„Lernen, das Leben durch die Augen der Frauen zu sehen“
// FEMINISMUS: Beim „Trotzki-Tag“ gab es einen Workshop über die Relevanz des Trotzkismus für feministische Politik. Die Teilnehmer*innen beschäftigten sich mit der Lage der Frauen in der Sowjetunion und den Konsequenzen für feministische Politik heute. //
Der Kampf gegen Frauenunterdrückung ist ein zentraler Bestandteil revolutionärer Politik. Die Fragen der Frauenpolitik führen sehr schnell zu den wichtigen strategischen Fragen des Marxismus. Das war auch sichtbar in dem Workshop über Feminismus und Trotzkismus beim „Trotzki-Tag“. Einerseits wurde über die Situation der Frauen nach der Oktoberrevolution diskutiert, andererseits über trotzkistische feministische Politik heute. Cynthia Lub von der sozialistischen Frauenorganisation Pan y Rosas (Brot und Rosen) im Spanischen Staat berichtete über konkrete Erfahrungen ihrer Gruppe und ordnete sie in einen theoretischen Kontext ein. Pan y Rosas gibt es auch in Argentinien, Mexiko, Brasilien, Chile und Bolivien.
Absterben der Familie
Nach der Oktoberrevolution wurden wichtige Fortschritte für Frauen beschlossen: Männer und Frauen wurden rechtlich gleichgestellt – auch innerhalb der Ehe. Die zivilrechtliche Ehe wurde eingeführt und damit der Kirche entrissen. Die Scheidung wurde möglich und etwas später auch die Abtreibung legalisiert. Das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wurde festgeschrieben und es gab Bestrebungen, Frauen in die Produktion zu integrieren. Diese Errungenschaften waren selbst nach heutigen Maßstäben revolutionär. Gleichzeitig ist klar, dass gleiche Rechte noch nicht gleiche Stellung im Leben bedeuten – vor allem unter den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die in der Sowjetunion damals herrschten.
Die Perspektive der Politik in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution zielten auf das Absterben der Kleinfamilie ab. Die Hausarbeit sollte nach und nach vergesellschaftet werden, um die menschlichen Beziehungen von allen Formen des Zwangs zu befreien und die Familie durch neue Formen des Zusammenlebens zu ersetzen. Dazu bedurfte es einer bewussten Anstrengung, aber auch angemessener ökonomischer Bedingungen. Trotzki sagte dazu: „Der Weg der neuen Familie ist also ein doppelter: a) kulturelle Erziehung der Klasse und der Persönlichkeit in der Klasse und b) materielle Bereicherung der zum Staat organisierten Klasse. Diese beiden Prozesse sind eng miteinander verknüpft.“
Materielle Grundlagen
In den ersten Jahren – in der Zeit des sogenannten Kriegskommunismus während des Bürger*innenkriegs – wurden viele Aufgaben vergesellschaftet, indem beispielsweise öffentliche Speiseanstalten und Wäschereien eingerichtet wurden. Dies erwuchs unter anderem aus der Notwendigkeit, die Versorgung der Menschen während einer Zeit des Mangels und der Hungersnöte sicherzustellen. Um die darniederliegende Wirtschaft wiederzubeleben wurde dann 1921 die Neue Ökonomische Politik eingeführt, die aus der Einführung gewisser Marktmechanismen bestand. Sie hatte vor allem für Frauen negative Auswirkungen: Die einzelnen Fabriken mussten nun wirtschaftlich arbeiten und entließen massenhaft Leute – die Frauenarbeitslosigkeit schoss überproportional in die Höhe.
Zur gleichen Zeit war ein realer Prozess der Destabilisierung im Gange: Das neue Scheidungsrecht, die antiklerikale Propaganda und die Umwälzung alter Strukturen in Land und Stadt führten zu einer enorm hohen Scheidungsrate, auch im internationalem Vergleich. Das hatte teils desaströse Folgen für Frauen, vor allem für Arbeitslose und Hausfrauen, in einer Gesellschaft die eigentlich davon ausging, dass alle arbeiten. Es führte aber auch zu Problemen für neue Partner*innen geschiedener Männer. Getrennt lebende Eltern waren dazu verpflichtet, Unterhalt für Kinder zu zahlen. Meistens betraf es Männer, die aufgrund der Niedriglöhne kaum in der Lage waren, eine Familie zu ernähren, geschweige denn zwei. Diese Situation drückte sich in einem Anstieg der Anzahl der Straßenkinder – die es vor allem zu Zeiten des Bürger*innenkriegs massenhaft gab – und der Prostitution aus.
Die Bedeutung des Unterhalts zeigt, dass der Staat noch nicht reich genug war, die Aufgaben, die vorher in der Familie organisiert wurden, zu übernehmen. So konnten die Abhängigkeit von der Familie und die Unterdrückung nicht sofort überwunden werden. Die Ideale der Revolution stießen an die harten Tatsachen der ökonomischen Rückständigkeit.
Gleichzeitig wurde die Frage der Frauenemanzipation immer wieder diskutiert und das Ideal der Auflösung der Kleinfamilie nicht einfach aufgegeben. Trotzki beispielsweise argumentierte im Jahr 1923, dass beim Häuserbau die Bedürfnisse von Menschen, die gemeinschaftlich außerhalb der Kleinfamilie zusammenleben, mitberücksichtigt werden müssten. Weder vom allgemeinen Bewusstseinsstand noch von den materiellen Bedingungen war für ihn die Zeit gekommen, ein solches Zusammenleben für alle zu garantieren: Nichtsdestotrotz war er gleichzeitig von der Wichtigkeit von „vorbildlichen Lebensgemeinschaften“, deren Erfahrungen irgendwann zu verallgemeinern wären, überzeugt.
Rückschritte im Stalinismus
Viele der Errungenschaften der Oktoberrevolution für die Frauen wurden von der stalinistischen Bürokratie wieder zurückgenommen. Die Abtreibung wurde wieder verboten, die Gleichstellung verheirateter und unverheirateter Frauen in Bezug auf Unterhalt abgeschafft und die Scheidung wieder erschwert. Als Begründung wurde nicht die ökonomische Notwendigkeit angeführt, sondern die alte Familienideologie wiederbelebt. Die Familie, von der es vorher hieß, dass sie absterben müsste, wurde nun zur „kleinsten Zelle der sozialistischen Gesellschaft“ und es wurde ein Lied auf die „Mutterfreuden“ gesungen.
Doch es ging noch viel weiter, als es die ökonomische Lage erforderte. Trotzki schrieb dazu: „Das gebieterischste Motiv für den heutigen Familienkult ist zweifelsohne das Bedürfnis der Bürokratie nach einer stabilen Hierarchie der gesellschaftlichen Beziehungen und nach der Disziplinierung der Jugend durch 40 Millionen Stützpunkte der Autorität und der Macht.“
Für die Frauen der Bürokratie selbst waren viele Probleme der Frauenunterdrückung derweil gelöst, weil sie sich auf die Arbeit von Hausangestellten stützen konnten – laut Trotzki hatten fünf bis zehn Prozent der Haushalte Hausangestellte. Ihre Lebenssituation hat nichts mit der Lebenssituation der Allgemeinheit zu tun. Diese „Lösung“ der Frauenfrage für die Bürokratie beruhte sogar auf der Weiterexistenz der Frauenunterdrückung für die große Masse der Frauen.
Lehren für heute
Für uns kann die Situation nach der Oktoberrevolution zur Illustration davon dienen, was alles möglich gewesen wäre. Es zeigt sich, dass unter den Bedingungen des Privatbesitzes an Produktionsmitteln bestimmte Errungenschaften gar nicht denkbar sind, die hier auf einmal möglich erschienen. Wir können hier lernen, dass wir uns im Kampf um die Befreiung von geschlechtlicher Unterdrückung gegen den Kapitalismus organisieren müssen. Aber wir sehen auch, dass die Frauenbefreiung noch nach der Revolution bewusster Anstrengungen bedarf.
Wie sehr sich Frauenunterdrückung und Kapitalismus ergänzen und wie sehr der Kapitalismus die Frauenunterdrückung immer wieder neu erschafft, wurde in den letzten Jahren auch bei den Auswirkungen der Wirtschaftskrise deutlich: Frauen sind in einem besonderen Ausmaß von ihr betroffen. Sie werden immer stärker in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungen.
Ein krasses Beispiel für Diskriminierung am Arbeitsmarkt ist der Fall der Arbeiterin Vicky bei Telefónica im Spanischen Staat. Ihr wurde gekündigt, weil sie schwanger war. Dies ist kein seltener Einzelfall. Und er ordnet sich ein in eine Reihe von Diskriminierungen von Frauen am Arbeitsmarkt: Sie verdienen weniger als Männer, werden in schlecht bezahlte Berufe gedrängt und haben sehr viel schlechtere Aufstiegschancen. Die unbezahlte Hausarbeit von Frauen wird unter anderem durch diese ökonomische Ungleichbehandlung immer wieder sichergestellt. Ein Teufelskreislauf, denn die Belastung von Frauen durch die Hausarbeit wird immer wieder gerne als Grund für die Diskriminierung angeführt – wie zum Beispiel bei Vicky und anderen Arbeiterinnen bei Telefónica.
Selbstorganisierung und Klassenkampf
Für den Kampf gegen den Kapitalismus und für die Frauenbefreiung ist die zentrale Aufgabe von Revolutionär*innen das Zusammenbringen der Frauenbewegung und der Arbeiter*innenbewegung. Dabei muss immer wieder die verräterische Rolle des Stalinismus aufgezeigt werden, der dazu beigetragen hat, diese beiden Bewegungen voneinander zu trennen – eine Trennung, die nur den Interessen der herrschenden Klasse dient.
Um das zu erreichen, müssen die Unterdrückten sich selbst organisieren. In Argentinien treibt Pan y Rosas deswegen mit der Gründung von Frauenkommissionen in den Universitäten, Gewerkschaften und Betrieben die Selbstorganisierung voran. Auch aus dem Spanischen Staat gibt es ein eindrucksvolles Beispiel: Pan y Rosas unterstützte hier einen monatelangen Streik in der Fabrik Panrico. Sie diskutierten vor allem mit den Frauen über ihre Probleme als Arbeiterinnen und als Frauen. Diese Diskussionen führten unter anderem dazu, dass die streikenden Frauen eine führende Rolle in ihrem Arbeitskampf einnahmen – aber auch dazu, dass sie als streikende Arbeiterinnen auf den Demonstrationen der Frauenbewegung sichtbar wurden. Damit politisierte sich die Rolle der Frauen in ihrem Kampf und es wurde eine Perspektive aufgezeigt, die über den ökonomischen Kampf hinaus ging. So erklärten die Arbeiterinnen von Panrico, wie Abtreibungsverbote sie als Proletarierinnen treffen würden. Und sie betonten die Zentralität der Solidarität, als sie bei einer Kundgebung gegen transphobe Übergriffe auf eine chilenische Aktivistin teilnahmen.
Hier wird auch deutlich, dass sich ein klassenkämpferischer Feminismus nicht auf die Unterstützung von Frauen in Streiks beschränkt. Er muss die gesamte Realität der Unterdrückung, die Frauen täglich erleben, in den Blick nehmen. Denn die Diskriminierung und Ausbeutung am Arbeitsplatz reiht sich ein in eine lange Liste von Aggressionen, die Frauen erfahren und die ihre Körper und ihr Leben kontrollieren.
Im Spanischen Staat drückt sich das zum Beispiel gerade in einer enormen Welle von Morden an Frauen aus. Allein in diesem Jahr wurden bisher 72 Frauen ermordet. Außerdem erfahren Frauen Gewalt in Form von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen, ebenso wie von Abtreibungsverboten durch den Staat. Die Gewalt wird teils auch gar nicht mehr als solche wahrgenommen, weil sie so „normal“ und alltäglich geworden ist. Sie findet statt in „Mikromachismen“ und Schönheitsnormen, Alltagssexismus und Verhaltensregeln für Mädchen und Frauen.
Auf all diese verschiedenen Formen der Gewalt müssen Revolutionär*innen Antworten geben. Die Aktivistinnen von Pan y Rosas setzen die Selbstorganisierung in Kommissionen, Versammlungen usw. gegen diese Aggressionen – so starteten sie einen Kampagne gegen Frauenmorde, in der sie auch die Rolle des Staates und der Polizei thematisierten. Oder sie informieren darüber, welche Gewalttätigkeit Schönheitsnormen besitzen, in wessen Interesse sie existieren und was sie im Leben von (jungen) Frauen bedeuten.
Und „auch zur LGBT*-Bewegung hat der Trotzkismus einiges beizutragen“, wie ein Teilnehmer beim Workshop betonte. So entstand diese Bewegung unter anderem in Opposition zum Stalinismus. Wenn Geschlecht als soziale Kategorie irgendwann irrelevant oder sogar aufgelöst werden soll, dann geht das nur in einer freien, klassenlosen Gesellschaft. Auch hier ist also eine Strategie der Überwindung des Kapitalismus notwendig – und kann nur überzeugend mit einer Analyse des Stalinismus sein, die aufzeigt, dass die bürokratische Degenerierung erst die homophobe Haltung des „Realsozialismus“ erzeugt hat.
Wichtige Erfahrungen in diese Richtung macht die brasilianische Gruppe Pão e Rosas, die im August ein Treffen von über 400 LGBT*-Menschen und Frauen im Gewerkschaftshaus der U-Bahner*innen von São Paulo organisierte. Viele von ihnen waren Arbeiter*innen, sie diskutierten über die Erfahrungen aus ihren Kämpfen und den Aufbau einer revolutionären Alternative für alle LGBT*-Menschen und Frauen.