„Let the people go!“
Solidarität mit allen Kriegsdienstverweiger:innen. Für das Recht auf Flucht und Asyl für alle Menschen.
Humanistische Organisationen und Teile der deutschen Friedensbewegung kritisierten in den letzten Monaten einen Antrag der FDP-Fraktion im deutschen Bundestag, der es ermöglichen sollte, russischen Kriegsdienstverweiger:innen ein bevorzugtes Asylverfahren zu ermöglichen. Denn ukrainische Kriegsdienstverweigerer:innen blieben ausgeschlossen, obwohl sie ebenfalls betroffen sind. So ist der Antrag kein humanistisches Werkzeug, sondern lediglich ein Kriegsinstrument.
Denn die ukrainische Regierung verweigert seit der Ausrufung der allgemeinen Mobilmachung vom 24. Februar Männern zwischen 18 und 60 Jahren ihr Menschenrecht auf Flucht. In der Zeit wurde am 4. März berichtet, dass ukrainische Männer, die bei einer versuchten Flucht vom Grenzschutz aufgegriffen wurden, direkt ans ukrainische Kreiswehrersatzamt übergeben worden waren. Wenn Männer, die mit ihrer Familie fliehen möchten, an die Grenze kommen, müssen sie umkehren, da Grenzposten sie an der Ausreise hindern. Es kommt zu einem schmerzhaften Abschied von ihrer Familie und dem anschließenden unsicheren Ausharren im Kriegsgebiet, wo sie dem Militär jederzeit zu unterschiedlichen Aufgaben zur Verfügung stehen. Hinzu kommt, dass viele geflüchtete Frauen verständlicherweise wegen der erbarmungslosen Zwangstrennung wieder in die Ukraine zurückkehren, trotz der Lebensgefahr, der sie sich damit aussetzen: Diesem immensen Risiko bräuchten sie sich nicht aussetzen, wenn die Männer das Land verlassen dürften.
Alle Menschen müssen das Recht haben, nicht nur den Dienst an der Waffe, sondern alle Maßnahmen zur Unterstützung des Militärs aus Gewissensgründen abzulehnen. Die rechtliche Unterscheidung zwischen Kombattant:innenstatus und Zivilbevölkerung darf nicht mit Gewalt und Nötigung durch die Machthaber:innen aufgehoben werden. Sowohl die Zwangsrekrutierung seitens der russischen Regierung in den separatistischen Gebieten, als auch das Fluchtverbot für ukrainische Männer, welches durch die Regierung Selenskyj angeordnet wurde, müssen verurteilt werden.
Die Auswirkungen der Beschneidung des Rechts auf Flucht sind dramatisch: Familien werden auseinandergerissen, Kinder durch die Trennung von ihren Vätern stark traumatisiert und in die Ungewissheit gestürzt, was mit ihnen passieren wird, ob und wie lange es dauert, bis sie sich endlich wiedersehen dürfen. In Russland und in der Ukraine ist es auch in Friedenszeiten nur für einige wenige religiöse Gruppen möglich, den Wehrdienst zu verweigern: Hier stellt sich alleine schon die Frage, inwieweit es einen Unterschied machen darf, zwischen institutionalisierten Glaubensbekenntnissen und einer moralischen Haltung ohne Konfessionsangehörigkeit zu unterscheiden. Das Töten von Menschen abzulehnen, darf nicht vom staatlich anerkannten religiösen Glauben abhängen, sondern steht allen Menschen gleichermaßen zu. Hinzu tritt die eindeutig sexistische Vorstellung, Männer allein aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit zum Kriegsdienst verpflichten zu dürfen; dieser liegt ein überholtes patriarchales Rollenbild zugrunde. Ignoriert werden dabei selbstverständlich auch die Diversität der Geschlechtervorstellungen einer emanzipierten Gesellschaft, stattdessen wird ein völlig reaktionäres Weltbild zementiert.
Neben dem Zwang gibt es auf beiden Seiten auch freiwillige Kriegsteilnehmer:innen. Ihre Bedeutung wird von der Propaganda der Kriegsparteien besonders in den Vordergrund gestellt. Gehen wir von der hypothetischen Richtigkeit der Angaben aus, die nicht unabhängig überprüft werden können, also davon, dass auf beiden Seiten die Anzahl der freiwilligen Soldat:innen so groß ist wie behauptet:Dann führt das erst recht zur Frage, warum Ausreiseverbote und Zwangsrekrutierung nötig sein sollten. Denn wenn die Kriegsparteien aufgrund der angeblich zahlreichen freiwilligen Kämpfer:innen darauf verzichten können, warum werden die Zwangsmaßnahmen dann so rigoros angewendet?
Eine ganz ähnliche Logik betrifft auch die Angaben des Anteils von rechtsextremen Kampfabteilungen: Auf russischer Seite ist es die „Wagner-Gruppe“, auf ukrainischer unter anderem das „Asow-Regiment“. Wenn diese Gruppen angeblich nur einen sehr geringen Anteil am gesamten Militäraufkommen haben und damit nur einen marginalen Einfluss auf das Kriegsgeschehen nehmen, dann stellt sich die Frage, warum man nicht einfach auf den Einsatz solcher dubiosen Einheiten verzichtet? Denn die Partizipation von solchen faschistoiden Gruppen, egal auf welcher Seite sie kämpfen, hat neben den grundsätzlichen Gefahren, welche die Bewaffnung und Kampfausbildung von Extremist:innen mit sich bringt und die ihre eigenen „Moralvorstellungen“ haben, noch ein besonderes Risiko hinsichtlich einer möglichen Nachkriegsordnung: Sie werden nach dem Krieg, egal wie er ausgeht, für ihren Beitrag politische Forderungen stellen und sich nicht mit Geld abspeisen lassen.
Dabei spielt die Größe dieser (im Fall der Ukraine auch durch deutsche Hilfe) bewaffneten Gruppen nicht die bedeutendste Rolle, sondern ihr Einfluss. Es ist ein Trugschluss zu glauben, solche Kräfte kontrollieren zu können. Hier sei als historisches Beispiel an die radikalislamistischen Kräfte im Afghanistan-Krieg (1979-1989) erinnert, welche durch die USA bewaffnet und finanziert worden sind und später die Regierung übernahmen. Und auch die Kontrolle über den späteren Verbleib und Gebrauch der Waffen nach massiver Aufrüstung ist eine alte und immer wiederkehrende Illusion. Die Überschwemmung der Welt durch Waffen der stalinistischen Diktatur nach der Beendigung des Kalten Krieges auf dem kapitalistischen Waffenmarkt ist ein Exempel: Waffen sind Gebrauchsgegenstände mit einer langen Lebensdauer, die auf dem Markt zirkulieren und durch viele Hände gehen.
Eine revolutionäre Sichtweise, die eine dritte Position im Sinne der Arbeiter:innen vertritt und sowohl den Einmarsch der herrschenden russischen Klasse als auch den Imperialismus der NATO-Staaten unter Führung der herrschenden Klasse der USA verurteilt, solidarisiert sich mit allen Kriegsdienstverweigerer:innen. Denn von den kapitalistischen Mächten wurde und wird versucht, die Vorstellung angeblich „humanitärer“ Kriege zu kultivieren. Dabei wurden und werden humanitäre Gründe zur Verschleierung der wahren Interessen des Kapitals vorgeschoben. Doch kein Krieg zwischen kapitalistischen Staaten findet im Interesse der lohnabhängigen Menschen, sondern immer nur gegen sie statt. Kriegsdienstverweigerung ist eine wichtige Form des Kampfes gegen den Krieg. Noch kraftvoller wirkt die Unterbrechung der Kriegskette durch die Verweigerung der Produktion und dem Transport von Waffen, also durch Streiks in der Rüstungsindustrie und in der Logistik.
Während die herrschende Klasse in Russland kritische Medien einfach zensiert und restriktiv gegen oppositionelle Stimmen vorgegangen wird, verläuft der Vereinheitlichungsprozess der öffentlichen Meinung in den westlichen Staaten subtiler. Hier ist es die Macht der vom Kapital beherrschten Leitmedien, die den Mainstream vorgibt. Hierbei bleiben die liberalen Freiheiten zwar unberührt, doch von der vorgegebenen Linie abweichende Meinungen werden geflissentlich ignoriert, falsch dargestellt oder kriminalisiert. Aus diesem Grund ist es von besonders großer Bedeutung, die Solidarität mit den Kriegsgegner:innen in Russland und in der Ukraine durch Aktionen in die Öffentlichkeit zu tragen: Massendemonstrationen und Streiks können die Medien nicht ignorieren.
Jeder lohnabhängige Mensch muss sich bewusst die Fragen stellen: „Sind das meine Kriege, aus denen ich vielleicht nicht lebend zurückkehre und meine Lieben alleine zurücklassen muss? In welchen ich andere Menschen, die sich in derselben Situation befinden, die auch nicht sterben, sondern einfach leben möchten, töten muss? In denen ich sterben kann oder aus denen ich als Invalide und traumatisiert wiederkehre und vielleicht niemals wieder völlig glücklich und gesund werde?” Die Antwort lautet ganz klar: „Nein, das sind nicht meine Kriege, sondern die Kriege des Kapitals!“
Es gibt keinen „Verrat am Vaterland“, denn das „Vaterland“ oder die Nation sind nur künstliche Machtgebilde, geschaffen von der herrschenden Klasse, um ein „Volk“ zu unterdrücken und die Arbeiter:innen der verschiedenen Länder mithilfe einer „nationalen Identität“ voneinander zu trennen, um einen möglichen Zusammenschluss für den Klassenkampf zu verhindern. Es gibt natürlich auch keine „Fahnenflucht“ oder „Feigheit“ vor dem „Feind“, der auf beiden Seiten bewusst, strategisch entmenschlicht wird. Im Gegenteil, es erfordert Empathie, Mut, Stärke und Courage, sich gegen die Befehlsgewalt der Herrschenden aufzulehnen. Auch deshalb ist die Solidarität mit den Kriegsdienstverweigernden so wichtig.
Aber die genannte revolutionäre Perspektive muss natürlich über die Verteidigung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung und Flucht hinausgehen: Der einzige Weg, diesen Krieg und alle kapitalistischen Kriege tatsächlich zu stoppen, ist die Interessen der Kapitalist:innen und ihrer Staaten anzugreifen. Das heißt nichts anderes, als dass der Krieg durch den Klassenkampf ersetzt werden muss, oder anders gesagt: So wie die Herrschaft über die Produktionsmittel, so müssen die Arbeiter:innen auch die Herrschaft über die Kriegsmittel erringen. Erst wenn die Produktionsmittel und die Kriegsmittel in der Hand der lohnabhängigen Menschen sind, können sie selbst über die Beendigung des Krieges bestimmen. Ein zentraler Schritt dazu wäre – nach dem historischen Vorbild der russischen Oktoberrevolution oder auch der deutschen Novemberrevolution –, dass die Soldat:innen in den Armeen sich selbst organisieren und Soldat:innenräte gründen. So könnten sie sich den Kriegszielen der herrschenden Klassen auf beiden Seiten entgegenstellen, welche für Ihre Interessen bereit sind, Menschen zu opfern und sie zum Töten und Sterben zu zwingen.
Ihre reinen Machtinteressen kaschieren die Kapitalist:innen mit Begriffen wie „Freiheit“. Doch die wirkliche Freiheit der lohnabhängigen Menschen ist die Befreiung von der Ausbeutung durch das Kapital. Sie kann nur durch die Überwindung der Klassengesellschaft und die Beendigung des Kapitalismus, also durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel erfolgen.