LMU-Podium zu Krieg und Moral: „Deutschlands Freiheit wird im Donbass verteidigt“

14.08.2022, Lesezeit 20 Min.
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Foto: Shutterstock / Artem Grebenyuk

Eine von der LMU München organisierte Podiumsdiskussion erklärte, Antworten auf die Gretchenfrage nach der Moral im Krieg geben zu wollen. Tatsächlich lieferten die zur Diskussion eingeladenen Gäste ein Repertoire an Rechtfertigungen und Gründen für die Waffenlieferungen, sodass eine Auseinandersetzung mit politischen – und auch moralischen – Schlussfolgerungen des Kriegs ausblieb.

Am 26. Juli veranstaltete das ZEPP (Zentrum für Ethik und Philosophie in der Praxis) der LMU eine Podiumsdiskussion, in der einige zentrale Fragen, die sich aktuell und zukünftig stellen, explizit gemacht werden sollten. In der Programmankündigung wurden diese folgendermaßen konkretisiert:

In der öffentlichen Debatte um den Krieg in der Ukraine spielen moralische Erwägungen eine zentrale Rolle. Ist es moralisch geboten, die Ukraine mit sogenannten „schweren“ Waffen zu unterstützen? Macht es dabei einen Unterschied, um welche Waffen es sich genau handelt? Wäre es sogar moralisch erlaubt, dass Drittstaaten direkt in den Krieg eingreifen, um der Ukraine zur Hilfe zu eilen? […] Ist es dem ukrainischen Militär moralisch erlaubt, Gegenangriffe auf russischem Boden auszuführen? Oder ist die ukrainische Regierung zu einem schnellstmöglichen Waffenstillstand verpflichtet, um weiteres Leid zu verhindern, wie manchmal behauptet wird?

Es diskutierten Dr. Frank Sauer (Senior Research Fellow, Universität der Bundeswehr München) und Prof. Dr. Susanne Burri (Juniorprofessorin für Praktische Philosophie, Universität Konstanz), die zu Beginn ihre Thesen in jeweils zehnminütigen Vorträgen darlegten und danach in einen Dialog traten. Anschließend hatte das Publikum die Möglichkeit, Fragen zu stellen.

Mit Waffenlieferungen gegen die Schuld

Seit dem 27. Februar – der Tag, an dem das Wort „Zeitenwende“ durch die Rede von Olaf Scholz im Bundestag Einzug in sämtliche Debatten und Diskurse fand – sei Deutschland eine „Zeitenwende-Republik“ geworden, so Frank Sauer in der Eröffnung seines Vortrages. Zeitenwende bezeichnet hier nichts anderes als 100 Milliarden für die Bundeswehr und Waffenlieferungen an die Ukraine, auch von Deutschland. Gleich zu Beginn wird deutlich: Die vom ZEPP formulierten Fragen spielen in Sauers Vortrag eine untergeordnete Rolle, vielmehr vertritt er offensiv dasjenige Narrativ, in dem Waffenlieferungen eine unabdingbare Notwendigkeit darstellen. Denn Russland, so Sauer weiter, betreibe einen zweiten Weltkrieg und hierauf müsse eine Gegenoffensive der Ukraine erfolgen. Diese sei zukünftig mit Flugabwehrsystemen, Waffen mit Reichweite, Panzern und mehr zu führen.

Inwiefern es sich hierbei um einen zweiten Weltkrieg handelt, der historisch betrachtet am 8. Mai 1945 durch die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht in Europa und am 2. September 1945 durch die Kapitulation Japans in Folge der US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki endete, bleibt unklar. Implizit macht Sauer damit aber den gerade zu Beginn des Krieges oftmals auf Demoschildern zum Ausdruck gebrachten Vergleich zwischen Putin und Hitler auf. Es wirkt fast so, als wolle er Deutschland nun endlich einmal auf der „richtigen Seiten“, auf der „Seite der Guten“, sehen. Dass Sauer ein ganz bestimmtes Verständnis davon hat, wer zu den Guten zählt und wessen Weltbild durchgesetzt werden soll, wird an verschiedenen Stellen seines Vortrags immer wieder deutlich, den er in drei Teile gliedert: die sicherheitspolitische, die völkerrechtliche und die moralische Perspektive. Seine zentrale These lautet dabei stets: Deutschland muss Waffen liefern.

Die sicherheitspolitische Perspektive

Sauers sicherheitspolitisches Argument basiert auf der Annahme, Putin habe durch seinen Angriffskrieg die sicherheitspolitischen Interessen von Deutschland und der EU mindestens angriffen, die europäische Sicherheit zerstört. Im Interesse um die eigene Sicherheit müsse Deutschland daher Waffen liefern. Weiterhin könne die Sicherheit nun ausschließlich vor Putin und nicht mehr mit Putin verteidigt werden – langfristig solle aber wieder eine diplomatische Beziehung mit Russland hergestellt werden. Die Zielsetzung steht für Sauer außer Frage: Der russischen Armee muss Schaden zugefügt werden. Damit dies nun gelingen kann, müsse die Ukraine mittel-, und langfristig militärisch unterstützt werden; aus diesem Grund solle Deutschland dies nicht aufschieben, sondern direkt damit beginnen. Explizit spricht er an dieser Stelle von einer „Aufrüstung der Ukraine“. Und fügt, mit dem Verweis, auch einmal provozieren zu wollen, hinzu: „Deutschlands Freiheit wird im Donbass verteidigt.“

Die Aufrüstung der Ukraine dürfte vor allem die deutsche Waffenindustrie erfreuen. Die Verteidigung der Sicherheit am Hindukusch, die Verteidigung der Freiheit in der Ukraine. Sauers Weltbild ist ein imperialistisches, in dem die reichen, kapitalistischen Ländern des Westens getreu der US-amerikanischen Ideologie das Recht haben, andere Länder zu überfallen, in ihnen einzumarschieren, sie in Schutt und Asche zu verwandeln, Zivilist:innen zu töten und sich dann zu wundern, weshalb genau in solchen Ländern eine zunehmende Problematik bezüglich der Radikalisierung besteht. Im 2003 begonnen Irakkrieg starben Schätzungen zufolge zwischen 150.000 und einer halben Millionen Menschen, in Afghanistan nach 2001 ca. 240.000. Hinzu kommen weitere Tote in Nachbarstaaten sowie auf dem afrikanischen Kontinent.

Dass Deutschland sich an den meisten Kriegen nicht beteiligte, ist nur teilweise richtig. Allein zwischen 2015 und 2020 lieferte Deutschland in etwa 36 Länder Waffen, die Datenübermittlung für US-amerikanische Drohnen-Angriffe läuft unter anderem über Ramstein und das sogenannte United States Africa Command, das für die Drohnen-Angriffe in Somalia verantwortlich ist, hat sein Hauptquartier in Stuttgart. Wenn das der Inbegriff von Freiheit und Sicherheit ist, wobei Freiheit im Namen der Sicherheit ohnehin zunehmend weichen muss, dann folgt daraus nur, dass jegliche Waffenlieferungen und Kriegsbeteiligungen durch Deutschland sofort beendet werden müssen. Dies gilt beispielsweise auch in Bezug auf Erdoğan, der parallel zum Ukraine-Krieg zum wiederholten Male Kurdistan angreift. Die Reaktion der NATO-Staaten fällt vor allem durch eine heuchlerische Doppelmoral auf: Keineswegs verurteilen sie Erdoğan, sondern sie lassen sich erpressen, indem sie die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO mit der fortgesetzten und wohl künftig noch verstärkten Diskreditierung und Verfolgung der PKK bezahlen.

Wiederholt führt Sauer das Massaker von Butscha an; dass es sich dabei um ein furchtbares Kriegsverbrechen an ukrainischen Zivilist:innen handelt, steht außer Frage. Dass es sich um ein singuläres Ereignis handelt, das so nur von Putins Armee verübt werden würde, ist dagegen falsch. Man erinnere sich an Mỹ Lai in Vietnam, Haditha im Irak oder die Foltergefängnisse Abu Ghuraib, Guantanamo Bay sowie unzählige Black Sites, in denen Folter staatlich legitimiert wurde und wird.

Die völkerrechtliche Perspektive

Völkerrechtlich betrachtet, ist Sauers Ansicht eindeutig: „Putin muss verlieren.“ Putins Angriffskrieg habe das Völkerrecht verletzt, dementsprechend müsse diese Verletzung nun geheilt werden. Bei dieser Feststellung verbleibt Sauer allerdings nicht; vielmehr fordert er, dass die „regelbasierte Ordnung“ wiederhergestellt werden müsse. Es ist richtig, dass der russische Angriffskrieg völkerrechtswidrig ist. Allerdings kann die Wiederherstellung dann auch nicht Angelegenheit der NATO-Staaten sein, ohne abermals mit einer heuchlerischen Doppelmoral zu argumentieren: 1999 erfolgte der Luftkrieg der NATO im Kosovo gegen Jugoslawien ohne UN-Mandat – die taz schrieb hierzu: „Mit ihrem Krieg gegen Jugoslawien ohne UN-Mandat haben die Nato-Staaten das Völkerrecht gebrochen und dabei die Öffentlichkeit manipuliert“ –, für den Irak-Krieg 2003 bestand kein UN-Mandat, 2017 schrieb Hans-Christian Ströbele auf Twitter, dass die USA in Syrien als „Weltpolizist ohne UN-Resolution […], also ohne rechtliche Grundlage [bombten]“. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Es geht an dieser Stelle nicht darum, Kriege gegeneinander aufzurechnen und sie dadurch zu legitimieren – vielmehr dienen diese Beispiele dazu, die Anmaßung der NATO-Staaten, wie sie sich paradigmatisch durch Sauers Vortrag zieht, abzulehnen. Weiterhin erläutert Sauer, dass Deutschland zwar einen „Wirtschaftskrieg“ führe, durch Waffenlieferungen aber nicht zur Kriegspartei werde. Jedoch folgt daraus – anders als von Sauer an jeder möglichen wie unmöglichen Stelle propagiert – nicht der Freifahrtschein für oder der Imperativ zu Waffenlieferungen.

Die moralische Perspektive

Wenn eine Veranstaltung „Moral“ im Titel trägt, dann muss sie wohl auch in Vorträgen angeführt werden, egal wie marginal ihre Position auch sein mag. Ob die aktuelle Situation überhaupt moralisch betrachtet werden sollte, ist an anderer Stelle noch zu klären. Sauers moralische Perspektive ist allerdings ein Konstrukt, das satirisch wirkt, von ihm allerdings genauso vertreten wird: Die Waffenlieferungen hätten den Zweck, Menschen zu töten. Durch das Töten von Menschen lade man allerdings Schuld auf sich.

Nur lüde Deutschland auch durch ein Nichts-Tun – bei Sauer gleichgesetzt mit ausbleibenden Waffenlieferungen – Schuld auf sich und diese Schuld sei größer als diejenige, die durch das Töten von Menschen in Folge von Waffenlieferungen entstehe. Wie er zu dieser Begründung kommt, bleibt ungeklärt. Es wirkt allerdings so, als sei eine solche Begründung auch gar nicht vorgesehen, insofern einzig und allein die These der Notwendigkeit von Waffenlieferungen aufrechterhalten werden soll.

Der Kampf um den Frieden

In der anschließenden Diskussionsrunde liefert Sauer auf Fragen der Moderator:innen, die zu keiner Zeit auch nur eines seiner Argumente kritisch hinterfragen, weitere Einblicke in seine Weltanschauung. Seine stark verkürzte Erklärung, weshalb Putin Krieg führe, besteht in einem „imperialen Phantomschmerz“ Putins, der Großrussland wiederherstellen wolle. Außerdem sei die Zustimmung zum Krieg und Waffenlieferungen beziehungsweise deren Ablehnung eine Generationenfrage: Je älter Menschen sind, desto weniger stimmten sie Krieg und Waffenlieferungen zu. Das mag wohl zum einen an den historischen Erfahrungen älterer Menschen liegen. Eine solche Analyse verdeutlicht aber auch die Ignoranz gegenüber widerständischen Bewegungen von Arbeiter:innen, Studierenden und Beschäftigten, die sich in verschiedenen Bündnissen und bei unterschiedlichen Demonstrationen sowie mittels der Verhinderung von Waffenlieferungen durch Eisenbahner:innen gegen Waffen und Krieg einsetzen.

Auch die Wirtschaftssanktionen thematisiert Sauer nochmals. Wirtschaftssanktionen und Kriegsschäden müssten die russische Zivilbevölkerung beziehungsweise die russische Mittelschicht durch Verarmung und Tote so sehr treffen, dass sie Widerstand gegen Putin leisteten. Die Mittelschicht müsse „ausbluten“, bis sie Putins Krieg nicht mehr hinnimmt. Dass auch in Russland Tausende auf die Straßen gingen und dafür hohe Gefängnisstrafen in Kauf nahmen, wirft erst Susanne Burri ein, die diesen Protest zumindest bewundernswert findet.

Das Fazit, welches Sauer am Ende seines Vortrages zieht, lautet unmissverständlich, dass es Frieden erst geben würde, wenn sich der Krieg aus russischer Sicht nicht mehr lohne. Und Deutschland müsse der Ukraine in diesem Kampf helfen.

Die Theorie des gerechten Kriegs

Susanne Burri widmet ihren Vortrag im Wesentlichen der Theorie des gerechten Kriegs. Grundlegend könne man, so Burri, zwei theoretische Strömungen festmachen: die traditionelle und die überarbeitete Sichtweise. Die Differenz zielt dabei u.a. auf die Relation des „ius ad bellum“ – das Recht zum Krieg beziehungsweise Kriegsbeginn – und des „ius in bello“ – das Recht im Krieg beziehungsweise zum Führen eines Krieges – ab. Der traditionellen Sichtweise zufolge seien ius ad bellum und ius in bello unabhängig voneinander. Ein Angriffskrieg, wie Russland ihn führt, könne nie gerecht sein; gerecht könne nur die Reaktion darauf, also ein Verteidigungskrieg, wie die Ukraine ihn führt, sein.

Zusätzlich müssen allerdings bestimmte Kriterien gelten, wie etwa gute Erfolgschancen eines Verteidigungskrieges. Es handle sich also um eine „Kosten-Nutzen-Abwägung“, wobei Burri diese in Bezug auf die Ukraine in Frage stellt. In der überarbeiteten Sichtweise seien ius ad bellum und ius in bello nun gerade nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Zum einen sei damit die Möglichkeit zum Führen eines gerechten Krieges in Folge eines ungerechten Kriegsbeginns ausgeschlossen. Während die traditionelle Sichtweise außerdem vor allem zwischen Kombattant:innen und Zivilist:innen unterscheidet, ist diese Unterscheidung für die überarbeitete Sichtweise nicht vordergründig. Sie differenziere vielmehr zwischen Personen, die eine moralische Verantwortung tragen, und Personen, die keine Verantwortung tragen. Dadurch, dass ius ad bellum und ius in bello nicht getrennt sind, bezieht sich diese moralische Verantwortung auf beide Bereiche, was auch für Kombattanten gilt. Burri zufolge sei fraglich, ob man russischen Soldat:innen moralische Verantwortung zum beziehungsweise im Krieg anlasten kann, insofern sie beispielsweise zumeist noch sehr jung sind und/oder infolge der Verarmung zur Armee gehen.

Die Schlussfolgerung, die Burri zieht, besteht einerseits in dem Argument, dass es eine Notwendigkeit von Kriegen gebe. Zwar seien Kriege nie gerecht, manche Kriege müssten aber dennoch geführt werden. Andererseits begreift sie Waffenlieferungen nicht als Lösung. Vielmehr führt sie den Aspekt des Tyrannenmords – im Sinne der überarbeiteten Theorie des gerechten Kriegs – an, insofern der Tyrann die moralische Verantwortung trage. Dieser Ansatz ist einer zweifachen Kritik zu unterziehen. Nimmt man die Möglichkeit zum Tyrannenmord ernst, so ist Putin nicht der Einzige, der sterben müsste.

Fraglich ist allerdings, wie die Reaktionen ausfallen würden, wenn beispielsweise dieses Argument auf G.W. Bush bezogen worden wäre oder auf Baerbocks Vorzeigepartner Erdoğan. Zwar kritisierte sie diesen für ein Foto, das ihn zusammen mit Putin und Ebrahim Raisi (Präsident des Iran) zeigt, und warnte, dass eine erneute „Militäroperation in Syrien“ das Leid der syrischen Bevölkerung lediglich vergrößere, jedoch ließ sie es sich nicht nehmen, Erdoğan zuzugestehen, dass die Türkei von der PKK bedroht werde. Schließlich werde die PKK ja auch in Deutschland als Terrororganisation gelistet. Zudem bezeichnete sie die türkische Unterstützung der Ukraine durch Drohnen als „sehr, sehr wichtigen Schritt“. Wenn Putin von einer „Spezialoperation“ in der Ukraine spricht, ist dies zu Recht als Verfälschung des eigentlichen Angriffskriegs zu begreifen – genau diesem Vokabular bedient sich nun aber auch Baerbock, wenn sie den Angriff auf Kurdistan als Militäroperation betitelt. Der Tyrannenmord-Ansatz weist noch eine weitere zu kritisierende Dimension auf, die womöglich die weitaus eklatantere ist: Der Krieg in der Ukraine mutiert mehr und mehr zu einem Stellvertreterkrieg um die Vormachtstellung in der Welt. Würde Putin auf diese Weise beseitigt werden, so bedeutet dies kein Ende des Macht-, und Ideologie-Kriegs. Beendet werden müssen also die dahinterliegenden Mechanismen.

Krieg vs. Moral: Der Ukraine-Krieg und seine politischen Implikationen

Völkerrechtlich betrachtet, ist Putins Angriffskrieg rechtswidrig. Dies steht außer Frage, dennoch ergeben sich hieraus keine unmittelbaren ethischen Implikationen im Sinne des moralischen Gebots zu Waffenlieferungen. Ganz im Gegenteil ist es durchaus konstruktiv, Moral aus dieser Diskussion – auch, weil sie allzu leicht in einen Moralismus umschlägt – herauszuhalten, um genau jene imperialistischen Bestrebungen offen zu legen, die sich derzeit anhand der Ukraine manifestieren.

All diejenigen, die sich vor allem Sauers sogenannter moralischer Perspektive im Sinne der Schuld-These, die weniger moralisch als vielmehr theologisch ist, anschließen, sollten hinterfragen, ob es moralisch vertretbar ist, dass Rüstungskonzerne wie Rheinmetall oder Heckler & Koch außerordentlich gut daran verdienen, wenn ausbleibende Waffenlieferungen als Nichts-Tun abgestempelt und für unmöglich erklärt werden. So kalkulierte Rheinmetall-Chef Armin Papperger im Mai mit etwa 10 bis 15 Prozent Wachstum in diesem Jahr und fügte hinzu: „Nun rechnen wir uns gute Chancen aus, in der aktuellen sicherheitspolitischen Lage in zahlreichen Ländern wertvolle Beiträge zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit leisten zu können“. Weniger euphemistisch ausgedrückt, nennt man das „profiting from pain“; unter anderem bedingt durch Aufrüstungsausgaben für die Bundeswehr von zusätzlichen 100 Milliarden Euro. Auf dem NATO-Gipfel Ende Juni in Madrid wurden zusätzliche Ausgaben von 20 Milliarden Euro bis 2030, das heißt insgesamt 45 Milliarden Euro, beschlossen, ebenso wie eine Erhöhung des Haushalts von 2023 um jährlich zehn Prozent beziehungsweise des Sicherheits- und Investitionsprogramm NSIP um 25 Prozent und die Aufstockung der Einsatztruppe von bisher 40.000 auf zukünftig 300.000 Soldat:innen.

Die politischen Schlussfolgerungen lauten demnach: Aufrüstung, Kapitalismus, Imperialismus, Kampf um die Vormachtstellung in der Welt, Ausbeutung – nicht nur, aber derzeit insbesondere am Beispiel Ukraine. Nur drei Tage nach Beginn des Ukraine-Kriegs hielt Olaf Scholz seine Rede im Bundestag, in der er die neue Zeitenwende postulierte: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“ Die Welt davor ist diejenige Welt, in der Deutschland aufgrund der NS-Vergangenheit einigermaßen zurückhaltend auftreten musste, was Aufrüstung, Kriegseinsätze und den imperialistischen Kampf um die Vormachtstellung betrifft. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Bestrebungen nicht vorhanden gewesen wären – der 24. Februar war nicht der Beginn der Zeitenwende, sondern der Moment, in dem sie offensichtlich werden konnte. Denn wer würde denn nicht gerne daran teilhaben, wenn wieder einmal Freiheit und Demokratie verteidigt werden?

Im Übrigen stammen die Mittel der Wahl bei dieser Verteidigung dennoch aus der Welt davor, wie die Chronologie der Kriege, Invasionen und Kämpfe seit 1945 belegt. Es gibt keine metaphysische Entität namens Zeitenwende. Es handelt sich dabei um eine gezielte politische Entscheidung, hinter der eine Strategie und kapitalistische Interessen stehen. Die vermeintliche Befreiung der Ukraine bedeutet keineswegs eine ihr anschließend zugestandene Unabhängigkeit; vielmehr wird sich entscheiden, ob sie Putin oder der EU beziehungsweise den NATO-Staaten zufällt. In der gleichen Rede gibt Scholz dann, wahrscheinlich ohne sich dessen bewusst zu sein, durchaus zu, dass die Planungen nicht erst mit dem 24. Februar entstanden: „Ich habe bei der Münchner Sicherheitskonferenz [18.-20.02.2022] gesagt: Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind. Darum geht es, und das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa.“ Zu den Wirtschaftssanktionen erläuterte Scholz, dass „[die] Richtschnur […] die Frage [bleibt]: Was trifft die Verantwortlichen am härtesten? Die, um die es geht, und nicht das russische Volk!“ Schon jetzt zeigt sich, dass die Antwort vollkommen verfehlt ist. Denn es trifft das Volk, sowohl das russische als auch das deutsche und insbesondere all diejenigen Länder, die zwar nicht auf der Agenda von Scholz & Co. stehen, aber durch ausbleibende Weizenexporte neue Hungerkatastrophen befürchten müssen.

Das Kapital bleibt verschont

Verschont bleibt wieder einmal das Kapital, seine Interessen durchsetzen kann wieder einmal das Kapital. Während der Ölpreis nach einem kurzen Sprung nach oben schnell wieder auf dem Niveau, das vor dem Ukraine-Krieg bestand, ankam, blieben die Spritpreise hoch. Das Bundeskartellamt reagierte dagegen nur zögerlich; wie es die Bürokratie verlangt, mussten erst einmal Belege gesammelt werden. Im Juli wurde dann vermeldet: Es gebe Hinweise, dass Unternehmen höhere Gewinnmargen erzielten. Derweil bleiben die Lebensmittelpreise hoch, schon jetzt wird vor den steigenden Heizkosten gewarnt. Die perfekte Gelegenheit für Scholz, bereits im Februar LNG-Terminals vorzuschlagen, man könne sie ja später für Grünen Wasserstoff nutzen. Dagegen haben die Grünen, wie zu erwarten war, auch nichts einzuwenden und Söder würde Fracking am liebsten gleich in Deutschland ermöglichen – Hauptsache keine neuen Windräder! Habeck heuerte dagegen in Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten an. Zeitenwende bedeutet wohl auch, dass es ab sofort gute und schlechte Diktaturen gibt; da ihm Menschenrechte aber selbstverständlich wichtig sind, thematisierte er dies natürlich umgehend bei seinem dortigen Besuch. Außerdem würde Katar die Menschenrechte ja auch gar nicht umfassend missachten, die Einhaltung sei lediglich etwas problematisch; im Grünen-Verständnis allemal besser als in Russland, denn Russland führe ja einen völkerrechtswidrigen Krieg vor Deutschlands Haustür.

Auf Seiten der FDP denkt Lindner über Kürzungen von Hartz 4 nach – während er selbst seine Luxushochzeit auf Sylt zum Teil mit Steuergeldern finanziert; die Verlängerung des 9-Euro-Tickets wird aufgrund der Kosten ausgeschlossen. Unter dem Deckmantel „der Krise“, deren Inhalt scheinbar beliebig ausgetauscht werden kann, vollzieht sich keine Zeitenwenden, sondern eine Durchsetzung längst geplanter und fortschreitender Maßnahmen. All das geschieht nicht in Folge von Putins Angriffskrieg, insofern kein kausaler Zusammenhang besteht. Vielmehr handelt es sich um einen erneuten Anlass, um weniger verdeckt agieren zu können.

Es ist daher notwendig, die zugrundeliegenden Zusammenhänge und Wirkmechanismen zu hinterfragen. Denn nur dann wird deutlich, dass es sich nicht um entkoppelte, metaphysische Phänomene handelt, die so geschehen müssen. Auch wenn Politiker:innen und Kapitalist:innen es gerne so erscheinen lassen, als wäre sie von einer höheren Instanz geleitet. Es ist also beispielsweise eine intentionale Entscheidung, 100 Milliarden für die Bundeswehr und die Aufrüstung zur Verfügung zu stellen, die dann für Bildung, Pflege, Soziales und Klimaschutz fehlen.

Waffen beenden keine Kriege. Und in Kriegen sterben nicht diejenigen, die die Kriege führen und davon profitieren. Seit mehr als 20 Jahren beweisen die USA genau dies mit dem absurden „War on Terror“, wobei „Terror“ ebenso metaphysisch behandelt wird wie die „Krise“. Am 2. Februar verkündete US-Präsident Biden seinen nächsten sogenannten Erfolg in dieser Sache: Eine US-amerikanische Drohne tötete al-Zawahiri, den Nachfolger von Osama bin Laden. Beifall klatschten unter anderem Obama, Blinken und Trudeau. Legitimiert und gefeiert wird wieder einmal das, was man als staatliche Exekution bezeichnen kann. Und wieder einmal wird deutlich, dass die Mächtigen – ob nun politisch und/oder ökonomisch – kein Interesse daran haben, Kriege und Ausbeutung zu beenden; schließlich profitieren sie davon.

Die politische Konsequenz muss daher einen Bruch mit diesen Systemen und Mechanismen beinhalten. Dies bedeutet auch, sich in Bezug auf den Ukraine-Krieg weder für Putin noch für die NATO auszusprechen und sämtliche Waffenlieferungen sowie Wirtschaftssanktionen und den Wirtschaftskrieg abzulehnen. Vertrauen kann und darf man dabei nicht auf diejenigen, die aus der Verlängerung und Ausweitung des Krieges noch mehr Kapital schlagen. Die Solidarität muss den Streikenden, wie etwa im Hafen von Hamburg, bei der Lufthansa oder zuletzt der Uniklinik Bonn, gelten, die einen Inflationsausgleich, Tariferhöhungen, mehr Personal und Entlastung fordern. Gleiches gilt für Arbeiter:innen, die den Nachschub der Rüstungsindustrie blockieren. Notwendig ist die internationale Organisierung der Arbeiter:innenklasse, um gemeinsam den Kampf gegen jeden Krieg, interessengesteuerte Krisen, Imperialismus und Kapitalismus zu führen.

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