Mehr Überwachungsstaat nach Messerattacke in Solingen
Die Ampelregierung nutzt das Attentat von Solingen, um die digitalen Befugnisse der Ermittlungsbehörden massiv auszubauen.
Eine „zeitgemäße Regelung“ für Wirtschaftsstaatssekretärin Anja Hajduk (Grüne), ein „biometrischer Überwachungsexzess“ für den Chaos Computer Club. Nach dem Anschlag von Solingen hat sich die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP auf ein „Sicherheitspaket“ geeinigt. Zentral darin enthalten sind neue Kompetenzen für Ermittlungsbehörden. Gesichtserkennung, Big-Data-Analysen, eigene KI-Tests und Trainings – all das soll bald möglich werden, meldet das Bundesinnenministerium.
Mit Islamismusbekämpfung als Zielsetzung sollen Polizeibehörden künftig die Befugnis zum biometrischen Abgleich von Internetdaten erhalten. „Damit wird es möglich sein, Tatverdächtige oder gesuchte Personen schneller zu identifizieren“, so Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Die Neuerung liegt vor allem in der Beschaffung der durchsuchbaren Daten. Da polizeiliche Datenbanken aufgrund des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) bis dato strengeren Regeln unterlagen, hatten sie 2020 Zugang zu etwa 5,8 Millionen Gesichtsbildern, wie aus einer damaligen Anfrage an die Regierung hervorging. Kommerzielle Datenbanken sind deutlich umfassender. Die auf KI-basierte Gesichtserkennung spezialisierte US-Firma Clearview verfügte im selben Jahr bereits über drei Milliarden und 2022 sogar über 20 Milliarden Porträtfotos. Das Unternehmen selbst verfolgt indes das Ziel, „fast jeden auf der Welt“ identifizieren zu können. Diesem Vorbild sollen die staatlichen Behörden nun folgen.
Die automatisierte Analyse solcher Datenmengen soll mit KI-gestützter Auswertung perfektioniert werden. Dem BKA und der Bundespolizei werden außerdem das Testen und Trainieren von Daten für KI-Anwendungen im eigenen Hause ermöglicht. Als implizites Vorbild kann das vom rechts-libertären Milliardär Peter Thiel gegründete US-Unternehmen Palantir gelten, zu dessen prominenter Kundschaft unter anderem die US-amerikanischen Ermittlungsbehörden oder das israelische Militär zählen. Auch deutsche Behörden starteten bereits einige Palantir-Anwendungsversuche, die allerdings vom Bundesverfassungsgericht gestoppt wurden. Das könnte sich jetzt ändern. Und nicht nur die Polizei soll von diesen Datenbanken und Technologien profitieren – auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge soll künftig Gesichtserkennung anwenden dürfen. Da solche personenbezogenen Daten ohne Zustimmung der betroffenen Personen gesammelt werden – Clearview etwa bezieht seine Gesichtsfotos durch sogenanntes Screen Scraping von Social Media oder YouTube – ist eine Gesetzesänderung erforderlich. Für den aktuellen Schulterschluss zwischen Ampel und CDU wird das keine Hürde sein.
Die Regierung macht sich also – unter Druck von AfD und CDU-Chef Friedrich Merz – die aufgeheizte Stimmung im Land zunutze, um den staatlichen Überwachungs- und Repressionsapparat massiv auszubauen. Die Anwendung dieser Kompetenzen wird sich nicht nur auf akute Terrorbekämpfung beschränken, sondern vor allem migrantische, queere, klimaaktivistische und linke Strukturen ins Visier nehmen – kurz, eben jene Strukturen, die dem Staat ohnehin ein Dorn im Auge sind. Wie das genau aussehen könnte, lässt sich an einem aktuellen Beispiel ablesen. So konnte vor kurzem das ehemalige RAF-Mitglied Daniela Klette in Berlin Kreuzberg verhaftet werden, nachdem ihre polizeiliche Fahndung jahrzehntelang erfolglos verlief. Der Grund: Mittels der polnischen Gesichtserkennungssoftware PimEyes konnten einige Journalist:innen die Seniorin anhand von Fotos auf der Website ihres Capoeira-Tanzstudios problemlos aufspüren. Aber fernab von alten RAF-Mitgliedern sahen sich auch die Palästinasolidarität und der Klimaaktivismus jüngst mit erheblicher Überwachung durch die Polizei konfrontiert. Ob beim Sport, an der Uni oder bei Demos – anonym gegenüber der Polizei wird man künftig wohl nur noch in Ausnahmefällen sein können.
Zur Islamismusbekämpfung sind diese Maßnahmen allerdings nicht geeignet, warnen Expert:innenverbände wie der Chaos Computer Club oder das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung. Die imperialistischen Ursachen islamistischer Radikalisierung werden nicht angegangen. Der Geschäftsführer von AlgorithmWatch, Matthias Spielkamp, kommentiert seinerseits: „Mehr Überwachung führt vor allem zu mehr Unfreiheit, nicht zu mehr Sicherheit.“ Einerseits bedeutet Gesichtsbildersammlung im „Schleppnetzstil“ eine enorme Intensivierung der Massenüberwachung, andererseits wird sich diese in einer Verstärkung rassistischer Polizeipraxis durch KI-Systeme manifestieren. Letztere stehen in der Kritik, Rassismus und andere Unterdrückungsformen zu reproduzieren. Datenerhebung ohne Diskriminierung, um besser diskriminieren zu können – so lautet der Subtext des „Sicherheitspakets“ der Ampel.