denn auf eine Revolution vorbereitet, wird mit Situationen konfrontiert, in denen sie nicht nur mit den repressiven Kräften des Staates, sondern auch mit Gruppen konfrontiert wird, die außerhalb des legalen Rahmens des Staates agieren, wie organisierte Faschist:innen, Paramilitärs oder Streikbrecher:innen. Konterrevolutionen und Militärdiktaturen oder Momente, in denen eine Organisation schnell und verdeckt handeln muss, um die Sicherheit der gesamten Gruppe zu gewährleisten, erfordern eine hohe Disziplin im Handeln. Diese schwierigen Situationen lassen keine Zeit für lange Debatten; die Dringlichkeit der sich rasch verändernden Umstände gibt einer schnellen Reaktion und einem einheitlichen Vorgehen den Vorrang. Die wichtigsten Entscheidungen in diesem Moment sollten dann von der demokratisch gewählten Führung getroffen werden. In solchen Momenten bewährt sich die Führung einer revolutionären Organisation durch ihre Entschlossenheit, ihren Mut und ihre Einsicht, wenn die Organisation den extremen Bedingungen der Unterdrückung, die der kapitalistische Staat in bestimmten historischen Momenten anwendet, entgegentritt.
Arbeiter:innendemokratie
Demokratie ist nicht nur für die interne Arbeit der Organisation von zentraler Bedeutung, sondern auch für die Intervention in der Arbeiter:innenbewegung und den Aufbau der Grundlagen für die Art von Gesellschaft, die wir wollen. Wenn unser Ziel eine demokratisch von der Arbeiter:innenklasse geführte Gesellschaft ist, dann ist es die Aufgabe von Revolutionär:innen, für die weitestgehende Demokratie für Arbeiter:innen zu streiten, sowohl innerhalb der Gewerkschaften als auch in Kämpfen, in denen sich die Massen demokratisch und horizontal organisieren.
Sozialist:innen versuchen nicht, die Disziplin, das Programm oder die Ideen unserer Organisation den Organisationen der Massen aufzudrängen. Denn das würde unserem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft, die von Arbeiter:innen geführt wird, nicht dienen. Wir unterstützen die Freiheit, verschiedene Tendenzen innerhalb der Gewerkschaften zu bilden und allen politischen Ausdrucksformen eine Stimme und das Recht zu geben, für ihre Ideen zu kämpfen.
Die Arbeiter:innen werden nicht zu sozialistischen Schlussfolgerungen kommen, wenn sie von oben diktiert werden; Klassenkämpfe und politische Kämpfe zwischen Tendenzen müssen erlaubt sein, um zu erkennen, wer welche Position vertritt und welche davon man richtig findet. Selbst wenn wir in die Führung gewählt werden, nutzen wir den Raum, um eine möglichst breite Arbeiter:innendemokratie zu gewährleisten. Das bringt uns unweigerlich auf Kollisionskurs mit der Gewerkschaftsbürokratie, denn deren Ziel ist es, die Radikalisierung der Arbeiter:innen einzudämmen und zu kontrollieren.
Es reicht nicht aus, ein korrektes Programm im Klassenkampf zu haben. Revolutionäre gewinnen den Respekt unserer Kolleg:innen, indem sie die Nöte unserer Klasse teilen, indem sie tagtäglich gegen unsere Bosse kämpfen und indem wir die am meisten Unterdrückten unter uns konsequent verteidigen, auch an unseren Arbeitsplätzen. Sozialist:innen erproben ihre Ideen jeden Tag bei der Arbeit, in den Pausen und bei gesellschaftlichen Veranstaltungen. Und in Momenten des Klassenkampfes können Revolutionäre das Recht gewinnen, Arbeiterorganisationen zu führen, indem sie die richtige Taktik für den Kampf vorschlagen.
Ein Beispiel für die Arbeiter:innendemokratie und die Freiheit der Tendenzen ist die Keramikfabrik Zanon in Argentinien, eines der wichtigsten Beispiele für die Arbeiter:innenbewegung in der Welt, die seit fast 20 Jahren ohne Chefs arbeitet. Das oberste Entscheidungsgremium ist die Betriebsversammlung, in der es keine Manager oder Aufseher gibt. Raúl Godoy ist einer der wichtigsten Führer der Fabrik und der Keramikgewerkschaft und Mitglied der PTS, der einzigen sozialistischen Organisation, die von Anfang an in der Fabrik tätig war. Nach der Übernahme der Fabrik durch die Arbeiter:innen im Jahr 2001 wurden neue Arbeitsplätze für Mitglieder politischer Bewegungen arbeitsloser Arbeiter:innen geschaffen, die in anderen linken Gruppen organisiert waren und die die Arbeiter:innen während der Übernahme der Fabrik unterstützt hatten. Diese Arbeitsplätze ermöglichten es weiteren linken Organisationen, sich am Entscheidungsprozess in der Fabrik zu beteiligen. Godoy, der maßgeblich an der Förderung dieses Vorschlags beteiligt war, erklärte, dies würde „die Versammlungen bereichern“. Er fügte hinzu: „Wir haben volles Vertrauen in die Arbeiter:innendemokratie, volles Vertrauen in die politische Debatte.“ 3
In anderen Arbeitskämpfen, in denen sich die Leitung des Betriebs aus Mitgliedern der PTS zusammensetzt, wenn Verhandlungen zwischen Kapitalist:innen und Arbeitnehmer:innen stattfinden und der Staat als vermeintlicher Vermittler auftritt, werden Entscheidungen nicht hinter verschlossenen Türen getroffen. Im Gegenteil: Bevor ein Angebot abgelehnt oder angenommen wird, müssen alle Einzelheiten der Bedingungen veröffentlicht werden, damit sie von allen Arbeitnehmer:innen des betreffenden Unternehmens geprüft werden können. Erst dann wird eine Abstimmung durchgeführt. Wir verwenden diese Methode aus zwei Gründen: Erstens, weil es das Recht der Arbeitnehmer:innen ist, über die Fragen an ihrem Arbeitsplatz zu entscheiden, und zweitens, weil Transparenz im Verhandlungsprozess der beste Weg ist, die Manöver und Ablenkungsmanöver der Bosse und des Staates aufzudecken, die immer versuchen, den Arbeitnehmer:innen weniger zu geben, als sie fordern und verdienen. Diese Methode entwickelt neue Arbeiter:innnenführer:innen, regt die aktive Beteiligung von Aktivist:innen an und trägt durch Diskussionen zur politischen Entwicklung der Arbeitnehmer:innen bei.
Im Gegensatz dazu entscheiden die Gewerkschaftsbürokratien hinter dem Rücken der Arbeitnehmer:innen, weil sie kein Interesse an einer aktiven Basis haben, die sich in die Diskussion einbringt und am Entscheidungsprozess teilnimmt. Das macht es der Bürokratie leichter, ihre eigenen Privilegien aufrechtzuerhalten, indem sie sich mit den Kapitalist:innen gut stellt, anstatt die Basis für den Klassenkampf zu mobilisieren.
Reformistische und zentristische Organisationen (die zwischen Reform und Revolution schwanken) neigen ebenfalls dazu, den Kampf für Arbeiter:innendemokratie aufzugeben, um Zugeständnisse oder Führungspositionen zu gewinnen. Für sie besteht das Hauptziel darin, von den Bossen ein Zugeständnis zu erhalten, bei dem die Arbeitnehmer:innen zwar Verbesserungen erzielen, aber von der Idee der Beendigung der kapitalistischen Ausbeutung abgekoppelt bleiben. Für Revolutionär:innen besteht unser oberstes Ziel darin, diese Arbeitskämpfe in Kriegsschulen zu verwandeln, die die Arbeiter:innenklasse auf die Revolution vorbereiten: Schulen, in denen die Arbeiter:innen durch Erfahrung lernen, dass die Bullen unsere Feinde sind, dass die Rolle des Staates und der Gewerkschaftsbürokratie darin besteht, sie in Schach zu halten, dass unsere Kämpfe eine lange Geschichte haben, dass die Arbeiter:innenklasse eine Einheit ist und dass letztlich nur der Sozialismus unsere Probleme lösen kann.
Arbeiter:innendemokratie gegen bürokratische Zentralisierung
Beispiele für Arbeiter:innendemokratie in größerem Maßstab finden sich in der gesamten Geschichte der Arbeiter:innenklasse. Sie trat in Form verschiedener Arten von Räten und Versammlungen auf, wobei das beste Beispiel die Sowjets der Russischen Revolution sind. Die Sowjets entstanden in ganz Russland vor der Machtergreifung und waren große, sich selbst organisierende Massenorgane, an denen Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Soldat:innen teilnahmen. Unter dem Einfluss der bolschewistischen Partei spielten sie die Hauptrolle in der wichtigsten Episode der Menschheitsgeschichte, der Revolution von 1917.
Nach dieser Erfahrung strebt eine revolutionäre Partei nicht danach, die einzige Stimme zu sein oder die totale Kontrolle zu haben, sondern vielmehr Teil einer viel größeren Bewegung zu sein. Anstatt den Massen ihr Programm aufzuzwingen, versucht sie, sie von ihren Vorstellungen über die zu verfolgende Richtung zu überzeugen – zunächst im revolutionären Prozess der Machtergreifung und dann bei der Konsolidierung der Sowjets als höchstem Organ im Prozess der Verteidigung der Revolution und der Beseitigung der Überreste des alten Systems. Letztendlich ist eine Revolution, wie Trotzki sagte, nichts anderes, als dass die ausgebeuteten Massen die Zügel ihres eigenen Schicksals in die Hand nehmen.
Was ich zu zeigen versuche, ist, dass demokratischer Zentralismus nichts mit der stalinistischen Perversion der „bürokratischen Zentralisierung“ zu tun hat, bei der die Debatte zensiert wird. Es kann kein demokratisches Innenleben im Rahmen eines Einparteienregimes geben, das alle Arten von Selbstorganisation der Arbeiter:innenklasse erstickt hat. Ebenso wenig kann es ein demokratisches Innenleben im Rahmen der angeblichen Demokratie breiter neoreformistischer Organisationen geben, denen es an politischer Übereinstimmung oder einer Strategie zur Machtübernahme mangelt. Wie kann es auch nur ein Minimum an Einheit in der Aktion geben, wenn sich niemand darüber einig ist, wohin die Gruppe gehen soll?
Es ist eine spannende Herausforderung, eine internationale Organisation aufzubauen, die für eine sozialistische Revolution kämpft. Eine solche Aufgabe kann nie frei von intensiven Debatten sein. Wie Trotzki sagen würde: „Wie könnte eine echte revolutionäre Organisation, die sich zum Ziel setzt, die Welt aus den Angeln zu heben, und um ihr Banner verwegene Verneiner, Aufrührer und Kämpfer schart, auch leben und sich entwickeln ohne Ringen der Ideen, ohne Gruppierungen und zeitweilige Fraktionsbildungen?“4
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf unserer US-amerikanischen Schwesterseite Left Voice.
Fußnoten
1. Erklärung der Internationalen Linken Opposition zur Linkssozialistischen Konferenz, The Militant, September 1933.
2. ebd.
3. Interview mit Raúl Godoy. „Zanon, el hilo rojo“ (Zanon, der rote Faden).
4.Leo Trotzki, Verratene Revolution, Kapitel 5: „Entartung der bolschewistischen Partei“.