Marxismus und Astrophysik: Die eigenartige Ablehnung der Urknalltheorie durch die IMT
Der Urknall ist in der Astrowissenschaft eine Theorie, die den Anfang des Universums zum Gegenstand hat. Innerhalb der marxistischen Linken positioniert sich besonders die IMT gegen die Theorie. Ihre Argumentation ist jedoch alles andere als dialektisch und sie beziehen sich dabei unrechtmäßig auf Friedrich Engels.
Warum diskutieren Marxist:innen über die Urknalltheorie? Für den irdischen Klassenkampf ist es völlig unerheblich, ob es den Urknall gab oder nicht. In der Debatte geht es darum, ob die Theorie rein idealistisch sei, oder ob sie mit der dialektischen Methode zu verteidigen ist. Der dialektische Materialismus ist die marxistische Methode, um die Natur und ihre Materie in ihrer Wechselbeziehung zu erkennen, um durch diese wissenschaftlichen Erkenntnisse die Menschheit weiterzubringen. Wenngleich es für die politische Praxis nicht wichtig ist, ob das Universum einen Anfang hat oder nicht, ist es elementar in der Auseinandersetzung der Anwendung der marxistischen Methode. Gleichzeitig geht es hier auch generell um die Haltung von Marxist:innen gegenüber wissenschaftlichen Theorien. Die Urknalltheorie steht damit einerseits exemplarisch für die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung, andererseits ist sie ein zentrales Moment, um ein genaues Verständnis des dialektischen Materialismus zu erhalten.
Zur Theorie des Urknalls
Laut der Theorie entstand das Universum vor 13,8 Milliarden Jahren. Zu Beginn herrschte eine extrem heiße Singularität, das heißt ein hypothetischer Punkt beziehungsweise Ort, an dem die Raum-Zeit unendlich gekrümmt und die Konzentration von Materie unendlich dicht ist. Die erste Phase des Universums wird als Planck-Ära bezeichnet, die 10⁻⁴³ Sekunden nach dem Urknall eintrat. Dort waren die vier fundamentalen Grundkräfte (Gravitation, elektromagnetische Kraft, schwache und starke Wechselwirkung) in einer Kraft vereint, die man als Urkraft bezeichnet. Das hat zur Folge, dass in dieser Ära keine physikalischen Gesetze herrschen; wenngleich ein Beweis fehlt, versucht beispielsweise die Stringtheorie, den Umstand zu erklären.
Nach der Planck-Ära expandierte das Universum in einem gewaltigen Ausmaß, in dem sich sein Volumen um das etwa 10⁺⁷⁸ vervielfachte. Es hatte nun die Größe einer Galaxie und dehnt sich bis zum heutigen Zeitpunkt immer weiter aus. Das Universum kühlte danach ab, woraufhin sich 10⁻⁶ Sekunden nach dem Urknall die Urkraft spaltete, das heißt, die vier fundamentalen Grundkräfte entstanden, wie wir sie heute kennen. Zwischen einer Sekunde und wenigen Minuten nach dem Urknall verlor das Universum genug Temperatur und Dichte, dass es aus etwa acht Prozent Heliumatomen und 92 Prozent aus Wasserstoffatomen bestand. Doch bis sich die ersten Sterne entwickelten, sollte es noch einige Millionen Jahre dauern.
Einer der ersten, der die moderne Theorie aufgestellt hat, war der Astrophysiker und Theologe Georges Lemaître (1894–1966). 1927 veröffentlichte er in „Annales de la Société scientifique de Bruxelles“ seine Arbeit, in der er die Expansion des Universums konzeptualisierte. Vier Jahre später publizierte er den Aufsatz auf Englisch, passte ihn jedoch aufgrund von Konzepten des Astronomen Edwin Hubble (1889–1953) an, der 1929 eine thematisch ähnliche Arbeit veröffentlichte, ohne jedoch den Schluss zu ziehen, dass sich das Universum ausdehne. In dieser Zeit befasste sich der Physiker Albert Einstein (1879–1955) ebenfalls mit dieser Theorie, war davon jedoch noch nicht überzeugt. Daher beschäftigte er sich 1931 mit Alternativmodellen, doch wandte er sich schnell der Urknalltheorie zu. Nicht nur waren die physikalischen Berechnungen der Theorie richtig, auch führte die Entdeckung Hubbles, dass sich Galaxien von der Erde weg entfernen, zu einem Umdenken. Lemaître, Hubble und Einstein trafen sich 1933 in den USA und stimmten hiernach über das Konzept überein. Lemaîtres Theorie, so Einstein, sei die „wundervollste und befriedigendste Erklärung der Entstehung der Welt“.
Diese Theorie kann zum Beispiel eine Erklärung für Mikrowellenhintergrundstrahlungen oder die Expansion des Universums bieten. Dank des wissenschaftlichen Fortschritts und immer genauerer Teleskope lässt sich die Vergangenheit des Universums immer präziser darstellen. Am 24. April 1990 wurde das Hubble Telescope in den Weltraum geschossen und schickt uns bis heute Bilder zurück auf die Erde. Die Theorie, dass das Universum etwa 13,8 Milliarden Jahre alt ist, ist auf Bilder des Hubble Telescope zurückzuführen. Diese Daten waren für die Astrowissenschaft ein Meilenstein, denn nun konnte man Galaxien in einem Frühstadium sehen, das kurz nach dem Urknall eintrat. Die älteste Galaxie, die das Hubble Telescope entdecken konnte, ist 13,2 Milliarden Jahre alt. Allerdings erreichte das Teleskop seine technischen Grenzen, woraufhin am 25. Dezember 2021 das James Webb Space Telescope (JWST) in den Weltraum geschossen wurde.
Die ersten Bilder des JWST wurden am 11./12. Juli 2022 veröffentlicht und markieren einen weiteren Meilenstein der Astrowissenschaft. Eine der Aufgaben des JWST ist es, Galaxien des jungen Universums zu entdecken, um ein besseres Verständnis der Anfänge zu bekommen. Und diese Bilder wurden auch geliefert: Es wurden Galaxien entdeckt, die etwa 540 bis 770 Millionen Jahre nach dem Urknall entstanden. Das Faszinierende an diesen Entdeckungen ist, dass diese Galaxien weitaus größer und massiver sind als zuerst angenommen wurde. Diese Entdeckungen wurden jedoch nicht nur zum Anlass genommen, weitere Bilder abzuwarten, um weitere Erkenntnisse zur Entstehung des Universums zu erlangen, sondern auch, um einen Generalangriff auf die Theorie zu starten.
Was kritisieren der Funke und die IMT?
Dass eine Theorie Kritik erfährt, ist nicht verwunderlich, sondern erforderlich und wünschenswert. Innerhalb der revolutionären Linken treten besonders die stalinistische MLPD und der Funke als Urknallgegner:innen auf. In der Auseinandersetzung werden wir uns nur auf den Funken beziehen, da die Ausarbeitungen des Funken ausgeprägter sind als die der MLPD.
Der Funke und seine internationale Strömung, die International Marxist Tendency (IMT), positionieren sich nicht erst seit der Veröffentlichung der Bilder des JWST gegen die Urknalltheorie, sondern sehen sich in einer langen grantistischen Tradition, die eine grundsätzliche Aversion gegen die Astrowissenschaft hat. Alan Woods und Ted Grant veröffentlichten 1995 ihr Buch „Aufstand der Vernunft“, in dem sie den hochgestochenen Anspruch erhoben, die Naturwissenschaft zu revolutionieren. Dort ist ein Kapitel der Urknalltheorie gewidmet, die Woods und Grant als „Schöpfungsideologie“ bezeichnen und in ihrer Verteidigung stets betonen, dass die bürgerliche Wissenschaft ein Interesse daran hätte, diese aufrechtzuerhalten. Marxist:innen sind wissenschaftliche Sozialist:innen, das heißt, sie lehnen Mystizismus und Idealismus ab und stehen auf dem Boden wissenschaftlicher Erkenntnisse und Theorien. Das bedeutet freilich nicht, dass man jede Theorie unkritisch übernimmt und verteidigt, sondern man untersucht sie mit der Methode des Marxismus, um so einen materialistischen Erkenntnisgewinn zu erlangen. Hiernach ist es also grundsätzlich nicht falsch, der Urknalltheorie kritisch gegenüberzustehen; allerdings ist die Art und Weise, wie es die IMT und Alan Woods machen, alles andere als dialektisch-materialistisch, da sie einen vulgärmaterialistischen Ansatz verfolgen, der sich eklektisch auf Äußerungen von Friedrich Engels bezieht.
Was ist der Vorwurf? Die IMT argumentiert, dass die Theorie besage, vor dem Urknall hätte es nichts gegeben und seinen Anfang (die IMT nennt es nicht so, weil es für sie keinen Anfang gab) in einer Singularität habe. Beides lehnen sie ab und setzen es mit dem Buch Genesis gleich: ”The big bang theory is really a creation myth (just like the first book of Genesis)”. Dabei macht die IMT aber zwei Fehler: 1) postuliert die Urknalltheorie nicht, dass es vor dem „Knall“ nichts gab und 2) liefert Engels in seinem Werk „Dialektik der Natur“ (auf das sich die IMT so felsenfest bezieht, um ihre Aversion zu belegen) eine Argumentation, die für die Singularität spricht (dazu später mehr). Die Taktik der IMT ist es, die Theorie zu attackieren, ohne ein Alternativmodell vorzustellen, sondern sie unterfüttern ihr Argument mit Prämissen, die eigentlich keine ernsthafte Auseinandersetzung verdienen. Aber wir tun es dennoch sehr gerne.
Ihr Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie Materie aus nichts entstehen könne. Das stehe laut IMT mit dem dialektischen Materialismus im Widerspruch. Anstatt sich mit dieser Frage auch mit Hinblick auf die Planck-Ära zu beschäftigen, verweisen sie für die vermeintlichen Richtigkeit ihres Arguments auf den theologischen Hintergrund Lemaîtres und die ideologische Vereinnahmung der Urknalltheorie durch die Katholische Kirche. Es ist richtig, dass Lemaître versuchte, seine Theorie mit der Religion in Einklang zu bringen, was ihm im November 1951 von der Päpstlichen Akademischen Wissenschaft hoch angerechnet wurde. Die Tatsache, dass Religiöse und Reaktionäre eine wissenschaftliche Theorie für sich instrumentalisieren, um die eigene Ideologie zu stützen, ist für die IMT also Grund genug, sie abzulehnen. Sie ignoriert Hubble, Einstein oder Stephen Hawking sowie Bilder und Entdeckungen, die uns ein Stück näher zum Anfang bringen. Die wissenschaftliche Methode, das heißt, eine Theorie an ihren Messungen und Daten zu messen und weiterzuentwickeln, wird im Falle der Urknalltheorie von der IMT vollumfänglich abgelehnt, wenn es nur minimale Widersprüche zwischen neuen Bildern und der Theorie gibt.
Dass das Universum expandiert, wird nicht infrage gestellt, wohl aber jeder theoretische Versuch, das zu erklären. In einem Artikel der österreichischen Sektion der IMT vom 14. September 2022 wird nicht nur jedes alternative Modell (Stringtheorie, zyklisches Universum) als „idealistische Herangehensweise“ diffamiert, sondern einmal mehr die Urknalltheorie für widerlegt erklärt. So hätten die neuesten Bilder des JWST dargelegt, dass es keinen Anfang geben könne, weil Galaxien und Schwarze Löcher schon in der Frühphase entstanden, was der Hypothese, so früh dürfe es das nicht geben, widerspreche. Weshalb diese Entdeckungen die Urknalltheorie jedoch widerlegen sollen, formulieren sie nicht aus, sondern flüchten in die immer gleiche Argumentationskette, dass ein Anfang einen Schöpfer zwingend voraussetze, da das auch der Papst 2014 so postulierte.
Nach der Veröffentlichung der Bilder des JWST gab es einige Stimmen, die die Theorie des Urknalls infrage stellten, beziehungsweise sie in Gefahr sahen. Stimmen von Astrophysiker:innen, die ob der Bilder erstaunt waren, gaben zu, dass sie anhand der wissenschaftlichen Annahmen ein anderes Bild erwartet hätten. Die Taktik der IMT ist es hier, diese Äußerungen aus dem Kontext zu reißen und sich einzig auf Headlines von Artikeln zu beziehen, die immer neuere Erkenntnisse des JWST journalistisch aufarbeiten und von einem Umdenken in der Astrowissenschaft sprechen und schreiben. So machte vor einigen Tagen auf Twitter von IMT-Genoss:innen ein Artikel vom 23. Februar 2023 die Runde, in dem über die Entdeckung von massereichen Galaxien und supermassiven Schwarzen Löchern berichtet wird. Doch der im Artikel zitierte Co-Autor Joel Leja schlussfolgert nicht, dass es keinen Anfang gegeben habe, beziehungsweise die Urknalltheorie damit widerlegt sei, sondern dass die Hypothese, was in der Frühphase des Universums war, anhand der Entdeckungen theoretisch neu aufgestellt werden muss. Da man in der Auswertung der Daten noch am Anfang stehe, müsse man mit einem „open mind“ an die Sache rangehen und keine schnellen Schlüsse ziehen.
Das hindert die IMT nicht daran, einen Tag später, am 24. Februar 2023 einen Artikel zu veröffentlichen, in dem diese Erkenntnisse als „Beweis“ dienen, dass die Urknalltheorie falsch sein müssen. Sie beziehen sich einzig darauf, dass die Masse der Galaxien in der Frühphase des Universums einen Anfang ausschließen müsste, und sehen jede neue Datenauswertung, die von der Urknalltheorie abweicht, als Heimsieg. Diese Taktik, die die IMT auffährt, ist allerdings nicht neu und wurde zuletzt vom Astrophysiker Paul M. Sutter in einem Artikel vom 1. Februar 2023 behandelt.
Sutter schreibt, dass es gerade die Aufgabe des JWST sei, Galaxien der Frühphase des Universums zu finden. Den Konflikt, dass sie massereicher sind als angenommen, sieht er nicht als das Ende der Urknalltheorie, sondern als Argument dafür. Die Entstehung von Galaxien ist ein komplexer Akt, dem verschiedene Faktoren und Wechselwirkungen untergeordnet sind. Eine Methode, die Entwicklung des Universums zu beschreiben, ist das Lambda-CDM-Modell: wenn die Entdeckung massereicher Galaxien nicht mit dem Modell übereinstimmt, wäre das Modell falsch, aber nicht die Urknalltheorie an sich. Das Lambda-CDM-Modell konnte jedoch entgegen der Hoffnung von Urknallgegner:innen keinen Konflikt erkennen, das heißt, Galaxien mit 10⁸ Sonnenmassen sind mathematisch möglich und somit auch im Rahmen der Urknalltheorie.
Allerdings wird die IMT diese Methode nicht anerkennen, denn sie lehnt das Lambda-CDM-Modell. Das Modell geht unter anderem davon aus, dass das Universum aus dunkler Matter und dunkler Energie besteht. Die IMT lehnt die Existenz von dunkler Materie und Energie ab. Es ist richtig, dass man die dunkle Materie bisher nicht entdeckt hat, sondern sie ist ein mathematisches Konzept; allerdings ist es ein schwaches Argument zu sagen, dass jede Theorie falsch ist, die nur auf mathematischen Herleitungen basiert und es noch keinen Beweis gibt. Das würde so gut wie jede Theorie in Schwierigkeiten bringen. Dass sich eine mathematische Herleitung jedoch als wahr herausstellen kann, zeigte die erste Entdeckung eines Schwarzen Loches. Bereits 1783 konzipierte der Naturphilosoph John Michell (1724–1793) auf Basis des newtonschen Gravitationsgesetzes ein Schwarzes Loch – entdeckt wurde das erste Schwarze Loch 1971, das Cygnus X-1 getauft wurde. Das erste Foto eines Schwarzen Loches wurde 2019 veröffentlicht – vom supermassiven Sagittarius A*, dessen Existenz bereits 1974 vermutet wurde. In „Aufstand der Vernunft“, 21 Jahre nach der Entdeckung von Cygnus X-1, wurde die Existenz von Schwarzen Löchern noch infrage gestellt: „Falls Schwarze Löcher existieren, und das ist definitiv noch nicht bewiesen […].“
Friedrich Engels und die Astrowissenschaft
In ihrer Verteidigung der Ablehnung der Urknalltheorie verweist die IMT nicht nur auf religiöse Vereinnahmungen und den kapitalistischen Betrieb, der ein Interesse an dem „Schöpfungsmythos“ habe, sondern auch auf Friedrich Engels (1820–1895). Für Marxist:innen ist der dialektische Materialismus die zentrale Methode, die von Engels und Karl Marx (1818–1883) entwickelt wurde. Dass sich die IMT darauf bezieht und versucht, die dialektische Methode anzuwenden, ist absolut zu begrüßen. Sie verweisen auf Engels’ „Dialektik der Natur“, das zwischen 1873 und 1883 geschrieben wurde und argumentieren richtig, dass Materie nicht aus dem Nichts entstehen kann. Dennoch scheint besonders Alan Woods ein eigenartiges Verständnis von der marxistischen Dialektik zu haben, die wir im Folgenden die wood’sche Dialektik nennen werden.
Als „Aufstand der Vernunft“ veröffentlicht wurde, blieb das natürlich nicht unbeantwortet. Die bis dato größte Arbeit, die sich mit dem Werk auseinandersetzt, wurde 2007 von Peter Mason geschrieben. Mason ist Marxist und war Mitglied des alten Komitees für eine Arbeiter:inneninternationale (CWI). Sein Buch „Science, Marxism and the Big Bang“ beschäftigt sich mit der wood’schen Dialektik und argumentiert, dass die Urknalltheorie durchaus mit dem dialektischen Materialismus kompatibel sei. 1 Um die wood’sche Dialektik exemplarisch darzustellen, geht Mason auf Woods vermeintliche Beobachtung ein, dass sich Wasser bis zum Siedepunkt nicht ändere und immer gleichbleibe. Nicht nur mangele es Woods an naturwissenschaftlichem Verständnis, auch beziehe er sich unrechtmäßig auf Engels und den Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831), die mittels der dialektischen Methode, die den qualitativen “Phasenwechsel” von Wasser beschreiben: Wasser wechselt beispielsweise von einem flüssigen Zustand in einen Gaszustand. Wasser behalte also nicht, wie Woods schreibt, das gleiche Volumen. Der Hauptfehler, den Woods macht, ist auf Basis von Engels’ damaligen Erkenntnisstand eine Methode anzuwenden, die nicht nur Weiterentwicklungen der marxistischen Methode ignoriert, sondern ironischerweise auch Engels selbst widerspricht.
Friedrich Engels hat kein Buch über die Astrowissenschaft geschrieben und in der Entwicklung einer marxistischen Naturwissenschaft spielt die Frage der Astronomie keine zentrale Rolle. Dennoch gibt es einige Anmerkungen zu damals neuen Erkenntnissen, die sich auch um den Anfang des Universums drehen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Engels Anmerkungen dazu keine ausformulierten Theorien sind, sondern der Versuch, die dialektische Methode auf Erkenntnisse der frühen Astrowissenschaft anzuwenden. Doch anders als Woods tut er das nicht in vulgaristischer Form, sondern anerkennt Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und liefert mit Bezug auf den Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) Argumente einer Vereinbarkeit der dialektischen Methode mit der Urknalltheorie. Was bezeichnend ist, denn die Theorie wurde erst Jahrzehnte nach seinem Tode entwickelt. Um Engels von der wood’schen Dialektik zu befreien, spielen sowohl die „Dialektik der Natur“ als auch der „Anti-Dühring“, der zwischen 1876 und 1878 gespielt wurde, eine zentrale Rolle.
Engels beweise in „Dialektik der Natur“ klar, dass die Urknalltheorie nur falsch sein könne. So lautet das ewige Mantra der IMT und Woods, um ihren hohen Anspruch zu verteidigen, nur sie hätten ein Monopol auf die marxistische Methode. Das Gesetz „vom Umschlagen von Quantität und Qualität und umgekehrt“ ist eines der zentralen von Engels formulierten, um mittels der dialektischen Methode Erkenntnis über die Natur zu erlangen. Hätte sich Woods jedoch nicht nur auf das Hauptwerk konzentriert, sondern auch auf die Notizen und Fragmente, bekäme er einen tieferen Einblick in die marxistische Wissenschaft zur Astronomie. „Wer Kausalität leugnet, dem ist jedes Naturgesetz eine Hypothese!“ schreibt Engels und hat mit dieser Erkenntnis durchaus recht. Für Woods und die IMT reicht das Zitat, um ihren Generalangriff auf die Urknalltheorie zu fahren, da es nach ihrer Logik nur die Unendlichkeit gibt, hiernach keinen Anfang geben darf.
Der Unendlichkeitsbegriff bei Woods ist allerdings ein anderer als bei Engels. Woods argumentiert, dass die Unendlichkeit des Universums aus sich selbst entsteht, und somit weder ein Anfang noch ein Ende möglich sei. Bei Engels lesen wir jedoch, dass sich die Unendlichkeit aus der Erkenntnis der Endlichkeit einer Materie ergibt und somit ein allgemeines Naturgesetz formuliert: wenn wir beispielsweise allgemeine chemische Prozesse beobachten, so finden diese allgemeinen chemischen Prozesse bei entsprechenden Bedingungen überall und zigfach statt. Die Einschränkung, sofern man das so nennen will, die die IMT nicht erkennen will, ist die eigentliche Grenze des Universums. „Die äußerste Grenze unserer Naturwissenschaft ist bis jetzt unser Universum“, schreibt Engels und steht damit im Einklang mit der heutigen Astrowissenschaft. Was vor dem Urknall war oder danach sein wird, entzieht sich der Entität, in der die Naturwissenschaft ihre Gültigkeit besitzt. Daraus zu schlussfolgern, dass wir nie erfahren werden, was vor dem Urknall war, ist jedoch falsch, denn die Grenze ist nicht starr. Wir kommen mit der heutigen Technik dem Anfang des Universums immer näher. Die Planck-Grenze, die die Anwendbarkeit physikalischer Naturgesetze formuliert, ist dabei mit der dialektischen Methode nach Engels absolut vereinbar.
Es ist dabei erstaunlich, dass Engels die Möglichkeit weiterer Universen nicht zwingend ausschließt. Die Grenze der Naturwissenschaft sei „unser Universum“, um „die Natur zu erkennen“: „[D]ie unendlich vielen Universen da draußen brauchen wir dafür nicht.“ Die Theorie eines sogenannten Multiverse, das heißt eine hypothetische Gruppe verschiedener Universen, deckt sich mit der dialektischen Ableitung der Unendlichkeit des Endlichen. Damit ist freilich nicht gesagt, wie diese Universen entstanden. Bezeichnend ist allerdings, dass die IMT die Existenz des Multiverse kategorisch ausschließen: „[D]ie Vorstellung eines Multiverse treibt die idealistische Herangehensweise erst Recht auf die Spitze.“
Doch freilich verortet Woods Friedrich Engels nicht in der gleichen Reihe, in denen er auch jene Astrophysiker:innen sieht, die die wissenschaftliche Methode nutzen, um den Anfang des Universums zu ergründen. Woods vertritt demgemäß einen vulgärmaterialistischen Ansatz, den Engels ablehnt: Engels bezieht sich mit dem Materialismus “vulgarisierter Gestalt” in “Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie”, das 1886 veröffentlicht wurde, auf die mechanistischen Materialist:innen des 18. Jahrhunderts. Diese waren einerseits darin beschränkt, die “Unfähigkeit, die Welt als Prozess” zu erkennen und andererseits stand der Erkenntnisgewinn der Naturwissenschaften (unter anderem der Chemie und Biologie) noch am Anfang. Woods reproduziert das dahingehend, dass er Materialismus auf die Astrowissenschaft mechanisch anwendet und den Prozess der jungen Wissenschaft nicht anerkennt. Um jedoch eine Theorie zu entwickeln, braucht es die „denkende Forschung“, wie sie Engels nennt. Diese steht in einer permanenten Wechselbeziehung mit der beobachtbaren Materie, die Hypothesen „beseitigt und korrigiert“, bis ein naturwissenschaftliches Gesetz steht. Genau das geschieht mit der Urknalltheorie: Es werden Daten erhoben, die mit der Theorie abgeglichen werden und anhand dessen findet eine Anpassung der Theorie statt. Solange es keine Erkenntnisse gibt, die die Theorie vollumfänglich negieren, hat sie ihre Existenzberechtigung. Doch genau das spricht Woods ihr ab: Da sich die Theorie ständig korrigiere, könne sie nur falsch sein, so die wood’sche Logik. Das hat nichts mit Friedrich Engels und schon gar nichts mit der dialektischen Methode gemein.
Nun stellt sich aber die Frage, wird Woods einwenden, wie der Anfang ohne äußere Einwirkung überhaupt möglich sei. Dies ist der Hauptpunkt des Vorwurfs, die Theorie sei ein „Schöpfungsmythos“. Dass am Anfang nur Gott stehen könne, haben sie von Engels entlehnt, der ihn in seiner Polemik gegen den Philosophen und Antisemiten Eugen Dühring (1833–1921) benutzt. Dühring stellt die These auf, dass „die Welt einen Anfang in der Zeit“ hatte und „in dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen“ wäre. Engels erwidert, dass das eine rein mechanische Auffassung sei und die Frage unbeantwortet ließe, was am Anfang gewesen sei, wenn nicht ein Schöpfer. Mit diesem Punkt scheint es eine Übereinstimmung zwischen Woods und Engels zu geben. Allerdings bleibt Engels dort nicht stehen, sondern wendet mit Bezugnahme auf Kant konsequent die dialektische Methode an, die mit seinem Unendlichkeitsbegriff begründet wird. Kant schreibt in „Kritik der reinen Vernunft“, veröffentlicht im Jahr 1781, dass Raum und Zeit sowohl einen Anfang und ein Ende als auch keinen Anfang und kein Ende haben. Das ist, nach Engels, Kants großer Verdienst, die Raum-Zeit dialektisch zu beschreiben und konterkariert damit Dührings Argument des reinen Anfangs und Ende. Woods nimmt hier die Rolle Dührings von der anderen Richtung her ein: Es könne keinen Anfang und kein Ende geben. Beides steht nicht nur im Widerspruch zu Kant und Engels, sondern auch zu Hegel. „[D]ie Unendlichkeit, die ein Ende hat, aber keinen Anfang, ist nicht mehr und nicht weniger unendlich, als die, die einen Anfang hat, aber kein Ende.“ Das ist Engels Übersetzung der kantschen Theorie und negiert damit die wood’sche Dialektik, die rein mechanisch sowohl Anfang als auch Ende verneinen. Ähnlich wie Dühring scheint Woods Schwierigkeiten zu haben, die widerspruchsvolle Unendlichkeit zu greifen. Denn, und damit kommen wir auf Hegel zu sprechen, die Unendlichkeit führt durch ihre Widersprüche zu immer weiteren Widersprüchen, deren Ende einzig durch die „Aufhebung des Widerspruchs“ sein wird.
Wenn wir uns wieder der Urknalltheorie zu wenden, sehen wir, dass sowohl die kantsche Theorie der „Entstehung aller Weltkörper“ als auch Engels Hypothese einer „frühen Form der Materie“ sich mit den Daten des Frühstadiums des Universums decken. Kant beschreibt in „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“, veröffentlicht 1755, einen Urnebel, in dem sich die Materie des Universums verdichteten und sich dann teilten. Das beschreibt nicht zwingend den Anfang eines Universums, doch die kantsche Theorie anerkennt die Bewegungsformen der Materie, die nicht starr und mechanisch sind. Engels greift diese Theorie auf und baut sie in seinen Unendlichkeitsbegriff ein. Der Urnebel, so Engels, sei sowohl der „Ursprung bestehender Weltkörper“ als auch die „früheste Form der Materie, auf die wir bis jetzt zurückgehen können“. Auch diese Hypothese steht nicht diametral zur Urknalltheorie, deren Aufgabe es ist, so nah wie üblich an die „früheste Form der Materie“ zu gelangen. In der modernen Astrowissenschaft spricht man von der Singularität. Diese „frühe Form der Materie“ können wir aufgrund der Planck-Grenze nicht beobachten, allerdings deckt sich diese Theorie mit dem Unendlichkeitsbegriff von Engels, der von einer Materie „vor dem Urnebel“ beschreibt, die „eine unendliche Reihe andrer Formen durchgemacht haben“.
Wenn man sich die Freiheit nimmt, könnte man den „Urnebel“ mit dem Urknall und die „frühste Form der Materie“ mit ihrer Unendlichkeit der Singularität parallelisieren. Diesen Schritt muss man allerdings nicht machen, denn es geht hier nicht darum, den Urknall zu beweisen, sondern die Theorie mithilfe des dialektischen Materialismus zu stützen. Dass Woods – wenig verwunderlich – auch mit der Singularität seine Probleme hat, beschreibt er mehrmals in „Aufstand der Vernunft“. Stephen Hawkings (1942–2018) schrieb in seinem Werk „A Brief History of Times: From Big Bang To Black Holes“, veröffentlicht 1988, dass zu Beginn des Urknalls die Raum-Zeit unendlich gewesen sei. Woods stört sich nicht nur an der Unendlichkeit, sondern auch an dem Zeitbegriff: Wie kann es einen Anfang der Zeit gegeben haben? Hawkings definiert den Zeitbegriff jedoch als den Punkt, als die Singularität sich selbst negierte und das Universum anfing zu expandieren. Was davor war, sei unmöglich zu wissen und spiele für die Entstehung des Universums keine Rolle. Nun kann man diesen Standpunkt durchaus kritisieren, da es der Frage aus dem Weg geht, wie die Singularität überhaupt erst entstand. Doch für Woods steht und fällt dadurch die komplette Urknalltheorie und er vergleicht Hawkings Hypothesen mit der Doktrin der Katholischen Kirche. Dieser Vorwurf ist jedoch unbegründet, denn die Katholische Kirche attackierte Hawkings Erkenntnisse und Theorien regelmäßig.
Wie stehen nun Marxist:innen zur Urknalltheorie?
Hat es einen Urknall gegeben oder nicht? Diese Frage ist aktuell nicht zweifelsfrei zu beantworten. Durch immer neue Datenerhebungen werden Hypothesen bestätigt, aber auch widerlegt. Die Aufgabe von Marxist:innen ist es, das Wesen der Wissenschaft von der Ideologisierung zu trennen. Dass Vertreter:innen der Urknalltheorie einen „Schöpfungsmythos“ etablieren beziehungsweise verteidigen möchten, kann die IMT nicht überzeugend darlegen. Querverweise auf ideologische Vereinnahmungen durch die Religion entkräften eine Theorie nicht, sondern sind ein Aufruf an wissenschaftliche Sozialist:innen, die Theorie anhand von Daten und Erkenntnissen auf Basis des dialektischen Materialismus zu untersuchen. Dass Alan Woods die Ideologie von der Astrowissenschaft nicht trennen kann, scheint ein allgemeines Problem von Kritiker:innen der Urknalltheorie zu sein, die einen mechanischen Materialismus anwenden.
Bereits Ende der 1990er Jahre (genaues Veröffentlichungsdatum ist leider nicht bekannt) veröffentlichte der australische Physiker George Tsoupros einen kurzen Essay mit dem Titel „Big Bang and Materialism“, in dem er vermeintlichen Materialist:innen vorwarf, die die Urknalltheorie leugnen, sie würden dadurch selbst den dialektischen Materialismus verneinen: „Wissenschaftliche Theorien statt ihre idealistische Epistemologie und philosophischen Interpretationen zu attackieren“ biete einen Nährboden, die Dialektik selbst anzugreifen. Genau das machen Alan Woods und die IMT – sie verteidigen die Theorie nicht gegen ihre religiösen und idealistischen Vereinnahmungen, sondern nutzen gerade diese als Argument, um die Theorie zu widerlegen.
Damit ist niemandem geholfen und schon gar nicht der Wissenschaft. Ob sich der Urknall nun als wahr oder falsch herausstellt, ist für die ganze Debatte unerheblich, denn die wood’sche Dialektik bewegt sich in den Grenzen der menschlichen Erkenntnis und missversteht den Wesenszug einer wissenschaftlichen Theorie. In „Aufstand der Vernunft“ schreiben Alan Woods und Ted Grant an einer Stelle, dass es unredlich sei, sich auf Albert Einstein zu beziehen, wenn es um Theorien gehe, die nach seinem Tod aufgestellt wurden. Denn Einstein habe dadurch gar nicht die Möglichkeit, auf die neuesten Erkenntnisse einzugehen, um seine Theorie zu überprüfen und zu kommentieren. Es wäre womöglich vorteilhaft gewesen, wenn sich Woods, Grant und die IMT selbst an diese Worte gehalten und Engels nicht als Kronzeugen gegen eine moderne Theorie herangezogen hätten, die 32 Jahre nach seinem Tod aufgestellt und auch Jahre später immer weiter ausgebaut wurde.
Fußnoten
1. vgl. http://marxist.net/2012/07/21/the-big-bang-and-mysticism-in-science/