Liz Truss. Die Krise im Vereinigten Königreich und die Grenzen des rückkehrenden Thatcherismus
Die aktuelle Krise ist nur eine weitere Episode in der politischen Krise Großbritanniens, die 2016 mit dem Brexit begann.
Am 6. September übernahm Liz Truss das Amt der Premierministerin nach dem vorzeitigen Sturz von Boris Johnson. Abgesehen von zehn unendlich langen Tagen des königlichen Begräbnisses, in denen das Trugbild einer reaktionären nationalen Einheit hinter der Krone aufgebaut wurde, hat die derzeitige konservative Regierung in nur 20 Tagen ein wirtschaftliches, politisches und soziales Erdbeben ausgelöst, das seine zerstörerische Kraft noch nicht voll entfaltet hat – ein Rekord.
Als Truss an die Regierung kam, vertrat sie die neoliberale, monetaristische Politik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Demnach würde der Schlüssel zum Wirtschaftswachstum in der Senkung der Steuern für Reiche liegen, in der Deregulierung der Wirtschaft und der Auflösung von Gewerkschaften und den Errungenschaften der Arbeiter:innen, was kapitalistische Investitionen fördern würde. Truss holte die „Trickle-Down-Theorie“ aus der Mottenkiste, die von marktwirtschaftlichen Fundamentalist:innen in Großbritannien weiterhin als Grundrezept wiederholt wird.
Am 26. September kündigte Kwasi Kwarteng, der Schatzkanzler der britischen Regierung, einen „Mini-Haushalt“ an, der eine erhebliche Steuersenkung für das reichste Prozent – Unternehmen und Millionär:innen – vorsah. Diese „regressive Umverteilung“ zugunsten der Superreichen bedeutet eine erhebliche Belastung der Staatskassen, was im Gegensatz zur allgemeinen Anpassungs- und Sparpolitik steht, die angesichts einer Inflationsrate von über zehn Prozent die Löhne und Sozialleistungen aufzehrt.
Als Antwort sozialer Unruhen und Unzufriedenheit bestand Truss‘ einzige Erleichterung für die Bevölkerung in einem nicht sehr großzügigen Einfrieren der Strom- und Gastarife für die nächsten zwei Jahre, befristet bis zu den nächsten Parlamentswahlen.
Doch trotz Truss‘ neoliberalen, ideologischen Einschreitens erteilten ihr die „Märkte“ und sogar der IWF eine Absage. Nicht aus Altruismus, sondern aus dem kalten Kalkül heraus, dass das großzügige Steuergeschenk zu nichts führte. Die Bank of England kritisierte Truss’ Entwurf scharf: „In einer Situation hoher Inflation und Rezession, die durch die Folgen des Krieges in der Ukraine noch verschärft wird, hat die Regierung keinen anderen Plan, um die Steuersenkungen für die Reichen zu finanzieren, als die bereits aufgeblähte Staatsverschuldung um einen entscheidenden Betrag zu erhöhen.“
Die Reaktion war verheerend: Das Pfund fiel gegenüber dem Dollar auf ein Allzeittief. Außerdem stießen die Inhaber von Staatsanleihen diese Vermögenswerte massenhaft ab und brachten die Rentenfonds, die in diese Anleihen investieren, an den Rand des Bankrotts. Dies würde einen Zyklus, bestehend aus sinkendem Pfund Sterling, steigendem Inflationsdruck durch teurere Importe und damit höheren Zinssätzen auslösen, um die Inflation unter Kontrolle zu halten.
In letzter Minute rettete eine massive Intervention der Bank of England die Pensionsfonds und verhinderte den Bankrott, der wie jede Krise in einem Nervenzentrum des globalisierten Kapitalismus zwar in der Form national, aber im Inhalt international sein mag. In diesem Sinne gibt es einige, die glauben, dass die Gefahr eines „Lehman Brothers Moments“, das heißt einer Finanzkrise ähnlichen Ausmaßes wie 2008, noch nicht gebannt ist.
In ein paar Tagen wird Truss die Lektion von Margaret Thatcher gelernt haben, die einmal sagte, dass man sich nicht gegen die Märkte stellen kann. Die Regierung hat diesen Plan bereits zurückgezogen. Sie ist von der Steuersenkung abgerückt und wird wahrscheinlich auf die Forderung reagieren, einen kohärenten Wirtschaftsplan vorzulegen. Aber der Schaden ist bereits angerichtet.
Die Krise hat natürlich auch eine politische Dimension. Truss hat ihre Glaubwürdigkeit bei der herrschenden Klasse verloren und hängt in den Seilen. Sie sieht sich einer Revolte konservativer Abgeordneter gegenüber, die damit drohen, ihr Vertrauen auszusprechen. Auf dem Parteitag in Birmingham, auf dem sich bereits mehrere Kandidat:innen für die Nachfolge von Truss gemeldet hatten, herrschte Krisenstimmung. Montag früh kam die Meldung von Truss und Kwarteng, ihrem neuen Finanzminister, dass der Spitzensteuersatz doch nicht abgeschafft wird, da in eigenen Reihen der Widerstand zu groß geworden sei..
Die derzeitige Premierministerin war nicht die Favoritin der institutionellen Tory-Partei, wurde aber von etwas mehr als 140.000 Mitgliedern gewählt, die sie mit einer harten Brexit-Haltung und Versprechen nach alten neoliberalen Rezepten zu überzeugen wusste. Ihre Popularität ist jedoch im Einklang mit dem Pfund gesunken. Obwohl Umfragen nicht gerade eine exakte Wissenschaft sind, würde die Labour-Partei unter der Führung von Keir Starmer, einem Anhänger Tony Blairs, die Konservativen um mehr als 30 Punkte übertreffen – ein historischer Unterschied. Teile der britischen Bourgeoisie setzen zunehmend auf die Labour-Partei und springen von der konservativen Partei ab: es kommen erste Meldungen großzügiger Spenden von Großkapitalist:innen.
Die Situation hat die tiefen Krisentendenzen deutlich gemacht, die 2016 mit dem Brexit-Triumph entstanden. Die herrschende Klasse hat ihre “repräsentative Krise” nicht überwunden. Die Tory-Partei hat noch nicht den Boden ihres Niedergangs erreicht. Die Monarchie, die wichtigste konterrevolutionäre Institution, hat ihre Führungsfigur verloren. Unter König Charles III. ist sie viel schwächer. Vor dem Hintergrund sich verschärfender sozialer Unruhen ist die Labour Party der wichtigste Schutzwall der Bourgeoisie. Die Kampagne „Enough is Enough“ (,die Streikwelle (Verkehr, Post, Hafen und bald Krankenhausbeschäftigten des staatlichen Gesundsheitssytem: NHS) und die politische Krise läuten einen Winter der Unzufriedenheit ein. Die Kehrtwende am Montag von Truss ist Beweis der erstarkenden Tendenzen und Kraft der Arbeiter:innenbewegung in Großbritannien. Die Panik in ihren eigenen Reihen und der Widerstand vieler Konservativer gegen die massiven Steuersenkungen für Reiche widersprechen massiv der eigenen Interessenlage und sind eindeutig Ausdruck der Angst vor Massenprotesten, Streiks und der anschwellenden Wut von Millionenen Arbeiter:innen in Großbritannien.
Übersetzung von Ben und Dan. Ergänzungen von Dan Kedem.