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„Manifest Zimmerwald 2022“: Nein zum Krieg! Für eine revolutionäre Friedensbewegung!

16.03.2022, Lesezeit 10 Min.
Gastbeitrag

Das neu gegründete Schweizer Projekt Zarya ruft mit einem „Manifest Zimmerwald 2022“ zu einer neuen revolutionären und internationalistischen Antikriegsbewegung auf. Wir veröffentlichen ihr Manifest als Gastbeitrag.

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Genf, 26. Februar 2022. Quelle: Marcio Cimatti / Shutterstock.com

Seit dem 24. Februar herrscht auch in Europa wieder offener Krieg. Millionen Menschen flüchten, tausende Menschen sterben und verkrüppeln. Die Arbeit und das Leben vieler Generationen werden zerrissen, zerstückelt, zerstört. Der Alptraum des Imperialismus hat Europa erweckt.

Es ist ein reaktionärer Krieg um die Neuaufteilung der Ukraine. Es ist ein barbarischer Angriff der Herrschenden Russlands mit dramatischen Konsequenzen für alle Menschen in dieser Region, ob im Donezbecken, auf der Krim oder in der Westukraine. Wenn Putin behauptet, es gehe ihm um die Verteidigung seines Volkes, dann ist das genauso eine Lüge, wie wenn Selenski erklärt, er verteidige die Unabhängigkeit, oder wenn von der Leyen von Demokratie und Stoltenberg vom Frieden reden. Bei diesem Krieg geht es einzig um das Herrschaftsrecht über die Menschen und die Rohstoffe der Ukraine. Er wäre niemals entstanden, hätten die Herrschenden nur für einen Moment in dieser Tragödie ihre Interessen zurückgestellt. Stattdessen sind sie im vollen Bewusstsein über die menschenverachtenden Konsequenzen auf den Krieg zugeschritten. Für sie ist die Ukraine nicht mehr als Aas, um das sie sich seit dem Sturz der stalinistischen Diktatur zanken. Keiner wollte in dieser Krise von der Beute ablassen. Die Ukraine hatte zwar ihre Unabhängigkeit erlangt, doch es war nie mehr als die beschränkte Freiheit, zwischen diesen oder jenen Ausbeuter:innen zu wählen. Ob unter Janukowitsch russische oder unter Selenski westliche Kapitalinteressen vertreten wurden und werden – die Macht lag immer in den Händen der Reichen. Im Imperialismus gab es nie, und kann es auch nie ein wahrhaftes Selbstbestimmungsrecht der Völker geben.

Die Herrschenden, die sich auf diese Gesellschaftsordnung der Barbarei stützen, sind verantwortlich für diesen Krieg. Und das tragische Schicksal der Ukraine ist ihnen nicht genug. Keiner der Herrschenden will, die Waffen einmal ergriffen, diese wieder zur Seite legen. Im Gegenteil: Sie verlangen mehr Kriegsgerät und drohen mit noch schrecklicheren Vernichtungswerkzeugen. Auch die Regierungen vermeintlich neutraler Länder wie der Schweiz wollen nun aufrüsten. Die Arbeiter:innen der Ukraine und Russlands zahlen mit ihrem Leben nicht nur für die unmittelbaren Interessen der kriegführenden Lager, sondern auch für die militaristischen und ökonomischen Ambitionen der restlichen kapitalistischen Staaten und die Profite der globalen Kriegswirtschaft. Auch angeblich zivile Grosskonzerne wie Amazon, Tesla oder Apple sehen sich berufen, offen in diesem Konflikt einzugreifen. Sie ringen in diesem Krieg unverhohlen um Marktanteile. Egal welche Kapitalist:innen den Sieg in dieser menschlichen Niederlage davontragen: Die Ruinen dieses Krieges werden verstärkte politische Repression, vergrösserte militärische wie wirtschaftliche Abhängigkeit und verschärfte soziale Krise sein.

Die Geissel des Imperialismus wird sich nicht mit dem blutigen Schutt der Ukraine zufriedengeben. Zur Erhaltung alter und Eroberung neuer Profite werden die Kapitalist:innen die Armeen ihrer Nationalstaaten schon bald in den nächsten Krieg entsenden. Der Kapitalismus befindet sich in einer historischen Krise. Die alte Ausbeutung ist an seine Grenzen gekommen und so verlangt das Kapital eine Neuaufteilung der Welt. Ob in Libyen, Syrien, Jemen oder nun der Ukraine. Der neueste Krieg hat die kapitalistischen Minister:innen, Kommissar:innen und Generalsekretär:innen in ihrem Militarismus nur weiter enthemmt und entblößt, nicht aber erweckt. Die Hegemonie der USA befindet sich im Niedergang, und nun kämpfen Grossmächte wie regionale Mächte um das Erbe. Diese Kriege sind erst der Anfang einer gewaltigen wie gewalttätigen Neuordnung.

Nur die sozialistische Organisation der Produktion kann diesen immer wiederkehrenden Horror der Kriege beseitigen. Die höchste Einheit im Kapitalismus sind wirtschaftliche und militärische Bündnisse, es sind dies aber immer Unionen zur gemeinsamen Ausbeutung und Unterdrückung der eigenen und der anderen Bevölkerung. Erst wenn die Eigentumsverhältnisse, die Klassen und der Staat aufgelöst, und die verschiedenen Formen der Unterdrückung überwunden sind, werden die Menschen ihr enormes Wissen und ihre immensen Kräfte frei und friedlich zum Wohle aller einsetzen können. Nur wenn die Arbeiter:innen und mit ihnen alle unterdrückten Sektoren der Gesellschaft ihre Herrscher:innen stürzen und an die Stelle des kapitalistischen Gegeneinanders die sozialistische Gemeinschaft stellen – erst dann wird der Krieg gegen den Krieg gewonnen sein.

Die überwältigende Mehrheit der Arbeiter:innen, der Frauen, der Jugend und aller Unterdrückten – sie wollen Frieden. Die unabhängigen sozialistischen Arbeiter:innen kämpfen seit jeher gegen Krieg und Militarismus. Doch dieser Überfall geschieht in einem Moment, in dem nicht nur der Kapitalismus, sondern auch die Arbeiter:innenbewegung in einer tiefen Krise steckt. Weder in Russland oder in der Ukraine, noch in den NATO- und EU-Ländern sind die Führungen der Gewerkschaften und Parteien bereit oder in der Lage, die Regierungen von diesem mörderischen Wahnsinn abzuhalten. Doch die Krise im Bewusstsein der Klasse stößt immer heftiger auf die Grenzen der bürgerlichen Restauration: Ob gegen Massenentlassungen, das rassistische Morden der Polizei, Femizide, die Zerstörung des Klimas oder Krieg – überall regt sich Widerstand gegen die Ausbeutung und Unterdrückung. Es wird die erwachende Avantgarde der Arbeiter:innen und Unterdrückten sein, die diesem Leid gemeinsam ein Ende bereiten wird.

Es ist die Aufgabe von uns revolutionären Sozialist:innen die Forderungen der verschiedenen Sektoren der Avantgarde aufzunehmen und zu einem Bündnis gegen das kapitalistische Regime zu vereinen, das sich am menschlichen Übel labt. Wir müssen die Stimme aller Unterdrückten sein, gerade dann, wenn diese Stimme inmitten imperialistischer und reaktionärer Hetze sowie Gewehrschüssen untergeht.

Doch mit dem ersten russischen Schuss scheint die sozialistische Bewegung zu fallen. Entweder verteidigt sie den Einmarsch der russischen Truppen und vermeidet es, ihren sofortigen Abzug zu fordern, oder sie vergisst in ihrer Verurteilung der russischen Regierung, über die Mitverantwortung der kapitalistischen Nekrophagen in der NATO wie der EU und das Scheitern der kapitalistischen Diplomatie zu sprechen. So unterstützen sie schliesslich die eine oder andere Seite in diesem reaktionären Konflikt. Doch für uns Sozialist:innen gibt es keine Nation oder Armee in diesem Krieg. Wir haben alle nur verschiedene Ausbeuter:innen und Unterdrücker:innen, die uns knechten. Ob unter dem Schlagstock der offenen Unterdrückung oder im Schein der beschränkten bürgerlichen Demokratie – immer herrscht die Diktatur des Kapitals. In der Ukraine stehen sich nicht das freiheitliche Europa und die asiatische Tyrannei gegenüber. Es gibt keinen Kulturkampf. Es stehen sich verfeindete Kapitalist:innen gegenüber, und wer auch immer dieses Gemetzel für sich entscheidet: Die demokratischen und sozialen Errungenschaften der Arbeiter:innen und Unterdrückten werden ihm auf der ganzen Welt zum Opfer fallen. Zensur und Militärausgaben nehmen allseitig zu. Statt dass sich das sozialistische Lager geschlossen gegen Imperialismus und Reaktion wendet, stürzen sich viele Sozialist:innen für das eine oder andere Lager in dieses Blutbad unter Brüdern, Schwestern wie Mitmenschen und befeuern so den Krieg.

Die sozialistische Bewegung stellt in Teilen auch in der Schweiz ihre Presse und ihre Politik dem Imperialismus und der Reaktion zur Verfügung. Nicht nur schliessen sie sich agitatorisch einer der Kriegsparteien an, sondern sie unterstützen auch deren Forderungen. Sie wiederholen das Programm des Kremls oder Washingtons und Brüssels. Entweder fordern sie eine einseitige Umsetzung der Ansprüche der russischen Regierung zur Beendigung des Krieges, oder sie verkommen zum Sprachrohr der ukrainischen Regierung und ihrer Verbündeten in der NATO und der EU. So haben verschiedene sozialistische Organisationen vom Bundesrat die Unterstützung und Verschärfung der Sanktionen gegenüber Russland gefordert. Sie schliessen sich damit einem ökonomischen Krieg an, dessen Leidtragende die russischen Arbeiter:innen bereits heute sind – Arbeiter:innen, die diesen Krieg nie wollten. Nun unterstützen diese sozialistischen Organisationen die Bestrafung der russischen Bevölkerung mit noch mehr Armut, befeuern damit die chauvinistische Agitation und treiben die Umwandlung Russlands in eine Kriegswirtschaft voran. Mit der Unterstützung der Sanktionen beenden sie jedoch nicht den Krieg, sie verschärfen ihn. Und nachdem der Bundesrat in seinem niederträchtigen Opportunismus diese Sanktionen zuerst abgelehnt hatte und nun doch unterstützt, wird heute bereits offen über eine militärische Unterstützung der ukrainischen Regierung gesprochen. Nur der Umstand, dass die Schweiz weder in der EU noch in der NATO ist, hält einige Sozialist:innen hier wohl noch davon ab, offen für Kriegskredite oder einen Kriegseintritt einzustehen. Auch wenn der Krieg noch andauert – die sozialistische Bewegung hat vielerorts bereits vor dem Imperialismus und der Reaktion kapituliert.

Wir weigern uns, in diesen oder jenen Sozialchauvinismus zu verfallen. Wir fordern alle sozialistischen Gruppierungen dazu auf, umgehend die Unterstützung eines der Lager einzustellen und sich auf ihr revolutionäres Programm zu besinnen. Wir verteidigen das Recht der Menschen in der Ukraine, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen. Doch dieser Kampf für Selbstbestimmung bedeutet auch eine gegenüber Russland, der NATO und der EU unabhängige Positionen einzunehmen. Heute wird dieser Kampf gegen die Invasor:innen geführt, nach diesem Krieg wird er bei jedem Ausgang gegen die russischen, ukrainischen und westlichen Kapitalist:innen geführt werden müssen. Die Menschen der Ukraine sollen die ausgehändigten Waffen nicht wieder ablegen, bis auch der Kampf für eine sozialistische und damit von jegelichem Kapital unabhängige Ukraine gewonnen ist. Und die russischen Soldat:innen sollen ihre Waffen gegen ihre Offizier:innen richten, nach Moskau marschieren und dort zusammen mit den Demonstrant:innen ihre kapitalistische Regierung unter Putin stürzen. Die Augen der Kämpfenden richten sich gerade jetzt auf die Demonstrationen und Kundgebungen im Ausland. Marschieren hier die Sozialist:innen mit der einen oder anderen Seite in diesem reaktionären Konflikt, so werden die mutigen Aktivist:innen und Revolutionär:innen unter ihnen nicht nur vom militärischen, polizeilichen und faschistischen Stiefel, sondern auch von den Führungen der internationalen Arbeiter:innenbewegung zertreten. Unsere Solidarität gilt einzig den ukrainischen und russischen Arbeiter:innen und Unterdrückten – niemals den kapitalistischen Regierungen.

Unsere Aufgabe ist es, Demonstrationen gegen und nicht für den Krieg zu organisieren. Demonstrationen, in denen wir dieses reaktionäre Blutbad verurteilen, einen sofortigen Stopp der Kampfhandlungen und einen Sturz der verantwortlichen Regierungen Russlands, der EU und der NATO fordern. Bereits jetzt gehen weltweit hunderttausende Menschen wegen dieses Krieges auf die Straße – doch die Manifestationen sind manchmal pazifistisch und meistens patriotisch. Sie schüren entweder Illusionen in einen friedlichen Kapitalismus – just wenn das sogenannte Völkerrecht und die kapitalistische Diplomatie erneut ihren Bankrott offenbaren – oder unterstützen offen die ukrainische Regierung und ihre Sponsor:innen in der EU und der NATO. Die sozialistische Bewegung droht in diesen Wellen unterzugehen. Dem gegenüber müssen wir zu Demonstrationen der internationalen Solidarität aufrufen. Eine Solidarität, die sich einzig an den Arbeiter:innen und Unterdrückten ausrichtet. Einer Solidarität der zivilen Hilfsgüter, statt der militärischen Kriegsgüter. Einer Solidarität der Aufnahme von Flüchtlingen, statt der Entsendung von Soldat:innen und Söldner:innen. Einer Solidarität der Verabschiedung von wirtschaftlicher Hilfe statt von Sanktionen. Einer Solidarität der Streiks gegen Waffenlieferungen, statt des Sendens von Kriegswerkzeug. Einer Solidarität des Aufbaus von Organen der Selbstorganisation der Unterdrückten, statt der Beherrschung durch die Bürokratie. Einer Solidarität des Wiederaufbaus einer revolutionären IV. Internationalen, statt der Unterordnung unter ein kapitalistisches Lager. Das ist der Kampf für Frieden.

Wir laden alle revolutionären Sozialist:innen dazu ein, sich diesem Manifest anzuschliessen. Wir wollen die zersplitterten nationalen und internationalen Verbindungen unter den Sozialist:innen neu knüpfen, bevor der Krieg sie noch weiter zerreisst. Wir wollen uns in den Bewegungen, Gewerkschaften und Organisationen zu revolutionären Fraktionen zusammenschliessen. Wir wollen gemeinsam gegen diesen und alle kommenden Kriege im Imperialismus marschieren. Wir wollen vereint den Arbeiter:innen und allen Unterdrückten in ihrem Kampf für Selbstorganisierung und Frieden zur Seite stehen. Wir wollen gemeinsam für das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Gemeinschaft des Sozialismus einstehen. Denn nur durch die sozialistische Revolution können wir Frieden erlangen.

  • Nein zum Krieg!
  • Russische Streitkräfte raus aus der Ukraine! Nieder mit Putin und allen russischen Kapitalist:innen!
  • Nieder mit der NATO, der EU, dem Bundesrat und den Kriegsvorbereitungen! Nieder mit allen Kapitalist:innen!
  • Gegen Krieg und Wirtschaftskrieg – weder Kriegskredite, Waffenlieferungen, noch wirtschaftliche Sanktionen!
  • Für die Aufnahme aller Flüchtlinge – aus diesem und allen Kriegen!
  • Für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker – keine Besatzungen, Annexionen, keine wirtschaftliche Angliederung! Für eine unabhängige, sozialistische Ukraine!
  • Für eine von imperialistischer, reaktionärer oder reformistischer Ideologie unabhängige Friedensbewegung, die für die Selbstorganisierung und Einheit aller Arbeiter:innen und Unterdrückten kämpft!

Arbeiter:innen und Unterdrückte aller Länder – vereinigt euch!

PROJEKT ZARYA

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