Marx21 vor der Spaltung
Mit rund 700 Teilnehmenden war der „Marx is' Muss-Kongress für die Ausrichtenden, das Netzwerk „Marx21“, augenscheinlich ein großer Erfolg. Doch der Schein trügt, die Organisation ist an zentralen Fragen zerstritten und steuert im Sog der Krise der LINKEN selbst auf eine Spaltung zu.
Oberflächlich ist alles in Ordnung am letzten Maiwochenende in Berlin. Das Wetter ist prächtig und Menschenmassen wälzen sich durch das Neue-Deutschland-Gebäude, wo der „Marx is’ Muss“-Kongress traditionell stattfindet. Der Hof ist voll und es wird überall über Marxismus diskutiert. Doch wenn man genau hinschaut, dann stellt man fest, dass auch Anzeichen für einen nicht ausgesprochenen Konflikt innerhalb von Marx21 zu erkennen sind. Langjährige Marx21-Genoss:innen gehen sich plötzlich aus dem Weg, sie stehen abseits voneinander in getrennten Menschentrauben im Innenhof und schauen sich regelmäßig um, wer gerade in Hörweite ist. Bei jeder Veranstaltung zum Thema Organizing trifft man diejenigen Leute, die sonst auf den meisten anderen Veranstaltungen ihrer Genoss:innen durch Abwesenheit glänzen. Es ist fast, als würde jeder Flügel des Netzwerks seinen eigenen Kongress, getrennt von den anderen, durchführen. Auf den wenigen Veranstaltungen, wo die zerstrittenen Flügel aufeinandertreffen, widersprechen sich Marx21-Genoss:innen offen und zum Teil heftig. Sie vertreten in wichtigen Fragen, z.B. in Bezug auf die Krise der LINKEN, völlig gegensätzliche Positionen. Vom Podium reagiert man gereizt auf kritische Nachfragen aus den eigenen Reihen. Die sonst so harmonische Fassade der Gastgeber:innen ist durchlöchert. Dahinter erscheinen die Umrisse einer Organisation, die kurz vor der Spaltung steht. Wie ist diese neue Entwicklung zu erklären?
Lange Jahre war das Netzwerk Marx21 eine der größten Organisationen der (post-)trotzkistischen Strömung innerhalb der radikalen Linken in Deutschland. Marx21 richtete einige der größten linken Kongresse in Deutschland aus und erlangte durch seine Arbeit in der Partei DIE LINKE sogar zeitweise führende Parteiposten. Am Höhepunkt seines Einflusses waren 3 Mitglieder des Bundestages Unterstützer:innen von Marx21, dazu noch Janine Wissler als Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Hessischen Landtag, die nebenbei 2013 beinahe einen Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen ausgehandelt hätte. Von außen betrachtet, schien das Netzwerk die Aufgaben der Zeit zu meistern, das war auch seine Selbstwahrnehmung: Mit anderen Organisationen der radikalen Linken und besonders des trotzkistischen Spektrums befasste sich Marx21 kaum und wenn, dann wurden sie als unbedeutende Sekten geringgeschätzt und auf ihre Kritik an der eigenen Praxis wurde nicht eingegangen. Worin bestand diese Kritik?
Historische Debatten um den Charakter der Sowjetunion einmal ausgenommen, konzentrierten sich die meisten Kritiker:innen von Marx21 auf die Frage des Verhältnisses von revolutionären Marxist:innen zu größeren reformistischen Parteien. Beispielsweise schrieb Klasse Gegen Klasse in einem Kommentar zum „Marx is’ Muss Kongress 2014, dass Marx21 sich öffentlich scheue, eine theoretisch fundierte marxistische Position zur Frage der Regierungsbeteiligung der LINKEN auszusprechen, stattdessen werde immer nur dieser und jener Punkt am Koalitionsvertrag bemängelt und man ließe letztlich offen, ob es in Zukunft auch einen akzeptablen Koalitionsvertrag geben könnte. Damit hielt Marx21, offenbar taktisch (?), verstohlen hinterm Berg, dass sein Ziel offiziell weiterhin die revolutionäre Überwindung des bürgerlichen Staates sei.
Das Gleiche, so dieser fast 10 Jahre alte Artikel, würde Marx21 auch in Punkto Gewerkschaften machen:
Genauso zurückhaltend sind die GenossInnen im Umgang mit der Gewerkschaftsbürokratie. Auf einem Podium über ‚linke Alternativen zur Sozialpartnerschaft‘ saßen ausschließlich GewerkschaftsbürokratInnen […]. Linkspartei-Vorsitzender Bernd Riexinger mahnte, nicht von einer Gewerkschaftsbürokratie zu sprechen, da viele SekretärInnen hart arbeiten [würden].
Aus dieser sehr alten Kritik an der Politik von Marx21 lässt sich gut erkennen, dass die gegenwärtig krisengeschüttelte Lage des Netzwerkes eine lange Vorgeschichte hat und Ansätze hierfür bereits in seiner DNA angelegt sind. Worin besteht nun diese Krise?
Marx21 und DIE LINKE
Marx21 unterscheidet sich von allen anderen Organisationen des (post-)trotzkistischen Spektrums dadurch, dass es viel tiefer in die Partei eindrang und viel enger mit der Partei verwuchs als alle anderen. Die meisten Marx21-Genoss:innen verwendeten fast ihre gesamte Energie darauf, DIE LINKE oder ihre Studierendenorganisation SDS aufzubauen. Viele von ihnen erhielten Jobs bei Bundestags- und Landtagsabgeordneten oder bei Kommunalratsfraktionen und entwickelten so auch eine materielle Abhängigkeit von der Partei. Dementsprechend ist Marx21 von der jetzigen Krise der Partei vielleicht am stärksten betroffen. Das Wegbrechen vieler LINKE-Ortsverbände, das Dahinschmelzen der aktiven Parteimitglieder usw. entziehen einer Organisation, deren gesamte Existenz auf der Arbeit in der LINKEN ausgerichtet ist, rapide den Boden und tragen politische Differenzen, die auch in der Partei bestehen, in die eigene Organisation. Die politische und organisatorische Abhängigkeit von der LINKEN ist so groß, dass Marx21 im gegenwärtigen verschärften Flügelkampf der Partei allein auf weiter Flur eine für Revolutionär:innen sehr eigenartige zentristische Position einnimmt. Ein Zentrismus nicht etwa zwischen revolutionären und reformistischen Teilen der LINKEN, sondern zwischen Lederer und Wagenknecht. Marx21 ruft zur Einheit dieser beiden Spielarten der rechten Sozialdemokratie auf. So schreibt Christine Buchholz in ihrem programmatischen Artikel „Konsequente Opposition statt Spaltung, ganz unverblümt:
Doch eine Spaltung der LINKEN zum jetzigen Zeitpunkt würde weder die Krise der Partei beenden, noch eine vielversprechende neue Formation entstehen lassen. Im Gegenteil: Es wäre eine Schwächung der gesamtgesellschaftlichen Linken in Deutschland und womöglich der Anfang vom Ende der ersten relevanten politischen Kraft links von der Sozialdemokratie in der Geschichte der Bundesrepublik.
Revolutionär:innen innerhalb der Partei erheben während der Agonie der LINKEN also ausdrücklich nicht das eigene programmatische Banner, sondern rufen den beiden verfeindeten Hauptlagern der Partei lieber zu, den gemeinsamen Politzusammenhang auf Kosten auch der letzten inhaltlichen Klarheit zu erhalten. Sie ordnen sich also kompromisslerisch irgendwo zwischen Wagenknecht und Lederer ins genuin reformistische Spektrum der Partei ein und geben damit jede Eigenständigkeit, die Marx21 früher vielleicht mal besessen hat, völlig auf. Die Forderung nach Einheit der Partei ist nicht nur inhaltlich reaktionär, sondern auch obendrein völlig utopisch, denn es existiert keine politische Kraft innerhalb der Partei, die diese Einheit erwirken könnte, am wenigsten Marx21. Die Hauptfraktionen, die Regierungssozialist:innen, die Bewegungslinken und die Wagenknechtler:innen treiben, sich gegenseitig aufschaukelnd, immer schneller auseinander und dieser Prozess vertieft sich seit dem Beginn des Stellvertreterkrieges um die Ukraine noch weiter. Die politische Alternative, die Christine Buchholz anbietet, ist ebenso wie die Parole der Einheit mit Wagenknecht und Lederer eine Illusion. Sie schreibt in ihrem Text:
Angesichts der sozialen Härten, die durch Inflation und Krise auf einen großen Teil der Bevölkerung zukommen, und einer erstarkenden Mobilisierung von rechts, die sich die Angst vor diesen Härten zu eigen macht, brauchen wir eine LINKE, die klar Position bezieht und Opposition gegen die Ampel organisiert sowie Widerstand gegen rechts.
Diese LINKE, die sich Buchholz hier vorstellt, kann aber nur eine LINKE ohne, und nicht mit, Lederer und Wagenknecht sein. Und, wenn sie konsequent argumentieren würde, auch nur ohne die Bewegungslinke. Denn all diese Kräfte haben immer wieder bewiesen, dass sie ausdrücklich in keiner prinzipiellen Opposition zur jetzigen Regierung stehen. In der Frage Krieg und Frieden ist dies am aller deutlichsten: Entweder unterstützen sie offen die Kriegspolitik der Bundesregierung in Bezug auf die Ukraine und fordern Waffenlieferungen, Sanktionen oder sogar die Wehrpflicht (Ramelow). Oder sie wollen in den russischen Block hinüber wechseln, wie es Wagenknecht anstrebt, oder machen sich kleinbürgerliche Illusionen in die Möglichkeiten der Zähmung des Imperialismus durch Verhandlungen und internationale Verträge, gepaart mit einer Prise „ziviler“ Sanktionen, wie es in der Bewegungslinken gang und gäbe ist.
Denn alle diese Positionen bilden letztlich nur das Spektrum der politischen Ideen der deutschen Bourgeoisie ab, nur innerhalb der LINKEN mit einer anderen Gewichtung als in der Gesamtgesellschaft. Keine dieser Kräfte stellt sich auf einen wirklich oppositionellen, proletarischen Standpunkt.
Das Gleiche ist bei Fragen der Regierungsbeteiligung zu beobachten. Die Bewegungslinke und die äußerste Parteirechte mit Lederer, Ramelow und Hennig-Wellsow vereint der Wille, den bürgerlichen Staat mitzuverwalten. Differenzen haben sie nur in letztlich zweitrangigen Einzelfragen, die sofort keine Rolle mehr spielen, wenn die Regierungsbeteiligung zum Greifen nahe ist. Das durften wir immer wieder bei den Regierungsbeteiligungen der LINKEN in Berlin beobachten. Dort hat die Bewegungslinke nicht etwa die innerparteiliche Oppositionsbewegung dagegen angeführt, sondern sie bildete stets den linken Flügel der Regierungssozialist:innen, die ihre Beteiligung beispielsweise an die Bedingung der Besetzung des Wohnungsressorts knüpften, Stichwort: „rote Haltelinien“. Ihre Losung dabei wird am klarsten von Thomas Goes ausgesprochen, er nennt dieses „innovative“ Konzept: „Rebellisches Regieren!“ Dass damit nichts Nachhaltiges für die Berliner Mieter:innen rausgeholt werden konnte, scheint diese Leute nicht zu beirren. So war die Hauptkritik der Bewegungslinken bei der erneuten Regierungsbeteiligung der LINKEN in Berlin 2021 der Umstand, dass die Partei das Wohnungsressort an die SPD abgegeben hatte. So werde das mit der Umsetzung des Volksentscheides „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ nichts. Wäre es denn mit einer:einem linken Senator:in in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung was geworden? Laut der damals regierenden SPD-Bürgermeisterin Giffey ganz klar: Nein. Das war kein Nein, das man durch ein „rebellisches Regieren“ hätte austricksen können. Hinter diesem Nein stand die geballte politische und ökonomische Macht der deutschen Bourgeoisie und die Justiz des bürgerlichen Klassenstaates, die schon den Versuch des Berliner Mietendeckels Anfang 2020 vor Gericht einkassiert hat. Die herrschende Klasse und ihre staatlichen Organe kann man nicht austricksen, auch nicht in der Regierung. Ein bürgerlicher Staat ist kein Fahrrad, er kann nicht einfach für die Interessen des Proletariats in Bewegung gesetzt werden, denn er dient einzig und allein der Aufrechterhaltung kapitalistischer Produktions- und Eigentumsverhältnisse.
Wenn Buchholz also eine wirklich proletarisch orientierte LINKE will, eine LINKE, die sich tatsächlich in Opposition zum bürgerlichen Staat begibt, dann muss sie erstens anerkennen, dass die jetzige LINKE dahingehend nicht reformiert werden kann, weil es sowieso nicht genügend linke Kräfte in ihr gibt, die dies bewerkstelligen könnten. Zweitens muss sie dann daraus die einzig logische Konsequenz ziehen und nicht die Parole der Einheit ausgeben, sondern die Parole der Spaltung! Die Abspaltung derjenigen (kleinen) Minderheit der Partei nämlich, die tatsächlich an einem proletarischen Klassenstandpunkt festhält und die nun vor der Zersetzung der Partei in Sicherheit gebracht werden muss, bevor auch sie der endgültigen Demoralisierung anheimfällt. Gewiss wäre das ersatzlose Verschwinden der LINKEN ein historischer Rückschritt, aber wenn man nicht aktiv an einem Ersatz arbeitet, was tut man dann überhaupt? Doch zu dieser Forderung und zur dafür notwendigen offenen Ausgabe eines eigenständigen politischen Programms ist Marx21 nicht in der Lage. Zu sehr ist die Arbeit in großen reformistischen Zusammenhängen in Fleisch und Blut übergegangen. Man kettet sich lieber an die zerbrechende LINKE und zerbricht gleich mit.
Fraktionskampf
Der Streit um die Zukunft der LINKEN und Marx21 entbrennt neuerdings auch als erbittert geführter Fraktionskampf innerhalb des Netzwerkes. Über Jahre der reformistischen Praxis geschult, entwickelte sich (lange von der damaligen Führung ignoriert und so indirekt gefördert) ein rechter Flügel im Netzwerk um Luigi Wolf, Oskar Stolz und anderen, der sich immer stärker als Verfechter einer kompromisslerischen Politik innerhalb größerer reformistischer Zusammenhänge entpuppt. Dieser rechte Flügel arbeitet aktiv in der Führung der Bewegungslinken mit und weigert sich, seine bisherige Arbeit dort politisch zu reflektieren. Auch nach außen sind diese Marx21-Genoss:innen nicht mehr von anderen Bewegungslinken zu unterscheiden, denn sie treten beinahe nie offen als Marx21 auf und in der täglichen Praxis der Parteiarbeit sind sowieso keinerlei Unterschiede mehr zwischen ihnen und anderen Teilen des „linken Flügels“ zu erkennen. Auch in Bündnissen ist dies regelmäßig zu beobachten: So vertraten Mitglieder von Marx21 im „Genug ist Genug“-Bündnis einen auf große Breite und Minimalkonsens angelegten Kurs, welcher beispielsweise die Verbindung zwischen Krieg und Inflation vollkommen ignorierte und sich scheute, die Frage nach der politischen Bedeutung des Sanktionsregimes offen zu stellen. Dabei verkörpern sie nur die radikalisierte Version einer politischen Strategie, die Marx21 schon seit seinem Bestehen ausmacht. Sie stellen also keine Abweichung von irgendwelchen „guten theoretischen und strategischen Grundlagen“, die Marx21 einmal hatte, dar, sondern sind ihre konsequenteste Ausformung.
Aus dieser Arbeitsweise im Umfeld der Partei und dem SDS erwuchs analog zur Abkehr vom revolutionären Standpunkt in der Parteifrage auch eine Abkehr von den Lehren revolutionärer Gewerkschaftsarbeit. In der Praxis führte dies zu einer zunehmenden politischen Anpassung an bestimmte Teile des Gewerkschaftsapparats, mit dem sie zusehends verschmelzen. Diese Entwicklung ist nicht neu, sie begann schon vor rund zehn Jahren, aber erst jetzt ist dieser Teil von Marx21 so mächtig geworden, dass er mittlerweile die Führung im Netzwerk dominiert. Oskar Stolz sitzt jetzt mit vielen seiner Gesinnungsgenoss:innen im Koordinierungskreis der Organisation. Dabei ist es kein Zufall, dass es genau diese Leute sind, die sowohl eine reformistische Politik innerhalb der Partei als auch innerhalb der Gewerkschaften vorschlagen. Damals begannen einige junge SDS-Aktivist:innen mit den Konzepten der gewerkschaftlichen Organizerin Jane McAleveys, die nebenbei Mitglied der Demokratischen Partei in den USA ist, für den Gewerkschaftsaufbau zu „experimentieren“. Unterstützt wurden sie dabei materiell von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die ihnen erste „Organizingkampagnen“ ermöglichte, die darauf abzielen sollten, die Krise der Gewerkschaften durch eine veränderte Praxis, nämlich den Fokus auf Mitgliedergewinnung und Aufbau von Verhandlungsmacht, zu überwinden. Ihre entsprechende organisatorische Form, fanden diese Kampagnen in einer kleinen Firma, namens „Organizi.ng Beratung GmbH“, in der sowohl Oskar Stolz, als auch Luigi Wolf Gesellschafter sind. Diese Firma verleiht Arbeitskräfte für die Mitgliedergewinnung an die Gewerkschaften. Ein prekäres Geschäft, was sich von Kampagne zu Kampagne hangeln muss und nicht ohne die Überausbeutung, d.h. Überbelastung und Unterbezahlung seiner befristet angestellten Leiharbeiter:innen auskommt. Aus den Experimenten, die Gewerkschaft im Bund mit der Bürokratie und auf dem administrativen Wege zu „erneuern“ wurden die Ökonomisierung und das Outsourcing des Arbeitskampfes selbst. Bei dieser Art der Gewerkschaftsarbeit bleibt kein Platz für Kritik an den faulen Kompromissen der Führung. Die Einheit mit den linken Teilen der Bürokratie wird beschworen, diese Kontakte seien unverzichtbar für den Aufbau von Basisgruppen, ohne sie oder gar gegen sie ginge nichts. Dieses Wegducken vor der Konfrontation, die immer wieder zwischen Basis und Bürokratie ausbricht, wenn erstere ihre Forderungen durchsetzen will, notfalls auch mit Erzwingungsstreik und letztere als schmale privilegierte Schicht in der Gewerkschaft, die in ihrer Funktion als Vermittlerin zwischen Kapital und Arbeit auf Kompromisse mit den Kapitalist:innen setzt, ist organischer Bestandteil einer auf „breite Bündnisse“ angelegten reformistischen Politik.
Im Tarifkampf bei der Post Anfang 2023 stellte genau eine solche Situation Marx21 auf die Probe: Die Gewerkschaft drohte mit dem Erzwingungsstreik, weil sich die Post AG bei der Forderung nach tabellenwirksamem Inflationsausgleich sperrte. Die Urabstimmung wurde eingeleitet, 85 Prozent der Kolleg:innen stimmten für Streik. Kurz danach legte die Post ein weiteres Angebot vor, was nur marginal besser war, als ihr bisheriges – wieder nur Einmalzahlungen und erst ab April 2024 (!) tabellenwirksame Lohnerhöhung, dazu 15 Monate Laufzeit – eigentlich ein Unding. Doch die ver.di-Verhandlungsführung in Absprache mit der ver.di-Bundesführung in Berlin empfahl die Annahme des Verhandlungsergebnisses. Das traf auf heftige Gegenwehr an der Basis, die sich bereits auf Vollstreik vorbereitet hatte, doch alle Möglichkeiten der Überzeugung und Manipulierung der Belegschaften nutzend drückte die Gewerkschaftsbürokratie das unzureichende Ergebnis durch und vereitelte so den ersehnten Streik. Dem Proletariat wurde seine mächtigste Waffe entrissen.
Daraufhin veröffentlichten alle relevanten trotzkistischen Organisationen in Deutschland Statements mit nahezu übereinstimmenden Inhalt: „Ablehnung des Ergebnisses, Kampf dem Verrat der Bürokratie.“ Alle außer eine. Marx21 ließ sich erst knapp eine Woche später dazu hinreißen, eine Kritik des Verhandlungsergebnisses in Form eines Interviews zu veröffentlichen und dieses liest sich so:
Die Streikkassen sind voll und wir haben noch immer viel Rückhalt in der Bevölkerung. Deswegen waren wir alle auch so überrascht, dass wir jetzt doch nicht streiken. Wenn die Einschätzung ist, dass wir aus irgendeinem Grund doch nicht durchsetzungsfähig sind oder das Angebot aus anderen Gründen angenommen werden sollte, ist das voll in Ordnung. Das muss für die Kolleg:innen dann aber auch nachvollziehbar gemacht werden, statt das neue Angebot mit Argumenten der Konzernleitung zu bewerben.
Man spürt förmlich die innere Widersprüchlichkeit, die hinter diesem Statement zutage tritt. Auf der einen Seite ist man selbst verärgert über das Ergebnis, doch die „Führung wird ja ihre Gründe haben“. Man hätte sich lediglich gewünscht, dass das Ergebnis besser an die Basis vermittelt werde. Es wird überhaupt keine Verbindung hergestellt zur Struktur und Rolle der Gewerkschaften im Kapitalismus und zur kommandierenden Rolle der Gewerkschaftsbürokratie, die andere materielle Interessen hat, als die Arbeiter:innen, die sie bevormundet. All diejenigen Organisationen, die mit einer marxistischen Analyse der Gewerkschaften ausgestattet sind, waren nicht „überrascht“ vom Verrat der Verhandlungsführung am Streik und konnten daher auch klar und mit einer Stimme das Verhandlungsergebnis politisch einordnen und ein Programm für den Widerstand dagegen vorschlagen. Alle außer eine.
Ein neuer linker Flügel
Gegen diese Politik des Ausverkaufs an DIE LINKE und die Gewerkschaftsführung regt sich jedoch zunehmend Widerstand in den eigenen Reihen. Es hat sich neuerdings ein linker Flügel innerhalb von Marx21 herausgebildet, der im Prinzip eine Rückkehr zu den als gut und unverdorben angesehenen Wurzeln von Marx21, der Tradition der „International Socialist Tendency“ mit ihrem theoretischen Gründervater Tony Cliff, fordert. Diese Genoss:innen betonen die Notwendigkeit der offen auftretenden Eigenständigkeit der Organisation gegenüber dem Reformismus und in den Gewerkschaften die Orientierung auf Basisaufbau und sie kritisieren das zunehmende Verwachsen von Marx21 mit der Gewerkschaftsbürokratie und der Firma „Organizi.ng“.
Dabei versuchen sie eigenartigerweise die praktischen Konsequenzen, die sich aus ihrem Programmvorschlag für Marx21 ergeben, im womöglich wichtigsten Punkt zu ignorieren. Aus ihrer richtigen Kritik am falschen Umgang mit größeren reformistischen Organisationen würde eigentlich die Notwendigkeit folgen, eine Abspaltung von der LINKEN nicht nur abstrakt für wichtig zu halten, sondern so schnell wie möglich vorzubereiten. Man sieht die Arbeit in der Partei stattdessen „pragmatisch“. In der Praxis bedeutet dies, dass man auf der einen Seite den politischen Kampf um die Partei einstellen will und sich auf die Konsolidierung der eigenen verbliebenen Kräfte konzentrieren möchte. Auf der anderen Seite möchte man aber auch nicht offen die Abspaltung der verbliebenen proletarischen Teile der Partei als Parole ausgeben und um sie herum eine Sammelbewegung in Aktionseinheit mit anderen Revolutionär:innen aufbauen. Man tut also weder das eine, noch das andere und verfällt in dieser zentralen taktischen Frage in abwartende Passivität, die zum Nachtraben hinter den historischen Ereignissen verdammt. Noch dazu in einer Situation, in der alle Anzeichen darauf hindeuten, dass es für DIE LINKE nur noch eine Entwicklungsrichtung geben wird, und zwar bergab. Diese zögerliche Haltung ist letztlich schädlich für die verstreuten proletarischen Reste in der Partei, denn je länger niemand das Banner der Spaltung und des Aufbaus einer kleineren, aber dafür linkeren Alternative erhebt, desto stärker werden diese Reste von der Lethargie ergriffen, mit desto weniger Kräften wird man letztendlich die Partei verlassen müssen. Zu dieser Frage muss der linke Flügel sofort eine Antwort finden und sich nicht scheuen, in noch offenere Opposition mit den anderen Flügeln in Marx21 zu gehen. Die Schlussfolgerungen aus der Degeneration von Marx21 müssen konsequent sein und bis auf den Grund des Problems vordringen.1
Zwischen diesen beiden inhaltlich relativ klar umrissenen Fraktionen steht noch ein zahlenmäßig schwächeres Zentrum, welches größtenteils aus den traditionellen Führungskadern der Organisation und einigen versprengten Einzelpersonen besteht. Wichtige Personen hier sind die bereits zitierte Christine Buchholz und der Chefredakteur des Marx21-Magazins Yaak Pabst. Diese Gruppe, die untereinander sehr uneins ist, neigt in konkreten Auseinandersetzungen mal in die eine und mal in die andere Richtung und predigt dabei genau wie in der Partei das Mantra der „Einheit um jeden Preis“. Die Basis für dieses Grüppchen wird in Zukunft wahrscheinlich rapide dünner werden – ein Lavieren zwischen zwei solch diametral entgegengesetzten Strategien unter einem Dach ist auf Dauer unmöglich.
Marx21, genau wie DIE LINKE, steht kurz vor der Spaltung und keine Einheitsparole kann diesen Prozess stoppen. Er ist angelegt in der inneren Funktionsweise dieser Organisation, die sich zum Trabanten der LINKEN gemacht hat. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis all diese Widersprüche sich entladen werden. Fest steht in jedem Falle, der diesjährige „Marx is’ Muss-Kongress war wahrscheinlich der letzte seiner Art.
Fußnoten
1. Mit dem linken Flügel hat der Autor dieses Textes durchaus politische Übereinstimmungen, aber er hat mit ihnen nicht nur taktische, sondern auch theoretische Differenzen und zwar zu grundlegenden Aspekten wie der Staatstheorie, der Analyse des Reformismus und der Rolle der revolutionären Partei und des proletarischen Internationalismus. Diese Differenzen haben es ihm unmöglich gemacht, weiterhin in Marx21 zu verbleiben und bilden den politischen Hintergrund seines kürzlichen Austritts.