Leo Trotzki: Betrachtungen über die Einheitsfront
Im Kampf gegen den Faschismus oder für die sozialistische Revolution braucht es eine Einheitsfront. Anmerkungen von Trotzki aus 1922.
Die Aufgabe der Kommunistischen Partei besteht in der Leitung der proletarischen Revolution. Um das Proletariat zur unmittelbaren Machtergreifung aufzufordern und um diese zu verwirklichen, muss die Kommunistische Partei sich auf die überwiegende Mehrheit der Arbeiterklasse stützen.
Solange sie über diese Mehrheit nicht verfügt, muss sie um die Eroberung der Mehrheit kämpfen.
Sie kann dies nur dann erreichen, wenn sie eine vollkommen unabhängige Organisation mit klarem Programm und mit strenger Disziplin ist. Deshalb muss sie ideell und organisatorisch mit den Reformisten und Zentristen brechen, die die proletarische Revolution nicht anstreben, die Massen zu dieser weder vorbereiten wollen noch können, und durch ihr ganzes Verhalten eine solche Arbeit verhindern.
Diejenigen Mitglieder einer Kommunistischen Partei, die im Namen der „Einheit der Kräfte“ oder im Namen der „Einheitsfront“ eine Trennung von den Zentristen bedauern, beweisen hiermit, dass sie nicht einmal das kommunistische Alphabet kennen und dass sie nur durch Zufall in die Kommunistische Partei geraten sind.
Nachdem die Kommunistische Partei die vollständige Unabhängigkeit errungen und die ideologische Homogenität der Mitgliedschaft erreicht hat, kämpft sie um den Einfluss auf die Mehrheit der Arbeiterklasse. In diesem Kampfe kann ein schnelleres oder langsameres Tempo mit Rücksicht auf die objektiven Verhältnisse und auf die Zweckmäßigkeit dieser oder jener Taktik eingeschlagen werden. Es ist vollkommen augenscheinlich, dass die Klassenkämpfe des Proletariats in dieser Vorbereitungsperiode der Revolution nicht aufhören. Es finden Konflikte mit den Industriellen, mit der Bourgeoisie, mit der Staatsanwaltschaft statt, in denen die Initiative manchmal von den Arbeitern, manchmal von ihren Gegnern ergriffen wird.
Soweit diese Konflikte die Lebensinteressen der gesamten Arbeiterklasse oder ihrer Mehrheit oder eines ihrer Teile berühren, empfinden die Arbeitermassen das Bedürfnis der Einheit der Aktionen, sei es die Einheit in der Abwehr des Angriffs des Kapitals, sei es die Einheit im Angriff gegen dieses. Die Partei, die sich mechanisch diesem Bedürfnis der Arbeiterklasse nach Einheit der Aktionen entgegenstellt, wird unvermeidlich von den Arbeitern verurteilt.
Die Frage der Einheitsfront ist also ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach keine Frage der gegenseitigen Beziehungen zwischen sozialistischen und kommunistischen Parlamentsfraktionen, zwischen den Zentralkomitees dieser Parteien. Das Problem der Einheitsfront entspringt der Notwendigkeit, trotz der in der gegenwärtigen Epoche unvermeidlichen Spaltung der sich auf die Arbeiterklasse stützenden politischen Organisationen der Arbeiterschaft die Möglichkeit der Einheitsfront im Kampfe gegen das Kapital zu geben.
Für diejenigen, die diese Aufgabe nicht verstehen, ist die Partei eine propagandistische Gesellschaft und nicht eine Organisation der Massenaktionen.
Wo die Kommunistische Partei vorläufig noch die Organisation einer zahlenmäßig unbedeutenden Minderheit ist, kann die Frage ihres Verhaltens in der Massenkampffront von keiner entscheidenden praktischen organisatorischen Bedeutung sein. In diesen Fällen werden die Massenorganisationen von alten Organisationen geleitet, die dank ihrer immer noch mächtigen Traditionen die entscheidende Rolle spielen.
Auch in den Ländern, wo die Kommunistische Partei schon zu einer großen politisch organisierten, aber noch immer nicht entscheidenden Kraft geworden ist, wo sie, sagen wir, 1/4 bzw. 1/3 usw. Der organisierte proletarischen Avantgarde organisiert hat, wird das Problem der Einheitsfront in seiner ganzen Bedeutsamkeit auftauchen.
Wenn die Partei ein Drittel oder die Hälfte der proletarischen Avantgarde umfasst, so bedeutet dies, dass die andere Hälfte oder die anderen zwei Drittel von den Reformisten bzw. von den Zentristen organisiert sind. Es ist aber vollkommen klar, dass auch diejenigen Arbeiter, die noch die Reformisten und die Zentristen unterstützen, an den besseren materiellen Existenzbedingungen und an der größeren Kampffreiheit interessiert sind. Es ist infolgedessen notwendig, eine solche Taktik auszubauen, dass die Kommunistische Partei, die morgen alle drei Drittel der Arbeiterklasse verkörpern wird, nicht das organisatorische Hindernis im Laufe der Kämpfe des Proletariats ist bzw. es zu sein scheint.
Mehr als dies, sie muss selbst die Initiative zur Herstellung der Einheit in diesen laufenden Kämpfen ergreifen. Nur auf diese Weise wird sie sich den zwei Dritteln annähern, die ihr vorläufig noch nicht folgen, da sie sie nicht verstehen und kein Vertrauen zu ihr haben. Nur auf diese Weise wird sie diese erobern.
Ohne den radikalen und endgültigen Bruch mit den Sozialdemokraten wäre die Kommunistische Partei niemals die Partei der proletarischen Revolution geworden. Sie wäre nicht imstande, den ersten ernsten Schritt auf dem Wege zur Revolution zu tun. Sie wäre stets das parlamentarische Schutzventil des bürgerlichen Staates geblieben.
Wer dies nicht begreift, der kennt nicht den ersten Buchstaben des kommunistischen Alphabets.
Hätte die Kommunistische Partei den organisatorischen Weg nicht gesucht, der die Möglichkeit gibt, in jedem gegebenen Augenblick die gemeinsamen Aktionen der kommunistischen und der nicht kommunistischen (darunter auch der sozialdemokratischen) Massen vorzunehmen, so würde sie dadurch ihre Unfähigkeit zeigen, die Mehrheit der Arbeiterklasse auf dem Wege der Massenaktion zu erobern. Sie wäre zu einer kommunistischen Propagandagesellschaft entartet; sie hätte sich nicht zu der auf die Machteroberung ausgehenden Partei entwickelt.
Es genügt nicht, ein Schwert zu erringen; man muss es schleifen. Es genügt nicht, es geschliffen zu haben; man muss es handhaben können.
Es genügt nicht, die Kommunisten, nachdem man sie von den Reformisten getrennt hat, durch die organisatorische Disziplin zu verbinden. Es ist notwendig, dass diese Organisation alle Kollektivaktionen des Proletariats auf allen Gebieten seines Lebenskampfes zu leiten versteht.
Das ist der zweite Buchstabe des Kommunistischen Alphabets.
Gilt die Einheitsfront nur für die Arbeitermassen oder auch für die opportunistischen Führer?
Diese Art der Stellung der Frage entspringt einem Missverständnis.
Selbstverständlich wäre es am besten, wenn wir einfach die Arbeitermassen um unsere Fahne oder um unsere praktischen Tageslosungen ohne die reformistischen politischen bzw. Gewerkschaftlichen Organisationen versammeln könnten. In diesem Falle würde aber das Problem der Einheitsfront in seiner gegenwärtigen Gestalt überhaupt nicht bestehen.
Das Problem entsteht eben dadurch, dass bestimmte, sehr bedeutende Teile der Arbeiterklasse den reformistischen Organisationen angehören oder sie unterstützen. Ihre bisherige Erfahrung reicht noch nicht zum Austritt aus den reformistischen Organisationen und zum Anschluss an unsere aus. Eventuell werden sich die Verhältnisse in dieser Beziehung gerade nach den jetzt auf der Tagesordnung stehenden Massenaktionen bedeutend nähern. Dies wird von uns angestrebt. Aber wir sind heute noch nicht so weit. Gegenwärtig zerfällt der organisierte Teil der Arbeiterklasse in drei Gruppen.
Die erste, die kommunistische, strebt die soziale Revolution an. Eben deshalb unterstützt sie jede Bewegung, sei es auch bloß eine Teilbewegung, der Werktätigen, gegen die Ausbeuter und gegen den bürgerlichen Staat.
Die zweite, die reformistische, strebt die Versöhnung mit der Bourgeoisie an. Um den Einfluss auf die Arbeiter nicht zu verlieren, ist sie aber gezwungen, die Teilaktionen der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter entgegen den wirklichen Wünschen der Führer dieser Gruppe zu unterstützen. Der dritte Teil, der zentristische, schwankt ununterbrochen zwischen den zwei ersten und hat keine selbständige Bedeutung.
Die Verhältnisse machen auf diese Weise die gemeinsamen Aktionen der in diesen drei Arten von Organisationen vereinigten Arbeiter und der von diesen Organisationen beeinflussten unorganisierten Massen in einer Reihe von Lebensfragen möglich.
Wie gesagt, müssen die Kommunisten nicht nur diesen gemeinsamen Aktionen gegenüber sich nicht entgegenstellen, sondern die Initiative übernehmen und zwar aus folgendem Grunde: Je größere Massen in die Bewegung hineingezogen sind, desto höher steigen deren Selbstgefühl und Selbstvertrauen, desto entschlossener sind sie bereit, nach vorne zu gehen, mögen die Anfangs-Kampflosungen noch so bescheiden sein. Dies bedeutet, dass das Steigen des Massencharakters der Bewegung diese revolutioniert und auf diese Weise die günstigeren Bedingungen für die Losungen und Kampfesmethoden und die leitende Rolle überhaupt der Kommunistischen Partei schafft.
Die Reformisten fürchten den potenziellen Revolutionarismus der Massenbewegungen. Parlamentstribüne, Trade Union Councils, Schlichtungsausschüsse, das Vorzimmer des Ministers sind ihre Lieblingsarenen.
Wir dagegen sind, von allem anderen abgesehen, daran interessiert, die Reformisten aus ihren Schlupfwinkeln herauszuziehen und sie neben uns vor die kämpfenden Massen zu stellen. Im Falle der richtigen Taktik können wir daraus nur profitieren. Der Kommunist, der daran zweifelt, oder Furcht hat vor einem solchen Vorgehen, ist dem Schwimmer ähnlich, der die Thesen über die beste Schwimmart gebilligt hat, der aber trotzdem nicht wagt, ins Wasser zu springen.
Die Einheitsfront setzt also unsere Bereitschaft voraus, in bestimmten Fragen bis zu einer bestimmten Grenze unsere Aktionen praktisch mit der Stellung der reformistischen Organisationen, soweit diese heute noch den Willen von bedeutenden Teilen des kämpfenden Proletariats ausdrücken, in Einklang zu bringen.
Haben wir uns nicht von denen getrennt? Ja, weil wir mit ihnen in den Grundfragen der Arbeiterbewegung nicht einverstanden sind.
Suchen wir trotzdem eine Verständigung mit ihnen? Ja, in allen Fällen, wo die ihnen folgenden Arbeitermassen mit den uns folgenden gemeinsam zu kämpfen bereit sind, und wo sie, die Reformisten, das Organ dieses Kampfes zu werden mehr oder weniger gezwungen sind.
Werden sie nicht sagen, dass wir, obgleich wir uns von ihnen getrennt haben, sie trotzdem benötigen? Ja, ihre Schwätzer werden dies sagen. Manche in unseren eigenen Reihen werden sich davor fürchten. Was aber die breiten Arbeitermassen betrifft – sogar die Massen, die uns noch nicht folgen, die unsere Ziele noch nicht verstehen, die aber zwei oder drei gleichzeitig daneben existierende Arbeiterorganisationen sehen -, so werden sie auf der Grundlage unseres Verhaltens die Schlussfolgerung ziehen, dass wir trotz der Spaltung aufs eifrigste bemüht sind, die Einheitsfront herzustellen.
Die auf die Sicherung der Einheitsfront gerichtete Politik gewährt selbstverständlich nicht die Garantien der wirklichen Einheitsfront in allen Fällen. Im Gegenteil: in vielen, sogar in der Mehrzahl der Fälle, wird die organisatorische Verständigung nur zum Teil oder gar nicht erreicht werden. Aber es ist notwendig, dass die kämpfenden Massen immer die Möglichkeit haben, sich zu überzeugen, dass das Nichterreichen der Einheit der Aktionen nicht durch unsere formelle Unversöhnlichkeit, sondern durch den mangelnden Willen der Reformisten, wirklich zu kämpfen, hervorgerufen wurde.
Indem wir mit den anderen Organisationen Abkommen schließen, legen wir uns selbstverständlich eine gewisse Disziplin in der Aktion auf. Aber diese Disziplin kann nicht absolut sein. In Fällen, wo die Reformisten den Kampf zum klaren Schaden der Bewegung entgegen den Verhältnissen und der Stimmung der Massen zu hemmen beginnen, haben wir als unabhängige Organisation stets das Recht, den Kampf bis zum Ende auch ohne unsere provisorischen Halbverbündeten zu führen.
Daraus kann eine neue Verschärfung des Kampfes zwischen uns und den Reformisten entspringen. Sie wird aber nicht die bloße Wiederholung derselben Idee in einem geschlossenen Kreise, sondern im Falle der Richtigkeit unserer Taktik die Erweiterung unseres Einflusses auf neue Proletarierschichten bedeuten.
Nur ein Journalist, der sich einbildet, dass er sich vom Reformismus entfernt, indem er ihn stets mit denselben Ausdrucken, ohne sein Redaktionszimmer zu verlassen, kritisiert, der einen Zusammenstoß mit den Reformisten im Angesicht der Arbeitermassen fürchtet, der fürchtet, dass die Arbeitermassen die Möglichkeit bekommen, den Kommunisten und Reformisten unter verschiedenen Bedingungen des Massenkampfes zu vergleichen, nur ein solcher Journalist kann in dieser Politik eine Annäherung an die Reformisten sehen. Unter dieser angeblich revolutionären Furcht vor der „Annäherung“ versteckt sich in Wirklichkeit die politische Passivität. Die Passivität wünscht sich die Aufrechterhaltung des Zustandes, bei dem die Reformisten und die Kommunisten ihre streng von einander abgegrenzten Wirkungskreise, ihre Versammlungsbesuche, ihre Presse haben.
Wir haben mit den Reformisten, mit den Zentristen gebrochen, um die unbeschränkte Möglichkeit der Kritik des Verrates, des Renegatentums, der Unentschlossenheit und der Halbheit in der Arbeiterbewegung zu bekommen. Aus diesem Grunde sind für uns alle organisatorischen Abkommen, die unsere Freiheit der Kritik und der Agitation schmälern, vollkommen unannehmbar. Wir nehmen an der Einheitsfront teil; nicht auf einen Augenblick lösen wir aber uns in dieser auf. Wir wirken in dieser als eine selbstständige Abteilung. Eben im Kampfe sollen sich die breiten Massen tatsächlich überzeugen, dass wir besser als andere kämpfen; sie sollen einsehen, dass wir klarer, kühner und entschlossener als andere sind. Auf diese Weise beschleunigen wir das Zustandekommen der revolutionären Einheitsfront unter einer unbestrittenen kommunistischen Leitung.
[Süddeutsche Arbeiterzeitung, Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands, Bezirk Württemberg, 15. + 16. März 1922]