Land der permanenten Krise
// Kämpfe innerhalb der herrschenden Klasse erschüttern gerade die Türkei //
Am 17. Dezember durchsuchten PolizistInnen in Istanbul viele Büros und Wohnungen und nahmen Verdächtige fest. Routine in einem Land mit zehntausenden politischen Gefangenen, möchte man denken. Diesmal aber waren die Verdächtigen nicht oppositionelle Jugendliche oder kurdische AktivistInnen, sondern enge Vertraute der Regierung und die Söhne von drei Ministern – und der Vorwurf lautete Korruption. Bald musste Ministerpräsident Erdoğan zehn Minister auswechseln. In dieser Zeit wurden auch mit Waffen beladene LKWs des türkischen Geheimdienstes auf dem Weg nach Syrien von der Gendarmerie und Polizei gestoppt und kontrolliert – ein offener Angriff auf die aggressive Außenpolitik der Erdoğan-Regierung. Solche Vorfälle geschehen vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung zwischen der regierenden AKP und der bürgerlich-islamischen Gülen-Bewegung.
Bilal Erdoğan, Sohn des Ministerpräsidenten, stand im Visier der Staatsanwaltschaft, die einen Haftbefehl gegen ihn erließ. Mittlerweile ist jedoch niemand mehr bereit, ihn zu verhaften: Tausende PolizistInnen wurden versetzt, StaatsanwältInnen entmachtet und auf unwichtige Posten abgestellt. Es kursieren Telefonmitschnitte von Erdoğan, in denen er wo immer möglich Medien unter Druck setzt, sich sogar bei den Überschriften der Nachrichten einmischt. Die aktuelle Krise ist ein offener Fraktionskampf innerhalb der herrschenden Klasse um die Macht im Staatswesen. Während die bisherigen Kämpfe innerhalb der türkischen Bourgeoisie vor allem zwischen dem alten, kemalistischen und dem „neuen“, religiösen Flügel ausgetragen wurden, sind sie nun auch innerhalb des letzteren offen ausgebrochen. Damit ist die politische Krise in der Türkei auf eine neue Stufe getreten.
Der türkische Bonapartismus
Der türkische Alltag in den 1990er Jahren wurde von einem BürgerInnenkrieg gegen das kurdische Volk dominiert. Die ganze Wirtschaft war dementsprechend vom Staats- und Militärapparat dominiert. Die schwache türkische Wirtschaft geriet im Jahr 2001 in eine historische Krise, und infolgedessen kam die damals neu gegründete neoliberal-islamische AKP an die Regierung. Sie bekam die Unterstützung breiter Teile der Bourgeoisie und drängte den Militärapparat mit einem Privatisierungsprogramm aus der Wirtschaft heraus. Dies war auch der Beginn einer neuen Etappe des türkischen Kolonialismus in Kurdistan: das Ende des militärisch dominierten Kolonialismus und stattdessen die Optimierung der Interessen der türkischen Bourgeoisie im Einvernehmen mit der kurdischen Bourgeoisie. Das bedeutete auch, dass Geschäfte im Nordirak (Südkurdistan) mit der dortigen kurdischen Bourgeoisie ohne Störungen durch Konflikte innerhalb des türkischen Staates vonstatten gehen konnten.
Während des arabischen Frühlings wurde die Regierung der AKP als Modell für die Regierungen der arabischen Welt präsentiert. Sie war in der Lage, die noch verstaatlichten Teile der Wirtschaft zu privatisieren, während die Massen, gerade die unorganisierten Teile der ArbeiterInnenklasse, mit islamischer Ideologie paralysiert wurden. Hinter dem erfolgreichen Schein war das Scheitern dieses Modells jedoch vorprogrammiert. Denn die durch Auslandsschulden und Privatisierung belebte Wirtschaft war nicht für das Ziel der Bourgeoisie gewappnet, als Regionalmacht zu fungieren. Gleichzeitig versagten die Muslimbrüder in Ägypten, die eine ideologische Verwandtschaft zur AKP pflegen, bei der Zähmung der ägyptischen Situation, und die von der Türkei unterstützten Gruppen im syrischen BürgerInnenkrieg kamen nicht voran. Das Scheitern in der Außenpolitik verschärfte die Interessenkonflikte innerhalb der Türkei. Die Wirtschaftskrise zog das Land in die Tiefe.
Der türkische Bonapartismus, den wir aktuell vorfinden, beruht auf dem Polizeiapparat, denn die türkische Bourgeoisie steht in einem misstrauischen Verhältnis zum Militär, das von der AKP entmachtet wurde. Daher hat sie Teile des Staatsapparates, neben der Staatsanwaltschaft insbesondere die Polizei, mit weitreichenden Privilegien und praktischer Unantastbarkeit gegenüber anderen Teilen des Staates ausgestattet, insbesondere der Justiz (ohne dass die Polizei dadurch selbst an der Spitze eines Bonapartismus sitzen würde). Die AKP forciert die Alleinherrschaft der Sektoren der Bourgeoisie, auf die sie sich stützt, und beseitigt andere Sektoren aus der Machtsphäre, wie durch die Schließung der Gülen-Schulen.
Staatsfeind Nr. 1: Die Gülen-Bewegung
Ein Teil der anatolischen Bourgeoisie, insbesondere das Kleinbürgertum, organisiert sich in islamischen Sekten. Ihre internationalen Vereinigungen bieten ihnen dabei einen Rahmen zur Optimierung ihrer Geschäfte. Besonders die Gülen-Bewegung unter dem in den USA lebendem Prediger Fethullah Gülen schaffte es, unter anderem durch den Aufbau von Schulen in der Türkei und dem Ausland, größere Teile des kleinbürgerlichen Handelssektors um sich zu scharen. Sie unterhält in über 140 Ländern circa 500 private Grundschulen und Gymnasien sowie sechs Universitäten, außerdem viele Sprachschulen. Darüber hinaus organisiert sich die Gülen-Bewegung durch Einnistung im Staatswesen, besonders in der Polizei und der Justiz. Politisch ist sie sehr pragmatisch und unterstützte in ihrer Geschichte auch sozialdemokratische Parteien. Gülen vertritt auch eine andere Außenpolitik als Erdoğan, vor allem orientiert er sich stark an den USA und Israel, anstatt eine waghalsige und aggressive Außenpolitik zu fahren.
Der Niedergang von Erdoğans Macht begann, als er den Bonapartismus massiv vorantreiben wollte: Er wollte beispielsweise grundlegende demokratische Rechte wie die Unverletzlichkeit der Wohnung nicht mehr akzeptieren und drohte, gemeinsame Wohnungen von männlichen und weiblichen Studierenden durch Polizeigewalt aufzulösen. Den Staatsapparat außer Kraft setzend, hat Erdoğan seine legislative Mehrheit zur alleinigen Kraft erklärt, da das Volk ihn gewählt habe, nicht die BeamtInnen und die Bürokratie. Damit kam die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen bürgerlichen Fraktionen unter seiner Regierung ins Schwanken. Wie ebenfalls durch die Veröffentlichung von Telefongesprächen klar wurde, kämpfen Fraktionen der Bourgeoisie und der Gülen-Bewegung um Staatsgelder und befürchten die einseitige Verteilung des Geldes durch die AKP. Diese hatte beschlossen, die Nachhilfeschulen der Gülen-Bewegung zu schließen. Somit begann der offene „Krieg“, dessen Fanal die Verhaftungswelle gegen Erdogan-treue Staatsbedienstete war, die von der Gülen-Bewegung forciert wurde.
Die Weltwirtschaftskrise
Das erste Anzeichen der jetzigen Wirtschaftskrise in der Türkei war, dass die Wachstumsrate im Jahr 2009 zusammenbrach; das BIP sank in diesem Jahr um 6%.1 Mittlerweile äußert sich die tiefgreifende Krise in starken Schwankungen der türkischen Lira. Wie andere Währungen von sogenannten „Schwellenländern“, leidet die Lira auch unter der Entscheidung der US-Notenbank Fed vom Dezember 2013, das Volumen der monatlichen Anleihenkäufe zum Jahresbeginn zu verringern, um InvestorInnen stärker in die USA zu ziehen.2 Die türkische Zentralbank musste die Leitzinssätze indes in einer Dringlichkeitssitzung im Januar von 4,5% auf 10% mehr als verdoppeln, um den Abfluss von Devisen und die Abwertung der Währung zu stoppen.3 Die Aufwertung des Dollars „geschieht in einem Kontext, in dem die Umkehr der Kapitalströme, aufgrund geringerer Finanzspritzen aus den USA, sich auch auf Länder wie die Türkei, Südafrika, Indonesien, Thailand, Chile und Peru auswirkt.“4
Die türkische Bourgeoisie will sich unter anderem mit Megabauprojekten aus der Wirtschaftskrise retten. So sollte zum Beispiel durch Istanbul ein neuer Bosporuskanal gegraben werden und dadurch ein neues Stadtviertel entstehen. Die Repression gegen die Proteste gegen den Abriss des Gezi-Parks fanden vor dem Hintergrund des Zwangs statt, in der Frage der Bauprojekte Unnachgiebigkeit zu zeigen. Deshalb konnte die Regierung auch keine Gespräche mit den AktivistInnen vom Gezi-Park führen, wohl aber den „Tabubruch“ begehen, mit der PKK in Verhandlungen zu treten. Diese Gegensätze gehören zum Charakter der Regierung Erdoğan.
Die Linke und die ArbeiterInnenklasse
Der Kampf der Taksim-Bewegung gegen den Park-Abriss endete mit der Passivität der Massen.5 Die landesweite Mobilisierung scheiterte daran, den Kampf auf die ArbeiterInnenklasse auszuweiten. Einerseits gibt es nun viele anpolitisierte Jugendliche, andererseits steht die Bewegung vor einer Niederlage, obwohl der Park vorerst erhalten wurde. Denn außerhalb des Gezi-Parks schreiten die Zerstörung der Umwelt und die Gentrifizierung ohne Pause voran.
Mit dem Rückzug der fortschrittlichen Bewegungen gewann der Kemalismus mehr Einfluss in den aktuellen Massenbewegungen. Gerade im Zuge der aktuellen Korruptionsskandale der türkischen Regierung nimmt die Linke eine ZuschauerInnenrolle ein und hofft auf die Schwächung der Regierung, anstatt aktiv zu werden. Während sich die korrupte Kaste der PolitikerInnen bereichert, muss die Mehrheit der ArbeiterInnen derweil unter schwersten Bedingungen zum Mindestlohn arbeiten. Jährlich sterben in der Türkei circa 1.000 ArbeiterInnen durch Arbeitsunfälle, weil nicht genug Geld für Sicherheit am Arbeitsplatz ausgegeben wird.
Die Gewerkschaftsbürokratie hat keinerlei Widerstand gegen die Korruptionsfälle gezeigt. Die bürokratischen Führungen der ArbeiterInnenklasse sind nicht fähig, wirklichen Widerstand zu organisieren. Auch die kurdische Partei BDP/HDP hat eine passive Haltung eingenommen – mit dem Verweis, dass die durch die Gülen-Bewegung initiierten Verhaftungen korrupter Staatsbediensteter ein Putschversuch seien und die Verhandlungen mit den KurdInnen gefährden. Zwar lässt sie Lippenbekenntnisse gegen das korrupte Regime verlauten, nutzt aber nicht ihren Einfluss für Massenmobilisierungen gegen die Regierung.
Der aktuelle Korruptionsskandal hat offenbart, dass die Massenbewegung von reformistischen, bürokratischen und stalinistischen Führungen in die Niederlage geführt werden. Der mit der Gezi-Park-Bewegung begonnene Niedergang der AKP-Regierung kommt nun in eine neue, heiße Phase und kann nicht aufgehalten werden; lediglich die Frage bleibt offen, wie schnell dieser Niedergang voranschreiten wird und welche Fraktionen aus dieser Krise gestärkt hervorgehen werden. Die einzige fortschrittliche Antwort in dieser Situation ist das Weitertragen und die politische Ausweitung von ArbeiterInnenkämpfen wie von Kazova, Greif und Yatagan, die bereits eine militante Form des Widerstands angenommen und teilweise Fabrikbesetzungen durchgeführt haben. Die Organisierung einer revolutionären Strömung unter ArbeiterInnen und Jugendlichen sowie einer anti-bürokratischen Strömung innerhalb der Gewerkschaften bleiben die dringendsten Aufgaben einer revolutionären Organisation in der Türkei und in Nordkurdistan.
Fußnoten
1. Deutsch-Türkische Industrie- und Handelskammer: Wirtschaftsbericht Türkei 2009.
2. Stern.de: Türkische Zentralbank erhöht zentrale Zinssätze.
3. Onur Ant: Sondersitzung – türkische Notenbank erhöht Leitzinsen drastisch.
4. Esteban Mercatante: Un giro improvisado: devaluación, inflación y „cepo” al salario. (Eigene Übersetzung.)
5. Suphi Toprak: Taksim: Wie weiter mit dem Widerstand? In: Klasse Gegen Klasse Nr. 7.