Lehrkräftemangel durch gute Arbeitsbedingungen bekämpfen

06.02.2023, Lesezeit 9 Min.
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Foto: Maxi Schulz / Klasse Gegen Klasse

Größere Klassen und ein späterer Rentenbeginn: Diese unsozialen Vorschläge sollen dem Lehrkräftemangel entgegenwirken. Was brauchen wir wirklich?

Während die Lehrer:innen in Berlin sich auf die nächsten Streiktage für kleinere Klassen und einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz vorbereiten, schlägt das Beratungsgremium der Kultusministerkonferenz (KMK), die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK), vor, die Schulklassen noch stärker zu vergrößern, um das Problem des Fachkräftemangels anzugehen. In der KMK kommen die Minister:innen der deutschen Bundesländer zusammen, die für Bildung, Forschung und Kultur zuständig sind. In der SWK sitzen Bildungsforscher:innen, die den Minister:innen beratend zur Seite stehen sollen.

Die SWK will den Fachkräftemangel auf Kosten der Beschäftigten lösen

Man bekommt den Eindruck, dass diese Berater:innen noch nie eine Schule von innen gesehen haben. Klassengrößen von 30 und mehr Schüler:innen führen dazu, dass viele nicht die Förderung erhalten, die sie benötigen. Wie sollen die Lehrer:innen, die zumeist alleine im Unterricht sind, die Stärken und Schwächen aller Mitglieder ihrer Schulklasse herausfinden, geschweige denn sie individuell mit den Schüler:innen bearbeiten? Je weniger die Schüler:innen im Unterricht lernen, desto mehr Unterstützung brauchen sie nach Schulschluss, um den Unterrichtsstoff zu verstehen. Eltern haben oftmals nach Feierabend nicht genug Zeit und Kraft, die Schulaufgaben, die in den höheren Klassen sehr schwer sein können, gemeinsam mit ihren Kindern zu bearbeiten und mit ihnen für Tests und Klausuren zu lernen. Viele können nicht ausreichend Deutsch dafür. Andere haben kein Geld, um Nachhilfelehrer:innen zu zahlen. Horte, sowie einige Kinder- und Jugendclubs bieten Hausaufgabenbetreuung an, doch auch dort fehlt es an Personal.

Der Lehrkräftemangel, sowie die unter anderem dadurch entstehende starke Belastung der Lehrer:innen, ist ein Problem, das vielen bekannt sein dürfte. Bundesweit werden laut des Bildungsforschers Klaus Klemm bis 2030/31 circa 80.000 Lehrer:innen fehlen. Allein in Berlin müssten pro Jahr 3.000 Lehrer:innen eingestellt werden, um den Bedarf zu decken (vgl. SenBJF 2022). An den Berliner Universitäten beendeten jedoch im Jahr 2022 nur knapp unter 1.000 Personen ihr Lehramtsstudium (vgl. SenWiss 2022).

Auch die Möglichkeit, in Teilzeit zu arbeiten, will die SWK einschränken. In einigen Jahren soll es dann möglich sein, weniger zu arbeiten, für das gleiche Gehalt, um die Freizeit “nachzuholen”. Das Modell würde all jenen nichts bringen, die nicht Vollzeit arbeiten wollen oder können, und nun für ein paar Jahre keine andere Wahl hätten. So stellt es Eltern mit kleinen Kindern oder Menschen, die Angehörige pflegen, vor große Hürden.
Ein weiterer Vorschlag der SWK ist, für Lehrkräfte, die sich in der Rente befinden, Anreize zu schaffen, aus dem Ruhestand zurückzukehren. Während in Frankreich gerade große Streiks und Proteste gegen die Erhöhung des Mindestrentenalters von 62 auf 64 Jahren stattfinden, liegt das deutsche Renteneintrittsalter bei 67 Jahren. Als wäre das nicht genug, sollen die Lehrer:innen nun also noch länger arbeiten.Sind um die 40 Jahre Arbeit denn nicht genug?
Hans-Peter Meidinger, Präsident des deutschen Lehrerverbandes, findet deutliche Worte für diese zynischen Ideen: „Wer Teilzeit und Altersermäßigungen einschränken oder abschaffen will, treibt noch mehr Lehrkräfte in die Frühpensionierung und den Burnout“.

Gegen Stress und Überlastung sollen die Pädagog:innen häufigere Supervisionen zur Verfügung gestellt bekommen, sowie Achtsamkeitstrainings. Explizit soll dies auch den zusätzlichen Stress ausgleichen, der durch die neuen Maßnahmen entstehen würde. Supervisionen sind wichtig, um gemeinsam im Team fachlich zu reflektieren und zu diskutieren, doch können sie kein Allheilmittel sein. Probleme wie mangelnde Freizeit, ständige Überstunden, marode Schulgebäude können auch die beste Supervision nicht lösen. Es ist furchtbar zynisch, dass die Berater:innen der Kultusministerkonferenz anerkennen, dass ihre Vorschläge zu einer Verschlechterung der Lebens- und Gesundheitssituationen der Lehrer:innen beitragen würden und sie gleichzeitig das Problem abgeben und individualisieren wollen, indem jede:r gut auf sich achten und self care betreiben soll.

Die Landesregierungen müssen die Vorschläge der GEW umsetzen

Auch die GEW steht den Vorschlägen ablehnend gegenüber. In ihrem Programm “15 Punkte gegen den Lehrkräftemangel” stellt die GEW vor, wie der Lehrkräftemangel so zu bekämpft werden kann, dass es nicht auf dem Rücken der Beschäftigten, der Schüler:innen und Familien geschieht. Sie fordern zum Beispiel geringere Arbeitszeiten, kleinere Klassen, mehr Stellen für Erzieher:innen, Schulsozialarbeiter:innen  und -psycholog:innen. Zudem hätten die Lehrkräfte durch ein niedrigeres Arbeitspensum mehr Zeit, sich zu erholen. Die Sozialarbeiter:innen und Erzieher:innen können die Schüler:innen durch Begleitung des Unterrichts unterstützen und so die Lehrer:innen entlasten. Auch die Erhöhung der Studienplätze für das Lehramt, die leichtere Anerkennung ausländischer Abschlüsse (dies fordert auch die SWK) und die Erhöhung des Gehalts von Lehrkräften und Referendar:innen sind darin festgehalten.

Die Forderungen der GEW fallen zumeist auf taube Ohren. Denn für die Umsetzung müssten die Landesregierungen mehr Geld in die Hand nehmen. In Berlin hatte der rot-rot-grüne Senat zunächst angekündigt, 1 Milliarde Euro in eine dringend benötigte Schulbau- und -sanierungsoffensive zu stecken. Im November kam jedoch heraus, dass der Etat auf 300 Millionen Euro herunter gekürzt wurde.

Gute Bildung braucht gute Arbeitsbedingungen

Zudem muss das Lehramtsstudium so gestaltet werden, dass die Pädagog:innen auf den herausfordernden Berufsalltag vorbereitet sind. Oft kommen die methodisch-didaktischen Aspekte im Studium zu kurz. Es ist logisch, dass die überlasteten Lehrkräfte zudem oft keine ausreichenden Kapazitäten haben, die Studierenden, die Praktika an ihren Schulen absolvieren, ausreichend anzuleiten und zu fördern – sie bekommen dafür nicht einmal so genannte Abminderungsstunden.
Das Lehramtsstudium muss deshalb so umgestellt werden, dass ein viel höherer Praxisanteil in ihm enthalten ist und die Studierenden sich am Ende ihres Studiums sicher fühlen, Unterricht abzuhalten und gut darin sind, ihren Schüler:innen die Lerninhalte zu vermitteln. Zugleich darf das aber nicht heißen, dass die Studierenden während ihrer Praxisphase als kostengünstige Ersatz-Lehrkraft eingesetzt werden. Die Rahmenbedingungen müssen so gestaltet sein, dass ausreichend Ressourcen dafür da sind, die werdenden Lehrer:innen anzuleiten und zu fördern, ohne sie dabei zu überfordern. Das heißt: Die Lehrkräfte müssen die dafür aufzuwendende Zeit bezahlt bekommen. Zudem müssen auch die Praktikant:innen selbst entlohnt werden. Zusätzlich zu einem Vollzeit-Praktikum arbeiten zu gehen, ist schlichtweg unzumutbar.

Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein wichtiger Aspekt. Wenn es flächendeckend kostenfreie Schulkindergärten gäbe, müssten Eltern sich weder schon vor der Geburt ihres Kindes um einen Kitaplatz bemühen noch tagtäglich später kommen und/oder früher gehen. Die Öffnungszeiten wären an den konkreten Arbeitsalltag angepasst.
Auch muss den Schulen neben der rechtzeitigen Behebung von baulichen Mängeln und Schäden mehr Geld für Personal und Materialien zur Verfügung gestellt werden. Sei es für Technik, Einzelunterricht, Bücher, neue Möbel, oder Spielzeuge. Wenn die Lernumgebung anregend gestaltet ist und der Putz nicht von den Wänden fällt, fällt es leichter, Spaß am Lernen und am Lehren zu haben.

Lehrer:innen brauchen ebenso mehr Zeit für die Unterrichtsvorbereitung, damit die Qualität des Unterrichts zunehmen kann und die Schüler:innen besser lernen. Das ist möglich: Vollzeitlehrkräfte in Frankreich unterrichten etwa die Hälfte der Stunden wie hierzulande.

Um diese Forderungen durchzusetzen, braucht es Streiks, wie aktuell in Berlin. Aber die GEW und ver.di müssen gemeinsam alle anderen Mitarbeiter:innen der Schulen zum Solidaritätsstreik aufrufen, das heißt: Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen, Erzieher:innen, Psycholog:innen, Hausmeister:innen, Kantinenmitarbeiter:innen, Lernbegleitungen, und viele mehr. Denn durch die Zusammenführung der Streiks würden die Schulen, zumindest für eine kurze Zeit, schließen müssen, was einen stärkeren Druck auf die Politik und die Wirtschaft ausüben würde. Außerdem müssen die Beschäftigten in Streikversammlungen selbst darüber entscheiden, wann, wie lange, wofür und wie sie streiken wollen. Da der Berliner Senat nicht über ihre Forderungen nach einem Tarifvertrag Gesundheitsschutz verhandeln möchte, hat die junge GEW Berlin einen Antrag an den Landesvorstand der GEW gestellt, diesen mit einem Erzwingungsstreik zu erkämpfen.

Auch im Hinblick auf die Neuwahlen in Berlin müssen wir uns fragen, ob wir wirklich einer Regierung unsere Stimme schenken wollen, die den Ausbau der Polizei und damit einhergehender rassistischer Kontrollen über die Bildung und die Verbesserung der Zustände an den Schulen priorisiert.
Kommt mit uns am 7. Februar um 10 Uhr zum Dorothea-Schlegel-Platz, um an der Streikdemonstration der GEW Berlin für kleinere Klassen und mehr Personal teilzunehmen!

Quellen

  • Senatsverwaltung für Bildung und Jugend (2022): Entwicklung der Schülerzahlen sowie mittelfristige Lehrkräftebedarfsplanung. URL: https://www.parlament-berlin.de/adosservice/19/Haupt/vorgang/h19-0353-v.pdf (letzter Aufruf: 06.02.2023, 18:23).
  • Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung (2022): Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Franziska Brychcy und Tobias Schulze (LINKE) zum Thema: Aktuelle Entwicklung der Bachelorstudierenden mit Lehramtsoption und absolvent*innen an den Berliner Universitäten bis Wintersemester 2022/23 (Schriftliche Anfrage Nr. 19/13534).

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