Macri in der Regierung, Bosse an der Macht

19.12.2015, Lesezeit 15 Min.
1

Wenige Tage nach der zweiten Runde der argentinischen Präsidentschaftswahlen kündigte der neu gewählte Präsident Mauricio Macri einen „Kriegsplan“ an. Das Tempo der darin enthaltenen Maßnahmen ist noch unbekannt, deren Tiefe jedoch ist wohlverstanden. Um diesen Plan voranzutreiben, suchte er Personal, das zu seinen Ambitionen passt: Manager*innen und Chef*innen haben ihren Platz in seinem neuen Kabinett gefunden.

Wir stellen hier eine Analyse der politischen Verschiebung vor, die der Sieg der Koalition „Cambiemos“ (bestehend aus unter anderen Propuesta Republicana (PRO) und Unión Cívica Radical (UCR)) bedeutete, sowie der Rolle der hauptsächlichen politischen Kräfte und der Gewerkschaftsführungen. Wir betrachten außerdem die widersprüchlichen Charakteristika der Wahl und schlagen einige strategische Hypothesen für die Arbeiter*innenbewegung und die Linke vor.

Ein Unentschieden

Der Sieg von Cambiemos war knapper, als es die Umfragen vorausgesehen hatten. Diese Situation eines praktischen Unentschiedens legt der neuen Regierung einige Beschränkungen auf. Demzufolge befindet sich Mauricio Macri in keiner einfachen oder komfortablen Position.

Cambiemos besitzt weder im Abgeordnetenhaus noch im Senat eine Mehrheit. Die ehemalige Regierungspartei „Front für den Sieg“ (FPV) bleibt die größte Partei im Abgeordnetenhaus und hat eine Mehrheit im Senat. Gouverneur*innen teilen sich unterschiedlich auf: In zwölf Provinzen gewann die FPV, in vier Provinzen die (nicht-kirchneristische, peronistische) Partido Justicialista (PJ), in drei Provinzen die (konservativen) „Radikalen“, in zweien die PRO; in dreien trugen andere politische Kräfte den Sieg davon.

In der Provinz von Buenos Aires ist die Situation nicht einfach für die gewählte Maria Eugenia Vidal von Cambiemos. Der Peronismus hat eine Mehrheit in beiden Häusern der Legislative und hält die Macht in den größten Bezirken (trotz des Falls einiger „Barone“, wie die Bürgermeister*innen genannt werden, die für Jahrzehnte in verschiedenen Stadtverwaltungen regieren).

Zuerst markiert das landesweite Wahlergebnis objektiv einige Grenzen für Macris politisches Projekt. Auf eine verzerrte Art enthüllt es auch die Kräfteverhältnisse im Allgemeinen und zeigt die Ablehnung des Austeritätsplans durch breite Teile der Bevölkerung – die „Hälfte minus eins“ –, die gegen Macri und im Grunde für den Anti-Austeritäts-Charakter der letzten Phase des Wahlkampfs von Daniel Scioli (FPV) gestimmt haben.

Vorwärts, Radikale?

Fast unmittelbar nach der Wahl wurde deutlich, dass es sich bei Cambiemos um eine Koalition handelt. Ihre Heterogenität schafft Konfliktpotential – besonders nach einem so knappen Triumph und in einer so heiklen wirtschaftlichen Situation.

Die Abdankung von Ernesto Sanz, dem Architekten, dem die Unterordnung der UCR unter die PRO gelang, war die erste „Minikrise“ der Koalition. Die zweite Krise, wenn auch weniger schwerwiegend, entstand dadurch, dass der UCR nur vier eher unwichtige Ministerien im neuen Kabinett zugesprochen bekam. Die „Radikale“ Partei hat sich immer noch nicht vom Desaster der Allianz im Jahr 2001 erholt, doch hat sie ihre Macht in gewissen regionalen Wahlen erhöht und stellt damit ein gewisses Problempotential für die neue Regierung dar.

Dazu kommt eine weitere Figur der Koalition, Elisa Carrió, die das neue Kabinett weniger als einer Woche nach dem Sieg kritisiert hat – das „neue Team“ ist damit weit entfernt von der Harmonie, welche die Koalition sich gewünscht hatte.

Die üblichen Verdächtigen

Nach seiner historischen Niederlage befindet sich das peronistische Universum in einem Stadium der internen Beratung. Obwohl sich der Peronismus einer komplexen Situation gegenüber sieht, scheint die Erholung der „Front für den Sieg“ nach der politischen Niederlage im Oktober zu zeigen, dass es keine Tendenz zur Auflösung der Partei oder einer Massenflucht zum „Macrismus“ gibt.

Die ehemalige Präsidentin Cristina Fernández und ihr Spitzenkandidat Daniel Scioli können als „Mutter und Vater der Niederlage“ betrachtet werden, doch es gibt es im Peronismus außer ihnen nur wenige Führungspersönlichkeiten mit landesweitem Profil. Des Weiteren schätzen viele Expert*innen die Endergebnisse der FPV in der Stichwahl als Zeichen für die Zustimmung zu manchen Facetten der Kirchner-Regierung der letzten zwölf Jahre ein.

Die „Partido Justicialista“ durchläuft jedoch einen Fraktionskampf, angeführt von „internen Erneuer*innen“, unter denen sich José Manuel de la Sota (aus Córdoba) in den letzten Wahlen als der stärkste erwiesen hat. Er zeigt seine Stärke auf paradoxe Weise: Obwohl seine Provinz von einer „gelben Welle“ (Macris Wahlkampffarbe) überrollt wurde und er zweitrangigen Figuren seiner Regierung erlaubt hat, in der Regierung der PRO mitzuarbeiten, führt er dennoch einen Kampf innerhalb des Peronismus.

Der Sieg der PRO wirkte nicht als Magnet innerhalb der peronistischen Sphäre. Das schließt Vereinbarungen zwischen den beiden Kräften aber nicht aus, beginnend mit Cristina Fernández‘ „Spende“ des Wissenschafts- und Technologieministers, Lino Barañao, an die neue Regierung, und ihrer Anordnung an die Funktionär*innen, an dem Übergang zu mitzuwirken.

Dies ist der aktuelle Trend, doch weil es so eine Niederlage noch nie gegeben hat (und der Peronismus seine Hochburg, die Provinz Buenos Aires, verloren hat), sind unerwartete Brüche und Spaltungen in verschiedene Tendenzen möglich.

Das gebrochene Rückgrat

Auch die zweite Säule der realen Macht des Peronismus, die Gewerkschaftsbürokratie, durchläuft einige gewichtige Neujustierungen. Diese folgt der Umgestaltung des „politischen“ (im Gegensatz zum gewerkschaftsorientierten) Peronismus, der von eigenen Interessen geleitet wird.

Der Gewerkschaftsführer Hugo Moyano setzte (wenn auch nicht öffentlich) auf Macri und gewann, wohingegen die Mehrzahl der Gewerschaftsführer*innen Scioli unterstützten und somit geschlagen wurden. Jedoch brüskierte Macri Moyano nur wenige Tage nach der Stichwahl absichtlich und schob ein Treffen mit ihm auf. Trotz ihrer internen Auseinandersetzungen und während die Bourgeoisie mit der neuen Regierung jubelt und neue Sparpläne vorbereitet werden, verhielt sich die Gewerkschaftsbürokratie gegenüber der Öffentlichkeit ruhig und verhandelt ihre Privilegien hinter den Kulissen.

Der erste Stoß war die angebliche Ablehnung von Jorge Lawson als Arbeitsminister (einem Mann, der von dem Lebensmittelkonzern Arcor unterstützt wird) durch die Gewerkschaftsbewegung. Diesen Rang nahm letztendlich Jorge Triaca ein, dem Sohn eines alten Kollaborateurs mit der Militärdiktatur und einem fanatischen Anhänger von Carlos Menem. Er hatte einen größeren Konsens unter bürokratischen Gewerkschaftsführer*innen erreichen können. Nichtsdestoweniger laufen die wahren Verhandlungen über andere Kanäle. Für den gesamten Gewerkschaftsapparat dreht sich der wahre Kampf um das Gesundheitsministerium, derjenigen Regierungsinstanz, der die Kontrolle über die gewerkschaftlich verwalteten Gesundheitsversicherungen (genannt „obras sociales“) obliegt.

Die Gewerkschaftsbürokratie fällt schnell in ihre typische Strategie zurück: in harten Zeiten, sichere deine eigenen Vorteile.

Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes im Allgemeinen und jene der Provinz Buenos Aires im Speziellen sind auf der Hut vor möglichen Lohnvorenthaltungen und haben ihre Blicke auf die Tarifverhandlungsvereinbarungen des nächsten Jahres gerichtet. Unter den Lehrer*innen, deren Gewerkschaftsortsverbände in mehreren Städten von der Linken geführt werden, ist die Alarmbereitschaft deutlich. Dieser Sektor – zusammen mit den Bankangestellten – beginnt jedes Jahr als einer der ersten mit den Tarifverhandlungen. Die Gewerkschaftsführung aber ist nicht willens, ernsthaft Widerstand zu organisieren und die Sparpolitik zu denunzieren, die bereits begonnen hat.

Ideologie und Politik

In anderen Artikeln haben wir Kirchners Verantwortung für den politischen Triumph, den Macri im Oktober davontrug, untersucht. Allerdings verdient der erste Sieg einer gewählten rechten Regierung in der Geschichte Argentiniens eine Reflexion der ideologischen und politischen Widersprüche ihrer sozialen Basis.

Das Wahlergebnis bestätigte, dass ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft von der „neoliberalen Logik“ überzeugt war. Es handelt sich hierbei um eine Logik einer „protestantischen Ethik“, die aus Werten der individuellen Leistung als einzigem Weg des Fortschritts besteht. Diese Ideologie wurde während der Kirchner-Jahre nicht ernstlich (also über einen „kulturellen Kampf“ hinaus) angegangen und wurde in manchen Punkten sogar gefördert. Sie manifestiert sich in Teilen aller sozialen Klassen und hat einen nachhaltigen Effekt auf Teile der Arbeiter*innen – einschließlich prekärer, kleiner selbstständiger oder anderer subalterner sozialer Sektoren.

In diesem Kontext zeigt die simple Deutung, dass Macris Sieg ausschließlich eine „Wahl als Denkzettel“ ohne ideologische Komponenten wäre, eine verblüffende Oberflächlichkeit. Es ist richtig, dass der Aufstieg des Macrismus das Resultat der Grenzen des kirchneristischen Projektes, der Erschöpfung des wirtschaftlichen „Modells“ und politischer Fehler ist. Doch sind die reaktionären, politischen und ideologischen Aspekte, die der rechten Abstimmung innewohnen, nicht zu leugnen – ganz egal, wie „modern und neu“ uns diese Option präsentiert wurde. Diese Ideologie war auch Teil des Scioli-Wahlkampfes. Allerdings wäre es ein Teilfehler zu behaupten, dass diese Haltung in der argentinischen Gesellschaft „hegemonial“ sei. Die Grenzen zeigte die Zurückhaltung in Macris Rede auf, in der er sich zur Mitte bewegte.

Auch die Unterstützung für Scioli war nicht ohne Widersprüche. Der Charakter der „Anti-Austeritätsmaßnahmen“, die der FPV-Kandidat insbesondere in der letzten Phase des Wahlkampfes proklamierte (wo die Mehrheit der Wähler*innen sich entscheidet), implizierten die Unterstützung beträchtlicher Sektoren, die Sparmaßnahmen ablehnen und verhindern wollen. Was die Rhetorik betrifft, führte die Regierungspartei einen der populistischsten Wahlkämpfe der letzten Zeit.

Die sozialen Sektoren, unter denen sich die Ergebnisse aufteilten, bildeten eine stärkere Spaltung zwischen den Klassen ab, als in vorangegangenen Wahlen: Die Mehrzahl der Arbeiter*innen stimmte für die FPV, die Mittelklassen und einige ländliche Sektoren unterstützten Cambiemos. Dies bedeutet aber nicht, dass es keine Überlappung unter den Mittelklassen, den Arbeiter*innen oder Armen gab, von denen einige der PRO ihre Stimme gaben. Oder dass in relevanten Provinzen wie Córdoba die vom Kirchnerismus angewandte Logik des „staatlich finanzierten Bonapartismus“ ein Schlüssel zur weitreichenden Ablehnung der Regierung war.

Dem angsterfüllten Wahlkampf von Scioli gegen Macris Sparpolitik gelang es, einen bedeutenden Teil von Sergio Massas Stimmen wiederzuerlangen (dem drittplatzierten Kandidaten in der ersten Wahlrunde). Auf seine eigene Art und Weise erkannte er so auch die Wichtigkeit einiger Kernpunkte von Nicolás del Caño und der Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT) an. Die Austerität war jedoch tatsächlich auch zentraler Bestandteil von Sciolis Plan, auch wenn er versuchte, die volle Verantwortung dafür Macri zuzuschieben.

Es muss auch einbezogen werden, dass das Wahlsystem einen relativ fiktiven Rückhalt für konkurrierende Kandidat*innen generiert. Es existiert ein starker Druck, sich für die Falle des „kleineren Übels“ zu entscheiden, was auch viele Wähler*innen der FIT betraf, weshalb nur wenige ungültige Stimmen gezählt wurden. Allerdings impliziert dies auch, dass die „Unterstützung“, die Scioli und Macri erlangen konnten, unter Vorbehalt steht und eher von der „Ablehnung des Anderen“ als von massenhafter Unterstützung für die Vorschläge der jeweiligen Kandidaten geprägt war.

Argentinisches Labor? Hypothesen für ein neues Ende eines Zyklus

Momentan vergleichen viele Analysen das derzeitige „Ende eines Zyklus“ mit ähnlichen Momenten in der Geschichte Argentiniens: von der dritten peronistischen Regierung, kulminierend im „Rodrigazo“1 , bis zum Ende der Regierung von Raul Alfonsín 1989 oder dem Sturz der Allianz von Fernando de la Rúa im Dezember 2001.

Auf wirtschaftlicher Ebene wird die Wiederholung der klassischen Probleme eines halbkolonialen Landes („von außen aufgezwungene“ Inflation, die Forderungen der Arbeitergeber*innen nach „Wettbewebsfähigkeit“ usw.) angeführt.

Aus der Sicht der Politik wie des Klassenkampfes gibt es jedoch eine Vielzahl an Elementen, die die gegenwärtige Situation als sehr originell konstituiert, unter Berücksichtigung der Grenzen eines jeden Vergleichs.

Bedenkt man den Grad der Restrukturierung der sozialen Kräfte der Arbeiter*innenklasse, gibt es einen eindeutigen Unterschied zu vorherigen post-diktatorischen Zyklen wie bei Alfonsin und der Allianz von de la Rúa (einer Fortsetzung des neoliberalen Menemismus). Die Arbeiter*innenklasse ging mit der Erfahrung von Niederlagen, die erst kurze Zeit zurück lagen, in diese Ereignisse: Einerseits waren das Unheil der zehntausenden Toten der Diktatur und die Niederlage der Malvinas noch „frisch“, andererseits gelang den Neoliberalen eine Spaltung der Klasse. Die Linke spiegelte mehr oder minder mechanisch die Ausweglosigkeit der Arbeiter*innenbewegung wider – eine Sackgasse, welche auch internationalen Charakter besaß.

In der Gegenwart ist der Grad der Umstrukturierung der Macht der Arbeiter*innenklasse vergleichbar mit dem der Mitte der Siebziger Jahre (auch wenn nach dem Neoliberalismus ernste Teilungen und strukturelle Schwächen existieren). Wenn wir aber aus der Perspektive des Klassenkampfes auf die Lage blicken, können wir in die Mitte der Sechziger Jahre und vor den Aufstand von Cordoba zurückgehen: viele Erfahrungen des Kampfes, von Fabrikbesetzungen bis hin zu erbitterten landesweiten Streiks, potentielle Wandel in der Studierendenbewegung, Kollaboration der Gewerkschaftsbürokratie. Jedoch gibt es auch ein noch geringes Niveau an Radikalisierung, und mit dem Machtverlust des Peronismus existiert eine Fraktion, die droht, zum „Widerstand“ überzulaufen.

Ein besonderes Merkmal dieses Moments ist der Aufstieg und die Konsolidierung einer „harten“ Linken innerhalb der Gewerkschaften (besonders die PTS) und ab 2013 auch auf der landesweiten Bühne: Die FIT hat einen Block von vier Kongress-Abgeordneten und weitere Mitglieder in Parlamenten der großen Provinzen.

Den Rahmen dieser Elemente bildet die internationale Wirtschaftskrise und das Endes eines Zyklus hoher Rohstoffpreise, welcher besonders Lateinamerika betraf.

All diese Faktoren, in Verbindung mit dem Aufstieg einer neuen rechten Regierung, sind eine besondere Kombination, welche die argentinische Situation zu einem möglichen Labor von Protesten der Arbeiter*innen macht, wie auch 2001 vom „argentinischen Labor“ gesprochen wurde wegen der von den Autonomist*innen angeführten Massenunruhen.

Die Möglichkeit eines neuen Zyklus der Arbeiter*innenkämpfe, die eine Form des Widerstands annehmen, darf in keinem Fall ausgeschlossen werden. Im Gegenteil pflanzt die neue Regierung mit ihrer Wende hin zu neuen Sparmaßnahmen die Saat für eine solche Bewegung.

In diesem Kontext gewinnt die Bemühung um eine signifikante, antibürokratische Praxis innerhalb der Gewerkschaften und eine Fortsetzung des Pfades der großen Probe der Arbeiter*innenaufstände (die ihren historischen Höhepunkt in der Koordination zwischen den Fabriken und den Massenaktionen der Mittsiebziger hatten) an Dringlichkeit.

Die „Kriegstrommeln“ der neuen herrschenden Koalition werden mit einer sozialen Kraft und einem fortgeschrittenen Ausdruck des Widerstandes beantwortet werden, was ein stärkeres Szenario des Klassenkampfes eröffnen könnte. Erneut steht eine klassische und dringende Frage auf der Tagesordnung: Wer wird für die Krise bezahlen? Unsere Verpflichtung und unsere Herausforderung sind es, dass dieses Mal die Kapitalist*innen bezahlen werden.

Fußnote

1. Im Juni 1975 sorgten die Sparmaßnahmen des Wirtschaftsminister Celestino Rodrigo für eine Krise in der Regierung von Isabel Perón.

Gekürzte und adaptierte Version eines zuerst am 2. Dezember 2015 in Ideas de Izquierda erschienenen Artikels.

Übersetzung: Marc Roth

Mehr zum Thema