Löst sich Katalonien endgültig von Spanien los?

17.11.2015, Lesezeit 8 Min.
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SELBSTBESTIMMUNG: In der vergangenen Woche beschloss das katalanische Parlament mit 72 zu 63 Stimmen eine Resolution zur „Loslösung“ vom Spanischen Staat. Ministerpräsident Rajoy ruft zur reaktionären nationalen Einheit gegen die „katalanische Bedrohung“ auf. Vor den Parlamentswahlen am 20. Dezember kündigt sich eine konservative Konjunktur an.

Am vergangenen Montag stimmte das katalanische Parlament für eine Resolution, die einen Abspaltungsprozess vom Spanischen Staat einleiten sollen. Dieser soll in 1 ½ Jahren zur Gründung eines „unabhängigen und republikanischen Staates“ führen. Für die Resolution hatten das bürgerliche Wahlbündniss Gemeinsam für das Ja (JxSí) des ehemaligen Präsidenten Artur Mas und die antikapitalistische Kandidatur der Volkseinheit (CUP) gestimmt.

In neun Punkten wurde festgehalten, dass in einem Monat mit der Gründung einer eigenen Sozialversicherung und einer öffentlichen Wohnungsgesellschaft sowie mit einem verfassunggebenden Prozess begonnen werden soll. Diese und weitere Punkte sollen den „demokratischen Prozess einer dauerhaften und friedlichen Loslösung vom spanischen Staat“ anstoßen.

Bei den Wahlen zum Regionalparlament hatten die Kräfte für die Unabhängigkeit Kataloniens eine absolute Mehrheit bekommen, auch wenn JxSí, zusammengesetzt aus den ehemaligen Regierungsparteien der Republikanischen Linken ERC und der Demokratischen Konvergenz Katalonien (CDC), nicht alleine die notwendigen Stimmen für eine Regierung zusammenbekommt.

Das falsche Spiel von Artur Mas

Das führte in der letzten Woche dazu, dass JxSí und die CUP zwar bei der Abspaltungs-Resolution gemeinsame Sache gegen den Block aus pro-spanischen Parteien machten, Mas jedoch zweimal hintereinander bei der Wiederwahl zum Präsidenten scheiterte. Die CUP lehnt Mas als Präsidenten ab, da er der zentrale Vertreter der herrschenden Klasse in Katalonien ist: Sohn von Unternehmer*innen und selbst Geschäftsmann ist er seit mehr als 30 Jahren in der wichtigsten Partei der katalanischen Bourgeoisie, der CDC, aktiv. Sie vertritt historisch die Interessen der reichsten Familien und ist aktuell in einen großen Korruptionsskandal verwickelt. In den Jahren der Krise verschärfte sie die Repression gegen soziale Proteste und setzte die härtesten Sparpakete im ganzen Spanischen Staat um.

Ihre Rolle in der demokratischen Massenbewegung für das „Recht zu entscheiden“ seit 2012 ist ebenso schändlich. Mas stellte sich an die Spitze dieses Prozesses, um ihn kontrollieren und in seichtes Fahrwasser führen zu können. Dazu bedient er sich eines demagogischen Diskurses, der die Erwartungen der katalanischen Massen aufgreift. Doch sein tatsächliches Ziel ist es, die Bewegung austrocknen zu lassen und mit der neuen Zentralregierung gewisse Autonomierechte auszuhandeln.

Die Rolle der CUP

Die CUP trat vor den Wahlen für ein kombiniertes Programm aus sozialen Notmaßnahmen wie der Nicht-Zahlung der Schulden und einer sofortigen und einseitigen Unabhängigkeitserklärung ein. Doch nach den Wahlen und auf Druck von JxSí gaben sie viele soziale Forderungen auf und riefen sogar zur Gründung einer „Konsens-Regierung“ gemeinsam mit den Parteien der katalanischen Bourgeoisie auf. Diese soll laut ihrem Vorsitzenden Antonio Baños zwar nicht von Mas angeführt werden. Doch anstelle dessen schlagen sie eine*n andere*n Politiker*in aus JxSí vor – statt der Pest, stimmt die CUP für die Cholera!

Mas umwirbt die CUP seit den Wahlen sehr stark und schlug verschiedene Mechanismen vor, durch den sie ihn als Präsidenten wählen könnten: Der erste ist eine Versammlung der beiden Parteien, die in geheimer Abstimmung die*den Kandidat*in festlegt. Der zweite ist eine Formel, in der dem Präsidenten Mas drei Vize-Präsidenten unterstünden. Auch wenn die CUP richtigerweise ablehnt, Mas als Präsidenten zu wählen, reicht das nicht aus. Denn bei all den Vorschlägen ist die politische Vorherrschaft der Partei der großen katalanischen Familien, der CDC von Mas, gesichert. Die Politik der CUP stützt die CDC in ihrer Rolle als Schlachtpferd des Unabhängigkeitsprozesses.

Diese widersprüchliche Situation drückt sich auch in der beschlossenen Resolution aus: Auf der einen Seite wird klar der Ungehorsam gegenüber den spanischen Institutionen, wie dem Verfassungsgericht oder der Regierung, erklärt. Auf der anderen Seite steht in dem letzten Punkt klar festgeschrieben, dass Verhandlungen mit dem Zentralstaat angestrebt werden. Das kann jedoch nur in die Sackgasse führen – die Unabhängigkeit wird nicht am Verhandlungstisch, sondern nur durch eine demokratische Massenbewegung mit der Arbeiter*innenklasse an der Spitze und unabhängig aller bürgerlicher Lager errungen werden können.

Wir verteidigen die demokratischen Bestrebungen der katalanischen Massen, ihr Recht auf nationale Selbstbestimmung gegen den reaktionären spanischen Zentralismus durchzusetzen – bis hin zur Gründung eines eigenen Staates, sollte sich die Mehrheit der katalanischen Bevölkerung dafür aussprechen. Aus einer Perspektive des proletarischen Internationalismus heraus treten wir jedoch dafür ein, dass die Arbeiter*innenklasse der iberischen Halbinsel gemeinsam gegen die Großbourgeoisie kämpfen muss, egal ob sie portugiesisch, galizisch, spanisch, katalanisch oder baskisch spricht. Nur eine Föderation der sozialistischen Staaten der iberischen Halbinsel als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa kann Ausbeutung und Unterdrückung aller Art ein Ende setzen.

Reaktionäre Offensive des spanischen Zentralismus

Das machte auch die Reaktion des spanischen Establishments auf die Abspaltungs-Resolution deutlich. Der konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy hatte sich schon in den Tagen zuvor die Unterstützung der sozialdemokratischen PSOE und der neu-rechten Ciudadanos besorgt, um eine starke „nationale Front“ zu schaffen. Besonders der Präsident von Ciudadanos, Albert Rivera, stellte sich als erster Verteidiger der spanischen Nation dar. In den letzten Wochen stieg seine Formation in der Wählergunst und überholte in neuesten Umfragen sogar die Sozialdemokratie in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Konservativen. Das ist besonders wichtig, da die Parlamentswahlen in etwas mehr als einem Monat am 20. Dezember stattfinden.

Die Linkspartei Podemos verlor durch ihren Mäßigungsprozess die Gunst der Wähler*innen und kommt bei Umfragen nur noch knapp über zehn Prozent. Auch ihre Rolle im Unabhängigkeitsprozess ist undurchsichtig. Zwar sprechen sie abstrakt vom „Recht zu entscheiden“, doch stehen sie bei jeder Aktion auf der Seite des spanischen Zentralismus. So traf sich auch der Generalsekretär Pablo Iglesias mit Rajoy und diskutierte darüber, wie die Regime-Krise am Besten zu lösen sei.

Mit der Unterstützung der politischen Parteien leitete Rajoy eine einstweilige Verfügung gegen die Resolution vor dem Verfassungsgericht ein und in nur zwei Tagen wurde sie aufgrund von Verstoßen gegen Artikel 1 und 2 der Carta Magna, die die nationale Einheit Spaniens vorsehen, suspendiert. Fünf Monate kann das Verfassungsgericht nun die Verfassungswidrigkeit der Resolution untersuchen und möglicherweise Strafen für die politischen Verantwortlichen festlegen.

Auch der König reihte sich in die Verteidigung des spanischen Imperialismus ein: „Die Verfassung wird bestehen. Keiner soll daran zweifeln.“ Er sprach zudem eine Reihe von Androhungen gegen den Unabhängigkeitsprozess aus. In der Tat will das spanische Regime die Loslösung um jeden Preis verhindern, und ist auch dazu bereit, in die Autonomierechte Kataloniens einzugreifen, das Parlament aufzulösen und ihre Diktate mit Gewalt durchzusetzen.

„Erneuerung des Regimes“ anstelle echter Veränderungen

Die katalanische Frage wird die politische Situation bis zu den Parlamentswahlen am 20. Dezember beherrschen. Wie weit ist Mas bereit zu gehen, welche Ausmaße wird die zentralistische Offensive annehmen? Schon jetzt hat sich ein konservativer Wandel abgezeichnet. Alle vier Parteien, sowohl die Konservativen und die Sozialdemokratie als auch die neoliberalen Ciudadanos und Podemos, stehen für kosmetische Veränderungen des Regimes durch eine Verfassungsreform, neue Sparprogramme und die Kanalisierung des Klassenkampfes.

In diesem Rahmen hat Podemos jeden Anspruch aufgegeben, eine soziale Kraft der Veränderung zu werden und tritt offen für eine „demokratische Erneuerung des Regimes“ ein. Aber auch die Politik der CUP in der nationalen Frage trägt nicht dazu bei, die Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse und Jugend anzustoßen. Die demokratischen und sozialen Interessen der Bevölkerungsmehrheit können nur gegen die Vertreter*innen der katalanischen und spanischen Bourgeoisie durchgesetzt werden.

Die revolutionären Kräfte im Spanischen Staat müssen sich gemeinsam mit fortschrittlichen Arbeiter*innen und Jugendlichen hinter einer solchen Strategie vereinen und für eine revolutionäre Antwort auf die Krise des von der Diktatur geerbten Regimes eintreten. Nur dann werden sich die großen Hoffnungen, die sich in den letzten Jahren in massiven sozialen Bewegungen ausdrückten, erfüllen können. In dieser Perspektive nehmen unsere Genoss*innen von Clase Contra Clase an allen sozialen Demonstrationen teil, unterstützen alle Arbeitskämpfe und die massive Frauenbewegung, und geben die revolutionäre Online-Tageszeitung Izquierda Diario heraus.

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