Loi Travail XXL: die französische Arbeiter*innenklasse vor dem Scheideweg
#KGKinParis: Vor den großen Streiktagen am 12. und 21. September sieht sich die französische Jugend und das Proletariat einer Kriegserklärung der Macron-Regierung ausgesetzt. Der Kampf gegen das Loi Travail XXL wird von entscheidender Bedeutung sein; nichts weniger als die Kampftradition einer der fortgeschrittensten Arbeiter*innenbewegungen weltweit steht auf dem Spiel. Warum die kommenden Monate über Sein und Nichtsein einer ganzen Generation bestimmen werden.
Als der Philosoph Daniel Bensaid 2010 verstarb, hatte er nicht nur das „ungeduldige Leben“ eines klassischen Revolutionärs im 20. Jahrhundert geführt, sondern war auch integraler Teil der oppositionellen Post-68er-Ordnung in Frankreich. Diese Ordnung mitsamt der gewissen Errungenschaften des glorreichen Mai ’68 führten dazu, dass sich in Frankreich eine Arbeiter*innenklasse entwickeln konnte, für die es zur „Gewohnheit“ wurde, dass sie in konjunkturellen Abständen heroische Kämpfe gegen ihre jeweilige Regierung führte. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hatte es im Mai 1968 in einem hochentwickelten imperialistischen Land eine revolutionäre Situation gegeben. Der Mai ’68 war nicht nur eine Revitalisierung des Marxismus, oder eine Wiedergeburt der Hoffnung des Klassenkampfes, sondern die Warnung an die französische und internationale Bourgeoisie, wozu das Proletariat in imperialistischen Ländern fähig ist: zu nichts weniger als einer vollkommenen Paralyse des Landes.
Ende einer Epoche?
Besonders die Kämpfe seit dem Ende des Kalten Krieges führten es immer mit sich, dass großangelegte Konterreformen gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen niemals ohne großen Widerstand vonstatten gehen konnten. Während etwa in Deutschland der größte Angriff auf unsere Klasse — die Agenda 2010 — aufgrund der verfluchten Sozialpartnerschaft der Gewerkschaften nahezu ohne Widerstand vollzogen werden konnte, gestalteten sich schon kleinere Angriffe links des Rheins als komplizierter. Selbst die bürgerlichen Medien hierzulande mussten anerkennen, dass nur allzuoft die französischen Präsidenten angetreten waren, um Reformen für die Kapitalist*innen auszuführen — aber immer wieder unter dem Druck der Straße zurückwichen.
Exemplarisch war zunächst der Kampf im Winter 1995 gegen die Renten- und Sozialversicherungsreform von Alain Juppé von den Konservativen. Es war eine große soziale Bewegung gegen eine rechte Regierung (nach 14 Jahren „sozialistischer“ Regierung unter François Mitterand), die weitestgehend einheitlich (bis auf den abermaligen Bruch der gelben Gewerkschaft CFDT) von den Gewerkschaften geführt wurde und einen Zyklus der Kämpfe eröffnete, der mit dem Kampf gegen das Loi Travail letztes Jahr ein weiteres Glied in der Kette fand. Weitere wichtige Erfahrungen unserer Klasse waren etwa der Kampf gegen das CPE-Gesetz zur Erstanstellung von 2006 oder die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 62 Jahre (2010 gegen die Sarkozy-Regierung).
Nicht alle Kämpfe waren erfolgreich und nicht jeder Angriff konnte zurückgeschlagen werden, aber die Kampferfahrungen im Zuge der Streiks und Massenmobilisierungen führten zu einem erhöhten Selbstvertrauen der französischen Arbeiter*innenklasse und der Herausbildung einer antikapitalistischen Avantgarde unter der Jugend und den Arbeiter*innen. Es kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass das französische Proletariat im Laufe der letzten Jahrzehnte als eines der fortgeschrittensten der weltweiten Arbeiter*innenklasse angesehen werden kann, mit einzelnen Ausnahme wie in den letzten Jahren das heroisch und ausdauernd kämpfende griechische Proletariat.
Die avantgardistische Rolle basierte nicht auf einem Zufall. Sie hatte ihre materiellen Bedingungen in der Post-68er-Ordnung, die weitestgehend bis in unsere Tage erhalten werden konnte — jedoch Stück für Stück abgebaut wurde, was sich auch in den niedergehenden Organisationsgrad in den Gewerkschaften zeigte. Diese Ordnung brachte eben die sozialen Errungenschaften mit sich, die im Arbeitsgesetz (code du travail) ihren Ausdruck etwa darin fanden, dass gewählte Gewerkschaftsvertreter*innen einen besonderen Kündigungsschutz genossen oder dass allgemein den Gewerkschaften eine anerkennende Rolle zugesprochen wurde, etwa indem sie auf Branchen- und nicht auf Unternehmensebene verhandelten.
Was François Hollande im Frühjahr 2016 begann, soll nun von seinem Sprössling und Ex-Wirtschaftsminister Emmanuel Macron vollendet werden. Das bisherige Arbeitsgesetz soll zerstört werden.
Was ist das Loi Travail XXL?
Ganz allgemein sieht die Reform eine weitere Flexibilisierung der Arbeitsverträge vor. Unternehmen soll es leichter ermöglicht werden, Arbeiter*innen einzustellen und wieder zu entlassen, etwa damit, dass die Arbeitszeiten und die Bezahlung je nach Auftragslage orientiert werden. In den 36 Maßnahmen zum „sozialen Dialog“, wie es von Regierungsseite heißt, sollen die Tarifvertragsverhandlungen künftig nicht mehr auf Branchen-, sondern nur noch auf Unternehmenseben geführt werden. Auch die Entschädigungen für ungerechtfertigte Kündigungen sollen gedeckelt werden.
Doch Macrons Reformen gehen noch weiter: Staatsanleihen von rund 10 Milliarden Euro sollen veräußert werden. Dabei geht es auch um Schlüsselsektoren wie den Autohersteller Renault, der Versicherungsdienstleistung CNP oder dem Energiekonzern Engie. Auch die Arbeitsbedingungen bei der staatlichen Eisenbahn (SNCF) werden angegriffen, sodass der bisherige Eintritt in die Rente ab 57 Jahren unmöglich gemacht werden soll.
Nicht zu unrecht werden die jetzigen Reformen mit der Agenda 2010 der Schröder-Ära verglichen. Macron hat bereits verlauten lassen, dass er Arbeitslose in Zukunft stärker dazu zwingen will, Jobs annehmen zu müssen. Die Härte der Maßnahmen zeugt nicht nur von zynischem Hochmut, sondern geschieht auch vor dem Hintergrund einer Rekordarbeitslosigkeit von 6 Millionen im Land. Ursprünglich war François Hollande eben dazu angetreten, die Arbeitslosigkeit zu verringern — nun also versucht sich Macron anhand des deutschen Modells des Lohndumpings. Dass es ihm in Wahrheit alles andere um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geht, beweisen die Beispiel bei Whirlpool und GM&S: Beide Werke sollen geschlossen, Arbeiter*innen auf’s Pflaster geschmissen werden. Doch was macht der Staat unter Macron? Verteidigt die unternehmerische Freiheit und verzichtet auf die Rettung der Arbeitsplätze!
Die Kampfbedingungen
Es sieht nicht gut aus. Zwar rief die CGT sowohl am 12. als auch am 21. September zu landesweiten Streiks auf, der sich kleinere Gewerkschaften wie die Solidaire anschlossen, jedoch verweigert die zweitgrößte Gewerkschaft des Landes, die CFDT, nicht nur ihre Teilnahme, sondern führt geradezu einen demagogischen Kampf gegen die Streiks. Die Führung der drittgrößten Gewerkschaft, die FO unter Jean-Claude Mailly, lehnte eine Beteiligung an den Streiks und Demonstrationen für den 12. September zwar ab, jedoch gibt es mehr als 50 Basissektionen, die sich trotzdem an den Streiks beteiligen und auf die Straße gehen werden.
Dennoch wird das alleine nicht ausreichen. Die CGT mit ihren nicht einmal 700.000 Mitgliedern ist alleine zu schwach, um den massiven Angriff zurückzuschlagen. Angesichts dessen braucht es eine Einheitsfront aller Arbeiter*innenorganisationen, um die Reform zurückzuschlagen. Es ist daher eine gute Nachricht, dass sich die reformistische Bewegung von Jean-Luc Mélenchon „La France Insoumise“ ebenfalls am 12. September beteiligen wird, zusätzlich zu ihrem Aktionstag am 23. September.
Damit wird es bis jetzt zwei nationale Streiktage geben — bevor das Gesetz aufgrund der Dekretregierung Macrons (die Gesetze werden dank der Entmachtung der Legislative fortan direkt von der Regierung ausgearbeitet und bestimmt) am 22. September vom Kabinett verabschiedet werden wird. Angesichts der historischen Schwäche der französischen Gewerkschaften – mit einem mickrigen Organisationsgrad von 7,7 Prozent – werden diese wirtschaftlichen Ausfälle im Zuge der Streiks locker von den Unternehmen weggesteckt werden. Auch rein juristisch wird dieses Gesetz nicht mehr auf dem legalistischem Wege zurückgenommen werden, zu deutlich sind hier die Mehrheiten für das Macron-Lager in beiden parlamentarischen Kammern. Der einzige Weg zur Rücknahme führt über die Betriebe, Universitäten und Schulen, die auf der Straße vereinigt werden. Aber dafür wird es auch nach dem 21. September zu weiteren, verschärften Streiks kommen müssen, die von der Mobilisierung der Jugend in den Schulen und Universitäten flankiert werden müssen.
Ça va?
Wird es dazu kommen? Jahrzehnt um Jahrzehnt wurde der Mai ’68 immer an den Jahrestagen neu diskutiert, die Ereignisse neu ausgewertet. Daniel Bensaid geht darauf in seiner Autobiographie „Ein ungeduldiges Leben“ im Kapitel „Der Mai ist nicht vorbei“ ein und beschreibt eindrücklich, wie sich die Wahrnehmungen über die Jahrzehnte veränderten – inklusive der Einschätzungen der Beteiligten. Vor dem 50. Jahrestag im nächsten Jahr hat die Bourgeoisie nun einem fanatischen Verteidiger der kapitalistischen Gesellschaft die Aufgabe übertragen, die Post-68er-Ordnung mit seinen sozialen Errungenschaften zu zerstören. Einem relativ jungen Ex-Banker, der die Arbeiter*innen, die am 12. September auf die Straßen gehen wollen, als „faul, zynisch und extrem“ beschimpft. Der sich nicht davor schämt, sich über Geflüchtete lustig zu machen oder offen zu deklarieren, dass es für ihn Frankreich zwei Arten von Menschen gibt: „Die, die erfolgreich sind und die, die nichts sind.“
Jener hat den Mai ’68 nicht erlebt. Und er ist der erste Präsident in dieser Hinsicht. Auch wenn die Ausgangslage besser sein könnte, besteht die Hoffnung, dass auch er in den kommenden Mobilisierungen die geballte Kraft unserer Klasse erfahren wird. Aller göttlichen Vergleiche mit Jupiter zum Trotz ist diese Regierung alles andere als stabil, mehrere Minister sind bereits aufgrund von Skandalen zurückgetreten, die Umfragewerte des Präsidenten historisch niedrig (zumindest in dieser Hinsicht ein würdiger Nachfolger Hollandes).
Mögen die ersten Schritte in diesem Kampf verspätet und unzureichend sein; ein paar Mal stolpert man und dann lernt man gehen. Oder wie es schon Napoleon sagte:
„On s’engage et puis… on voit“ — Zuerst stürzen wir uns in den Kampf und dann… sehen wir weiter.