Lampedusa-Krise: Nieder mit der Festung Europa! Öffnung der Grenzen und Papiere für alle!

20.09.2023, Lesezeit 10 Min.
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Lampedusa, 16. September 2023. Quelle: Alessio Tricani / Shutterstock.com

Sofortige Legalisierung, Papiere für alle! Der Weg aus der humanitären Krise führt über den Kampf gegen den Imperialismus! Schluss mit der imperialistischen Ausplünderung! Erklärung der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale.

Die zunehmende Ankunft von Migrant:innen auf der Insel Lampedusa vor der Südspitze Italiens hat nicht nur eine humanitäre Krise ausgelöst, sondern auch eine politische Krise für die italienische Regierung und die EU. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, reagierte am Sonntag mit einem 10-Punkte-Plan. Doch die EU-Maßnahmen zielen nur darauf ab, die anhaltende Krise einzudämmen, ohne die imperialistische und rassistische Politik der Festung Europa auch nur im Geringsten anzutasten. Es ist diese Politik, die Tausende von Menschen dazu bringt, ihr Leben zu riskieren, um Kriegen, Klimakrisen und Hungersnöten in Afrika und anderswo zu entkommen. Wenn sie in Europa ankommen, werden sie mit polizeilicher Repression, Riesen-Geflüchtetenlagern in Griechenland, Käfigen in Bulgarien, Expressabschiebungen an der italienischen oder spanischen Grenze und schwimmenden Gefängnissen wie im Vereinigten Königreich empfangen. Ein ummauertes Europa, das den Migranten die grundlegendsten Rechte verweigert.

Die Lampedusa-Krise und die rassistische Politik der EU

In der vergangenen Woche kam es zu einer massiven Ankunft von Migrant:innen von der afrikanischen Küste zur Insel Lampedusa vor der Südspitze Italiens. Zuerst gingen innerhalb von 24 Stunden 6.000 Menschen an Land, und in den folgenden Tagen kamen insgesamt 11.000 Migrant:innen an. Dies führte zu einer schweren sozialen Krise auf der Insel, wo Tausende von Menschen auf dem Boden schlafen mussten, ohne sauberes Wasser zu trinken oder zu essen.

Die Bilder aus Lampedusa zeigen die soziale Barbarei, die der Kapitalismus hervorbringt, den Rassismus und die Grausamkeit, auf denen die Grenzen des Europas des Kapitals beruhen.

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex berichtet, dass die Anzahl irregulärer Migrant:innen im Jahr 2023 im Vergleich zu 2022 um 18 Prozent gestiegen ist und 232.350 Personen umfasste: der höchste Stand seit 2016. Obwohl diese Zahl noch weit von 2015 entfernt ist, als die größte Migrationskrise seit dem Zweiten Weltkrieg auftrat, stellt sie einen sehr deutlichen Anstieg dar. Der Hauptherkunftsort dieser Migrationsströme ist Nordafrika. Von dort aus versuchen Tausende von Menschen, über das Mittelmeer an die europäischen Küsten zu gelangen. Die Zahl der Ankünfte über die „italienische“ Route hat sich seit dem letzten Jahr verdoppelt.

Angesichts der Lampedusa-Krise konzentrieren sich die europäischen Regierungen darauf, den Zustrom von Migrant:innen zu verlangsamen oder zu stoppen, wobei die extreme Rechte apokalyptische Reden hält, als ob der Kontinent „überfallen“ würde. Im Großen und Ganzen handelt es sich um heuchlerische und reaktionäre Diskurse, die Migrant:innen zur Zielscheibe rassistischer Angriffe machen. Die anhaltende Migrationskrise hat auch die Spannungen zwischen den imperialistischen Staaten verschärft, da keiner von ihnen die Verantwortung dafür übernehmen will, Tausenden von Menschen Zuflucht zu gewähren.

Das Erstarken rechtsextremer Strömungen in mehreren Ländern (an der Regierung in Italien, in Ungarn und Polen, zur Unterstützung von Koalitionsregierungen in Finnland und Schweden oder als führende Oppositionskraft in Deutschland, Frankreich und anderen Ländern) hat den Druck zur Verschärfung der Migrationspolitik erhöht. Aber auch „progressive“ Regierungen verteidigen diese Politik der Fremdenfeindlichkeit und Repression, wie Pedro Sanchez von der spanischen Regierung zeigte, als er seine „Harmonie“ mit Giorgia Meloni in Bezug auf die Frage der Migration zum Ausdruck brachte.

Erst im Juni einigten sich die europäischen Regierungen auf eine neue Migrationspolitik. Mit dem „Pakt über Migration und Asyl“ können die zentralen Länder bis zu 30.000 Migrant:innen in andere Länder überführen, die als „Transitländer“ gelten, wie zum Beispiel Tunesien. Diejenigen, die vor Elend und Krieg fliehen, werden von den imperialistischen Ländern als bloße Pakete betrachtet. Das Abkommen enthält 105 Millionen Euro zur Finanzierung von Seeoperationen und zur Verstärkung der Grenzen. Außerdem waren 600 Millionen Euro für Investitionen in Tunesien vorgesehen. Die tunesische Regierung wurde von Menschenrechtsorganisationen wegen ihrer repressiven und brutalen Behandlung von Migrant:innen angeprangert. Kurz nach der Unterzeichnung des Pakts mit der EU ließ die tunesische Regierung Hunderte von Migrant:innen zum Sterben in der Wüste zurück. Dies ist nur die Spitze des Eisbergs der brutalen und fremdenfeindlichen Politik dieser Regierung gegenüber Migrant:innen. Es handelt sich um eine „Externalisierung“ von Grenzgewalt, die die EU an autoritäre Regierungen wie Tunesien, die mörderische Monarchie Marokkos oder den autoritären Erdogan in der Türkei übergibt.

Eine Krise der italienischen Regierung… die eine noch härtere Hand fordert

Am Sonntag forderte Giorgia Meloni die EU auf, die Umsetzung des Abkommens mit Tunesien zu beschleunigen. Die italienische Ministerpräsidentin fordert, dass Migrant:innen an der Ausreise von den afrikanischen Küsten gehindert werden, indem die dortigen Repressionsmechanismen verstärkt werden. Sie forderte „eine Seestreitkraft, wenn nötig im Einvernehmen mit den nordafrikanischen Behörden“, um „die Abfahrt der Schiffe zu stoppen, um in Afrika zu überprüfen, wer asylberechtigt ist und wer nicht, und um in Europa nur diejenigen aufzunehmen, die wirklich ein Recht darauf haben“. Gleichzeitig rechtfertigte sie die Entscheidung, die auf der bevorstehenden Sitzung des italienischen Ministerrats ratifiziert werden soll, die Dauer des „Gewahrsams“ (d.h. der verschiedenen Formen der Haft) von irregulären Migrant:innen zu Rückführungszwecken auf die nach europäischem Recht zulässige Höchstdauer von 18 Monaten zu erhöhen, indem in jeder italienischen Region ein „Rückführungszentrum“ eröffnet wird. Meloni steht unter dem Druck ihrer eigenen Regierungspartner:innen, angefangen bei der Lega von Salvini, die anprangern, dass keines von Melonis Wahlversprechen erfüllt worden sei.

Macrons französische Regierung hat ihrerseits eine fremdenfeindliche und rassistische Agenda, die Marine Le Pens extreme Rechte vor Neid erblassen lassen würde. Zu Beginn des Schuljahres hat sie eine islamfeindliche Kampagne gegen junge Mädchen gestartet, die die Abaya tragen, während sie ein Anti-Migrations-Gesetz vorbereitet, das die Unterdrückung von Arbeiter:innen ohne Papiere verschärfen wird. Das ist eine eindeutige Antwort auf die Mobilisierungen der letzten Monate gegen die Rentenreform und die Polizeigewalt, mit der versucht wird, die Massensektoren, die gemeinsam gekämpft haben, zu spalten. Angesichts der Situation auf Lampedusa hat der französische Innenminister Gerald Darmanin seine Haltung unter dem Druck der Rechten und der extremen Rechten, vor denen er nicht „lasch“ erscheinen will, angepasst. Nachdem er gesagt hatte, dass Frankreich Italien bei der Migrationskrise „helfen“ werde, hat seine Regierung klargestellt, dass sie keine Migrant:innen aus Lampedusa aufnehmen werde, und auf der Notwendigkeit einer „entschlossenen“ Antwort bestanden. „Es wäre eine Fehleinschätzung, wenn man davon ausginge, dass die Migrant:innen, sobald sie in Europa ankommen, sofort auf ganz Europa und Frankreich verteilt werden sollten“, sagte Darmanin. „Was wir unseren italienischen Freund:innen sagen wollen, die, wie ich glaube, vollkommen mit uns übereinstimmen, ist, dass wir die Außengrenzen der Europäischen Union schützen müssen“, betonte er.

Die EU-Regierungen versuchen, Geflüchtete in solche, die „aus politischen Gründen verfolgt“ werden, und solche, die nicht als asylberechtigt anerkannt werden, zu unterteilen. Der französische Innenminister sagte, dass 60 Prozent der ankommenden Migrant:innen kein Recht auf Asyl hätten und aus Ländern wie „Elfenbeinküste, Guinea, Gambia“ kämen, in denen es „keine humanitären Probleme“ gebe. Unter ihnen will die Europäische Union eine Auslese der Migrant:innen nach den Bedürfnissen der Bosse vornehmen, um sicherzustellen, dass die Arbeiter:innen in den härtesten und prekärsten Sektoren der Arbeitswelt ausgebeutet werden können.

Imperialistischer Zynismus in seiner höchsten Form. Viele dieser Länder sind ehemalige französische Kolonien und unterliegen auch heute noch der imperialistischen Ausplünderung ihrer Ressourcen und Gemeingüter, der Ausbeutung ihrer Bevölkerung als billige Arbeitskräfte und der chronischen Verarmung. Die Ausbreitung schrecklicher wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen, das weit verbreitete Elend und die Arbeitslosigkeit, die Korruption der pro-westlichen Regime in Afrika, ihre autoritäre Politik und die Entwicklung der globalen Klimakatastrophe sind alles Phänomene, die mit dem Erbe der imperialistischen Ausplünderung in der Region zusammenhängen. Daher ist jede Unterscheidung zwischen „legitimen“ und „illegitimen“ Migrant:innen nichtig.

Deshalb sagen wir: Öffnet die Grenzen! Legalisierung und Papiere für alle! Schluss mit der imperialistischen Ausplünderung! Europäischer Imperialismus raus aus Afrika!

Für die Einheit der Arbeiter:innenklasse mit den vom Imperialismus unterdrückten Völkern, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit

Angesichts der sich verschärfenden reaktionären, rassistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen bieten die „progressiven“ Regierungen keine Alternative. Von der rechten Meloni bis zum „progressiven“ Sanchez, Macron oder der deutschen Ampelregierung – sie alle verteidigen die schlimmste Gewalt gegen Migrant:innen, während sie ihre Militärbudgets erhöht haben und sich an der Kriegsoffensive der NATO im Krieg in der Ukraine beteiligen.

Gegen ihre Barbarei ist es notwendig, die Solidarität zwischen den Völkern zu verteidigen. Die Arbeiter:innenklasse in Europa setzt sich aus Millionen von Menschen zusammen, die in verschiedenen Generationen aus Afrika, Asien und Lateinamerika stammen. Migrant:innen besetzen nach wie vor die prekärsten und am schlechtesten bezahlten Arbeitsplätze und sind die ersten, die in Krisenzeiten entlassen werden. Die polizeiliche und rassistische Kontrolle der Grenzen ermöglicht es den Kapitalist:innen, über eine industrielle Reservearmee zu verfügen und die Arbeitsbedingungen der gesamten Arbeiter:innenklasse zu verschlechtern. Deshalb muss der Kampf gegen Rassismus und für offene Grenzen von den Gewerkschaften und allen sozialen Bewegungen aufgenommen werden. Wir müssen dafür kämpfen, dass sie zu Mobilisierungen und Streiks aufrufen.

Wir, die Unterzeichner:innen dieser Erklärung, sozialistische und revolutionäre Organisationen aus dem Spanischen Staat, Frankreich, Deutschland und Italien, lehnen die repressive und rassistische Politik der EU gegenüber Migrant:innen ab. Gegen den Plan von Von der Leyen, Meloni, Macron, Sanchez und Scholz ist es notwendig, einen anderen Plan entgegenzustellen. Ein Kampfplan gegen eine Politik, die die Kosten der Krise auf die Arbeiter:innenklasse, die Migrant:innen und die Jugend abwälzt, einschließlich Streiks und Mobilisierungen der großen Gewerkschaften und sozialen Organisationen. Das Eintreten für die Rechte der Migrant:innen und ihre Freiheit, die Grenzen Europas zu überqueren, kollidiert mit den Interessen der Imperialist:innen. Deshalb brauchen wir eine internationalistische und antiimperialistische Politik.

In diesem Sinne fordern wir:

  • Nein zum Von der Leyen-Plan: Öffnet die Grenzen Europas für alle Migrant:innen, ohne Unterschied!
  • Volle Freizügigkeit für Migrant:innen! Schließt alle Haftanstalten für Migrant:innen, keine weiteren Abkommen mit Regimen, die Migrant:innen einsperren!
  • Legalisierung und Papiere für alle! Volle staatsbürgerliche und politische Rechte für die in Europa lebenden Menschen!
  • Schluss mit der imperialistischen Ausplünderung! Europäischer Imperialismus raus aus Afrika! Erlass der Auslandsschulden für Europas ehemalige Kolonien! Entschädigungslose Verstaatlichung der europäischen multinationalen Konzerne im Ausland unter Kontrolle der Arbeiter:innen und der armen Massen!

Révolution Permanente (Frankreich),
Corriente Revolucionaria de Trabajadores y Trabajadoras – CRT (Spanien),
Revolutionäre Internationalistische Organisation – RIO (Deutschland),
Frazione Internazionalista Rivoluzionaria – FIR (Italien)

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