Massaker an türkischer Universität

18.04.2018, Lesezeit 8 Min.
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Während die türkische Wirtschaft immer mehr an Boden verliert, setzen sich die Massaker nun sogar an den Universitäten fort. Was sagt dieses Verbrechen über das derzeitige bonapartistische System in der Türkei?

Am 5. April attackierte ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Osmangazi in Eskişehir mit einer Pistole seine Kolleg*innen und tötete vier Menschen: einen wissenschaftlichen Mitarbeiter und drei Dozent*innen. Der Täter Volkan Bayer hatte vorher Beschwerden gegen unzählige Akademiker*innen und Beschäftigen eingereicht, viele Menschen verloren daraufhin ihre Arbeit oder mussten um ihre Arbeit bangen.

Die Dozentin Aypay, die das Massaker überlebte, sagte zur Presse: „Mein Ehemann wurde aufgrund der Verleumdungen von Volkan Bayer entlassen und verbrachte fünfeinhalb Monate im Gefängnis. Viele Freunde wurden Opfer von Bayers Verleumdung. Das Rektorat hat ihn in Schutz genommen, obwohl es sehr viele Beschwerden gegen ihn gab. Volkan Bayer ist selbst ein Landesverräter und der eigentliche Gülenanhänger. In jeder Aussage war offensichtlich, dass er Anhänger der Gülenbewegung war.“

Wir haben es hier nicht nur mit der Ermordung von akademischen Menschen zu tun, sondern mit einer politisch motivierten Handlung in einem bonapartistischen System. Ungefähr vor einem Jahr schrieb ich über diese bonapartistische Methode:

Erdogan will Mittäter*innen für seine Politik und setzt auf eine langfristige Umgestaltung der Gesellschaft. Damit die Universitätsdozent*innen von den Universitäten entlassen werden können, ist die Zusammenarbeit der Rektor*innen notwendig. Diese reichen bei entsprechenden Ämtern Beschwerden ein, dass einige ihrer Dozent*innen aus der Universität zu entlassen seien. Der Hochschulrat (YÖK) kommt dieser formalen Bitte nach und übergibt diese Entlassungen Erdogan. Per Erdogans Dekret werden die Universitätsdozent*innen entlassen. Die Rektor*innen haben in diesem Prozess viel Zeit um aktiv zu werden, Informationen zu sammeln und die Beschwerden entsprechend zu erreichen. Dazu kommt, dass viele Universitätsdozent*innen ihre eigenen Arbeitskolleg*innen anzeigen, um die „Säuberung“ voranzutreiben. Da dieser Akt der Entlassungen nicht einmalige Sache, sondern eine langfristige Geschichte ist, kann jede*r Beteiligte die Entlassungspolitik verinnerlichen und ein aktiver Teil davon werden. Der rachsüchtige Erdogan ist in diesem Sinne geduldig und wartet auf die entsprechenden Anträgen von den Rektor*innen, denen er nur „nachkommen“ wird.

Erdogan baut eine Gesellschaft von freiwilligen Spitzeln auf. Die Regierung will den Ausnahmezustand verlängern, weil die Gülenbewegung, die sich in den letzten 40 Jahren aufgebaut hat, nicht einfach in ein paar Jahren vernichtet werden kann. Es scheint, dass die Regierung für die zukünftigen wirtschaftlichen und politischen Misserfolge der Gülenbewegung, mit der sie gemeinsam den jetzigen totalitären Staat aufgebaut hat, schon vorsorglich die Schuld geben will.

Was Volkan Bayer nicht verstanden hat, ist, dass er die Möglichkeiten des Bonapartismus von Erdogan bereits ausgeschöpft hatte und selbst nicht beliebig Menschen aus der Universität durch seine Beschwerden herausjagen konnte. Jede*r Akademiker*in in einem Land wie der Türkei steht mit den politischen Parteien organisch und offensichtlich in Verbindung. Die mögliche Anzahl der Gülenanhänger*innen, die er anzeigen könnte, hatte sich bereits erschöpft. Er reichte auch Beschwerden über Leute ein, die den bürgerlichen Fraktionen wie der MHP, BBP und selbst diversen Flügel der AKP angehörten – diese Beschwerden wurden von der Unileitung jedoch nicht mehr durchgesetzt. Denn die Entscheidung, welche gesellschaftlichen Sektoren zu den „Landesverrätern“ und der Gülenbewegung gehören, gebührt nur dem Bonaparten Erdogan. Diese Entscheidung Erdogans kann nicht durch einen Spitzel und einen mittelmäßigen Akademiker an der Uni umgegangen werden. Aus diesem Grund musste das eigene Monster gebändigt werden. Weil er die Spielregeln missachtet hatte, begegnete ihm selbst der Vorwurf, ein Gülenanhänger zu sein.

Was an der Universität Osmangazi geschah, ist daher nicht nur ein Massaker eines Akademikers, es ist auch der Drang der Basis Erdogans, mit dem bonapartistischen Gleichgewicht zu brechen und ein faschistisches System aufzubauen. Es gibt bereits eine faschistische Basis innerhalb der AKP-Basis, wie die HÖH, die sich an der SA orientiert.

Erdogans Bonapartismus und die Unterstützung der Bourgeoisie

Erdogan als Bonaparte herrscht über den Staat und inzwischen auch über die Medien in alleiniger Herrschaft, immer vermittelnd zwischen verschiedenen Fraktionen. Trotzdem konnte er keine stabile gesellschaftliche Hegemonie erreichen. Es wurde bekannt gegeben, dass die größte Mediengruppe „Dogan“ (Hürriyet, Kanal D und etliche Zeitschriften, Zeitungen, Fernsehsender usw.) von einem regierungsnahen Unternehmen aufgekauft wurde. In der Vergangenheit waren der Dogangruppe immer wieder unbezahlbare Steuerstrafen auferlegt worden, um mit dieser Gruppe zu verhandeln. Die Dogangruppe war sich in der Kriegspolitik mit der AKP einig und unterstützte den Angriffskrieg der Türkei auf Afrin. Doch obwohl nun 90 Prozent der Medien regierungsnah sind, und trotz des bisherigen repressiven Kurses, bekommt das Bündnis aus AKP, MHP, BBP Bündnis laut Umfragen nur 43 Prozent der Stimmen.

Die kritischen kleinen Zeitungen und Fernsehsender bekommen keine Werbung, während die regierungsnahen Medien von Unternehmen wie der Turkish Airlines große Werbeaufträge bekommen. Die pro-kurdische Zeitung Özgürlükçü Demokrasi wurde am 28. März überfallen und ihr Vorstand durch Regierungsbeamt*innen ersetzt. Regierungskritische Journalist*innen müssen entweder das Land verlassen oder sie müssen in Kauf nehmen, jahrelang ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis zu gehen, weil die Prozesse willkürlich jahrelang dauern.

Die Dogangruppe trennte sich von ihren Zeitungen und Fernsehsendern, obwohl sie rentabel sind. Der Grund ist nicht, dass Aydin Dogan als Leiter der Dogan-Gruppe Angst vor Erdogan hatte (er konnte sich ihm bisher in vielem widersetzen). Im Gegenteil gibt es in der neuen Außen- und Staatspolitik große Gemeinsamkeiten zwischen der AKP-Bourgeoisie und der Istanbuler Bourgeoisie. Aydin Dogan sagte beispielsweeise, wenn jemand ihn braucht, werde er an die Front in Afrin gehen, selbst als 83-Jähriger. Große Gemeinsamkeiten existieren in der neuen aggressiven Außenpolitik gegenüber Kurdistan, Griechenland, Armenien, im Streikverbot – im Vertrauen, dass Erdogan die Arbeitslosen, die Armen in der aktuellen Wirtschaftskrise ruhig halten könne. Auch Ali Koç, der Vertreter der Istanbuler Bourgeoisie, wünschte dem türkischen Militär in Afrin einen Sieg für die Zukunft, ferner Einheit, Kontinuität und den Zusammenhalt des Staates.

Der Grund für die Krise der Dogangruppe ist vielmehr wirtschaftlich: Nachdem sich die Dogangruppe praktisch aufgelöst hat und der größte Lebensmittelkonzern der Türkei Ülker mit den Banken über seine eigene wirtschaftliche Situation verhandeln will, wurde am 7. April bekannt gegeben, dass sich die Dogangruppe in finanziellen Schwierigkeiten befindet und deshalb mit den Banken über neue Strukturen des Unternehmens und ihre Schulden verhandeln wird. Sie alle können diese Zeit nicht ohne staatliche Unterstützung überwinden, sie sind auf einen starken Bonaparte angewiesen, obwohl sie in ihm die Ursache des wirtschaftlichen Versagens erkennen. Die Frage ist, ob das bonapartistische System die nötige wirtschaftliche Stabilität überhaupt erreichen kann.

Die Signale der türkischen Wirtschaft

Die türkische Lira verliert großen Wert gegenüber dem Euro und dem Dollar. Im Jahr 2013 betrug ein Dollar noch 1,7 Lira, inzwischen beträgt ein Dollar fast 4 Lira. Während ein Euro im Jahr 2013 2,3 Lira wert war, sind es inzwischen fast 5 Lira. So niedrig stand die türkische Lira nie. Seit 2014 sind 430.275 Ladenbesitzer*innen und Kleinunternehmen pleite gegangen. Erdogan distanzierte sich von einigen Parteifreund*innen, die von einer wirtschaftlichen Krise redeten. Erdogan gab auch zu, dass trotz seines Drucks die Zinsen bisher nicht niedriger gesetzt werden konnten.

Erdogan steckt im Strudel seiner eigenen Logik fest, die die wirtschaftlichen Probleme des Landes nur als Verschwörung ansieht. Der fanatische Glaube an die Wirtschaftsstabilität der Türkei ist sein Herrschaftsgeheimnis, welches angesichts der objektiven Krise immer lächerlicher wird. Die Folge davon ist: Wer tatsächlich diese Probleme angehen wollte, konnte sehr schnell als Verschwörer*in selbst unter die Räder geraten.

Derweil wird die Arbeiter*innenklasse weiterhin drangsaliert. Sie kann kaum kollektive Aktionen organisieren. Die Gewerkschaften können nicht mehr streiken, da Streiks per Dekret verboten werden. Viele aktiven Gewerkschaftsmitgliedern wurden gefeuert, mussten das Land verlassen oder sind im Gefängnis. Die Armut nimmt unhaltbare Gestalt an. Viele Menschen setzten sich daraufhin als Protest in Brand.

Nur um zwei zu erwähnen: Am 12. Januar steckte sich ein Mann wegen finanzieller Schwierigkeiten vor dem türkischen Parlament in Flammen. Ein Arbeitsloser zündete sich am 29. Januar vor dem Rathaus in Balikesir an.

Es sind zwei Tendenzen zu erkennen: Die Selbstmorde und Selbstverbrennungsversuche finden auf öffentlichen Plätzen statt und als Gründe werden stets Armut und Arbeitslosigkeit genannt. Diese Menschen versuchen ihre Forderung nach Brot durch einzelne Verzweiflungsaktionen vor den staatlichen Behörden durchzusetzen. Während die faschistische Basis mit bewaffneten Angriffen oder mit Ansätzen separater Organisierung wie in den dschihadistischen Gruppen den Bonapartismus in Frage stellt, zeigen die proletarischen Sektoren durch verzweifelte Selbstmordversuche den türkischen Bonapartismus ihre Ablehnung.

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