Manda Bala – Send a Bullet
Ein Film erzählt, was in Brasilien alles schief läuft – aus Sicht der Bourgeoisie
Beim alternativen Sundance-Festival im Januar 2007 gewann ein Dokumentarfilm über Gewalt und Korruption in Brasilien die Auszeichnungen für den besten Dokumentarfilm und für die beste Kamera. „Manda Bala“ (Schickt eine Kugel), die erst letzte Woche in die deutschen Kinos kam, erzählt, laut dem Werbeplakat, vom sogenannten „Entführungsproblem“: „Wenn die Reichen von den Armen klauen, klauen die Armen die Reichen.“
Dieser Film besteht aus Bildern, die anziehend und schrecklich zugleich sind. Wir sehen Nahaufnahmen von Millionen Kaulquappen auf einer Froschfarm in Nordbrasilien und fliegende Aufnahmen aus Hubschraubern von den endlosen Hochhäusern der 20-Millionen-Megalopolis São Paulo. Aber mittendrin sehen wir auch Erpressungsvideos, in denen einem Entführungsopfer das Ohr abgeschnitten wird – und dann auch die plastische Chirurgie, bei der ein Ohr aus Ribbenknorpel rekonstruiert wird.
Anhand dieser Bilder erzählt der junge amerikanische Regisseur Jason Kohn, ein Schüler vom legendären Doku-Regisseur Errol Morris („The Thin Blue Line“), eine ganze Reihe von Einzelgeschichten über Kriminalität. Im Interview gibt er zu, dass „die Geschichte des Films erst in der Bearbeitung entstand.“
Der Film öffnet mit dem Besitzer einer Froschfarm, die mitten in einem riesigen Korruptionsskandal stand. Bis zu zwei Milliarden US-Dollar an staatlichen Geldern, die für die Entwicklung des bitterarmen brasilianischen Nordwestens bestimmt waren, wurden über Scheinfirmen veruntreut, unter anderem über diese Forschfarm. Aber darüber möchte der Besitzer nicht reden – lieber redet er darüber, wie seine Frösche sich gegenseitig auffressen: „Während Menschen meistens von hinten angreifen, greifen Frösche nur von vorne an und schlucken den Kopf ihres Gegners zuerst“. Zwischendurch kommen auch die Staatsanwälte zu Wort, die den Politiker hinter diesem Skandal – den ehemaligen Präsident des brasilianischen Senats – erfolglos anklagen.
Die Hauptfigur im Film, ein anonymer brasilianischer Jungkapitalist, erzählt von seinen alltäglichen Überlebensstrategien: „Ich habe ein zweites Portmonnaie für Straßenräuber, da ist nur ein bisschen Bargeld darin.“ Aber über die soziale Realität, in der er lebt, macht er sich genauso wenig Gedanken wie die Filmemacher, denn: „Ich bin nur ein Bürger, der Schutz verdient.“ Doch wie hat er seinen gepanzerten Porsche 911 bezahlen können? Wo hat er sein akzentfreies Englisch lernen können – etwa auf der öffentlichen Schule von São Paulo? Die alltägliche Gewalt erscheint ihm – und uns als Zuschauer*innen – als etwas Fremdes, ja Außerirdisches.
Die Bourgeois, die im Film interviewt werden, machen einen so weltfremden, unsympathischen Eindruck, dass man kaum wegguckt, wenn einem Millionär vor laufender Kamera das Ohr abgeschnitten wird. Denn davor hat der beste Schönheitschirurg des Landes („Plastikchirogen sind ein bisschen wie Gott“) ausführlich erklärt, wie er für jeden – der es sich leisten kann – ein schönes neues Ohr basteln kann.
Der Film ist gemacht für reiche Amerikaner*innen, die als Tourist*innen, Austauschstudent*innen oder Geschäftsleute in Brasilien unterwegs waren und sich dann bei Starbucks in New York erzählen: „Es ist so ein schönes Land, aber es ist schade, dass es so viel Gewalt gibt!“ Kein Wunder, dass genau solche Menschen beim Sundance-Festival dem Film einen Preis verliehen haben!
Für sie mag es eine sozialrevolutionäre Erkenntnis sein, dass nicht nur die Armen sondern auch die Eliten des Landes kriminell sind. Doch der Film interessiert sich kaum für die sozialen Ursachen der Gewalt –spannender ist die ständig wachsende „Sicherheitsindustrie“, mit der die Reichen sich zu schützen versuchen: zum Beispiel eine Fahrschule für Reiche, wo sie lernen, Entführer*innen zu entkommen. São Paulo beherbergt die größte private Hubschrauberflotte der Welt, damit Reiche weit über der Gewalt auf der Straßenebene sicher bleiben.
Was im Film kaum gezeigt wird sind die endlosen Favelas (Armenviertel) São Paulos. Erst ganz am Ende des Films kommt ein Kidnapper zu Wort, der seine Lebensbiographie erzählt: „Nein, ich denke nicht darüber nach, was ich tue – ich verwende die Zeit lieber, um mehr Geld zu machen.“ Während die Reichen immer mehr Geld in gepanzerte Fahrzeuge investieren, nutzt der Kriminelle die millionenschwere Beute aus den Entführungen, um in seiner Favela Straßen zu asphaltieren oder eine Kanalisation zu bauen. So ist er, zumindest für Zuschauer mit einem bisschen Klassenbewusstsein, das einzige Held des Filmes. Ein Nachtrag enthüllt, dass er kurz nach den Dreharbeiten von der sympathisch dargestellten Anti-Entführungseinheit der Polizei regelrecht hingerichtet wurde.