Lenin und die Zeitung (I): Die Phase der Iskra

16.08.2016, Lesezeit 7 Min.
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In Wladimir Lenins Vision sollte die Presse als Werkzeug der Organisierung eine wichtige Rolle für die Formierung der revolutionären Arbeiter*innenpartei spielen. In diesem Artikel analysieren wir die Gründung und Folgen der Zeitung Iskra, mit deren Hilfe sich die russische Sozialdemokratie im frühen 20. Jahrhundert organisierte.

Lenin und die Zeitung (I): Die Phase der Iskra
Lenin und die Zeitung (II): Die Prawda – Eine Zeitung zum Aufbau der Partei

Eine hervorstechende Qualität Lenins war sein scharfer Verstand in der Interpretation von internationalen politischen und ökonomischen Situationen, verbunden mit der Entwicklung eines Plans für die revolutionäre Aktion. Im Dezember 1900, im Alter von 30 Jahren, gründete Lenin Iskra, eines der wichtigsten Projekte seines politischen Lebens. Iskra legte die Grundlage einer zentralisierten Organisation des russischen Marxismus, welcher bis dahin in kleine isolierte Gruppen über Russland und das europäische Exil fragmentiert war.

Die erste Ausgabe von Iskra (dt.: Der Funke) wurde im Dezember 1900 veröffentlicht. Sein Motto war „aus dem Funken wird die Flamme schlagen!“ Iskra half, eine neue Generation von Kadern aus Arbeiter*innen und Intellektuellen zu organisieren und auszubilden, die später die Avantgarde der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) bilden sollten. Die ursprüngliche Redaktionsleitung der Iskra bestand aus sechs Mitgliedern: Wladimir Lenin, Georgi Plechanow, Pawel Axelrod, Wera Sassulitsch, Alexander Potresow und Julius Martow. Praktisch war Lenin der Chefredakteur der Zeitung. Er arbeitet unermüdlich, schrieb Briefe an Redakteure, kritisierte und schlug Ideen für neue Artikel vor.

In seinem Buch „Was tun?“ (1902) fasste Lenin die ersten zwei Jahre der Arbeit mit der Iskra zusammen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts begannen viele Arbeiter*innen, marxistische Ideen aufzunehmen und die russische Arbeiter*innenbewegung kam in Fahrt. Doch Lenin analysierte, dass, trotz der Existenz der SDAPR seit 1898, Massenverhaftungen, Deportationen und Spionage der zaristischen Autokratie die lokalen Zellen, die in der Hitze der Auseinandersetzungen entstanden waren, rasch zerfielen. Diese Aktionen untergruben die Anstrengungen der Schaffung einer zentralisierten Führung der revolutionären Bewegung. Das hatte zur Folge, dass die Iskra in Europa veröffentlicht und von da aus nach Russland verbreitet werden musste.

Der Kampf der Iskra gegen Ökonomismus

Unter der Leitung von Lenin war die Iskra Kern des politischen Kampfes gegen die ökonomistische Opposition in der russischen Sozialdemokratie, die „Legalist*innen“ genannt. Die Ökonomist*innen verteidigten Streiks für ökonomische Verbesserungen, aber waren nicht bereit zum theoretischen und ideologischen Kampf. Die ökonomistische Opposition kämpfte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in der russischen Sozialdemokratie dafür, das Programm der SDAPR mit seiner Forderung nach Abschaffung des Staats zu revidieren und auf bloße gewerkschaftliche Forderungen zu verkürzen. Des Weiteren stand die ökonomistische Opposition der Bewegung der Iskra kritisch gegenüber und behauptete, sie organisiere sich außerhalb traditioneller linker Sektoren und interveniere autonom, außerhalb der Partei. Darauf antwortete Lenin: „Wenn nicht starke politische Organisationen an den einzelnen Orten herangebildet werden, dann wird auch die beste gesamtrussische Zeitung ohne Belang sein.“

Lenin verteidigte seine Vision der Iskra: „Um die revolutionärste Klasse im heutigen Russland zu sein, muss sich das Proletariat in einer solchen Partei organisieren. Dann kann es seine historischen Aufgaben erfüllen: unter seinem proletarischen Banner alle demokratischen Teile des Landes zu einen, diesen Kampf anzuführen, der von so vielen geopferten Generationen vorangetrieben wurde, und schließlich das verhasste Regime zu stürzen.“ Die Ökonomist*innen trennten den gewerkschaftlichen Kampf der Arbeiter*innenklasse vom politischen Kampf, welcher von Intellektuellen geführt wurde. Lenin aber sah die Iskra als revolutionäre politische Zeitung, die für Arbeiter*innen herausgegeben wurde und das Ziel hatte, die gesamte Bewegung zu vereinen und das theoretische Level der Avantgarde zu erhöhen (1).

Revolutionäre Medien spielen eine andere Rolle als bürgerliche. Sie sind die brauchbarsten Werkzeuge in der Beeinflussung von Ereignissen und der Organisierung der kämpfenden revolutionären Basis einer Arbeiter*innenpartei.

Lenins politische Unnachgiebigkeit sollte ihn nicht davon abhalten, mit den großen Anführer*innen der internationalen Sozialdemokratie zu diskutieren. Lenin lud unter anderem Rosa Luxemburg und Karl Kautsky ein, für die Iskra zu schreiben, trotz der politischen Differenzen – und feuerte so Diskussion und kritischen Geist an. Dies war in seiner Vorstellung von Journalismus zentral und widerlegt die geschichtlich verzerrte Darstellung von Lenin als “autoritären Anführer”.

Medien als „Grundgerüst“

Während die Iskra weiterhin als revolutionäre Zeitung veröffentlicht wurde und so die russische Sozialdemokratie stützte, redigierten die Anführer*innen der russischen Sozialdemokratie die Iskra im Ausland, ein umfassendes Netzwerk aus lokalen Reporter*innen bildete das Rückgrat der Zeitung. Die Iskra hatte Vertreter*innen in Berlin, Paris, der Schweiz und Belgien, die Mittel zur Finanzierung der Herausgabe sammelten – wahrhaftiger Internationalismus in der Praxis.

Diese Struktur gab der Iskra Lebenskraft. Für Lenin konnten diese Netzwerke „mit einem Gerüst verglichen werden, das um ein im Bau befindliches Gebäude errichtet wird; es zeigt die Umrisse des Gebäudes an, erleichtert den Verkehr zwischen den einzelnen Bauarbeitern, hilft ihnen, die Arbeit zu verteilen und die durch die organisierte Arbeit erzielten gemeinsamen Resultate zu überblicken.“ In diesem Gerüst konnte die Iskra die verstreuten Gruppen und ihre Auseinandersetzungen vereinen, indem sie die internationale Mobilmachung gegen Hunger und Ausbeutung in den organisierten Klassenkampf übersetzte. Dieser organisierte Kampf drückte sich am besten in dem Motto „Eine Zeitung der Agitation für ganz Russland“ aus, welches den Kampf gegen den Zar vereinen sollte.

Zeitung und Partei

Die Erfahrung der Iskra legte den Grundstein für die Parteizeitung, die Lenin sich vorstellte und deren Idee er in diesem Auszug von “Womit beginnen?” herausarbeitete:

“Die Rolle der Zeitung beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Verbreitung von Ideen, nicht allein auf die politische Erziehung und die Gewinnung politischer Bundesgenossen. Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator.”

In Einklang mit der Strategie der Zeitung als ein Mittel der Organisierung passte Lenin seine Vorstellung einer revolutionären Zeitung neuen Gegebenheiten an und gründete 1912 die Prawda (dt.: Wahrheit), als der Kampf der Arbeiter*innen begann, sich auszuweiten. Die Prawda war die Zeitung der revolutionären Partei, die im Oktober 1917 die Staatsmacht gewinnen sollte. Die politische Organisierung der Arbeiter*innenklasse sollte für revolutionäre Marxist*innen heute höchste Priorität besitzen. Als Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS), Schwesterorganisation von RIO, nehmen wir uns vor, mit der Online- und Printausgabe von La Izquierda Diario dazu beizutragen. Im nächsten Artikel werden wir die Gründung und Auswirkungen der Prawda untersuchen.

Fußnote
(1) Der politische Kampf innerhalb der Iskra ermöglichte den Ausdruck von Tendenzen, welche sich in der Spaltung des Zweiten Kongresses der SDAPR, der Juli bis August 1903 stattfand, konkretisierten. Die Bolschewiki argumentierten, dass jedes Mitglied an einer der Instanzen der Organisation beteiligt sein muss (über Militanz sollte Lenin in der Zeit der Prawda interessanterweise andere Vorstellungen haben). Die Menschewiki vertraten eine nachlässigere Meinung und näherten sich letztendlich den Positionen der liberalen Bourgeoisie an. Die neue Redaktion bestand aus drei Mitgliedern: Plechanow, Lenin und Martow. Als Plechanow sich den Menschewiki annäherte, während Martow bereits Anführer dieser späteren Fraktion war, entschied sich Lenin, in der Unterzahl, im November 1903, die Redaktion zu verlassen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Spanisch in La Izquierda Diario.

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