Kuriere im Fokus der Polizei
Während sich der Kündigungsskandal beim Lieferdienst Gorillas ausweitet, beobachtet das LKA jetzt die Proteste.
Die Entlassungswelle bei Gorillas hat sich im Laufe der vergangenen Woche weiter ausgeweitet. Mit der Begründung, „wilde“ Streiks seien illegal, hatte der Lebensmittellieferdienst letzten Dienstag mit einer Kündigungswelle begonnen. Laut Informationen von Verdi und dem „Gorillas Workers Collective“ seien 350 Angestellte in neun Warenhäusern von den Entlassungen betroffen. Weit mehr, als sich in den Tagen zuvor an Streiks beteiligt hatten. Am Donnerstag wurde bekannt, dass sich unter den Entlassenen nicht nur eine Person befand, die zur Wahl eines Betriebsrates aufgerufen hatte, sondern auch ein Mitglied des Wahlvorstandes. Diese haben gemäß Paragraph 15 Kündigungsschutzgesetz einen weitgehenden Schutz vor Entlassungen. Das entlassene Mitglied des Wahlausschusses berichtete gegenüber jW, dass es dem Gorillas-Vertreter am Telefon mitgeteilt hätte, Mitglied des Wahlausschusses zu sein. Ihm wurde geantwortet, dass man das wisse, er aber trotzdem entlassen sei. Das Unternehmen wollte sich nicht zu den Vorwürfen äußern.
Indes haben sich mehrere gefeuerte Lieferkurier:innen gefunden, die auch juristisch gegen die Kündigungen vorgehen werden. Für Duygu Kaya, eine der betroffenen Fahrer:innen, geht dieser Kampf weit über Gorillas hinaus: „Auch wenn wir fünf Jahre kämpfen und bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen müssen. Jetzt geht es nicht nur um pünktliche Lohnzahlungen und grundlegenden Arbeitsschutz. Wir kämpfen gegen das postfaschistische Streikrecht in Deutschland“, erklärt sie im Gespräch mit jW. Im Widerspruch zur europäischen Sozialcharta und allen anderen EU-Ländern gelten politische Streiks und verbandsfreie Arbeitsniederlegungen wie bei Gorillas als verboten. Die erste öffentliche Aktion gegen die Entlassungen fand vergangenen Mittwoch vor dem Berliner Firmensitz von Gorillas in der Schönhauser Allee statt. Und die weckte nicht nur die Aufmerksamkeit von Faschist:innen wie dem Fotografen und ehemaligen NPD-Kandidaten Stefan Böhlke. Die Proteste wurden auch von zwei in Zivil gekleideten Beamt:innen observiert.
Einer der beiden Zivilenbeamt:innen ist häufig auf antifaschistischen Demonstrationen und Protesten gegen Zwangsräumungsversuche zu sehen. Eine Antifaaktivistin erklärte gegenüber jW, dass die Polizist:innen „szenekundige Beamte“ des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) des Landeskriminalamts (LKA) seien. Das MEK ist ein Spezialkommando der Polizei, welches nach dem Münchner Olympiaattentat von 1972 geschaffen wurde. Zu ihren Kernaufgaben gehört die verdeckte Ermittlung im Bereich der organisierten Kriminalität und des Terrorismus. Was haben sie auf einem Streik von prekär Beschäftigten verloren? Auf Nachfrage der jW bestätigte Polizeisprecher Michael Gassen, dass vergangenen Mittwoch „szenekundige Beamte des Landeskriminalamtes“ bei der Protestaktion im Einsatz waren. Er stellt den Einsatz in den Kontext mit den am selben Tag durchgeführten „Durchsuchungsmaßnahmen im amtlich bekannten Objekt der linksextremistischen Szene in der Rigaer Straße 94“. Daraufhin hätte es linke Aufrufe zur Unterstützung der Gorillas-Beschäftigten gegeben, und die LKA-Beamt:innen hätten „ein Erscheinen linksextremistischer Personen verifizieren“ wollen.
Dies war aber nicht das erste Mal, dass die streikenden Gorillas-Fahrer:innen Ziel von Observierungsmaßnahmen wurden. Bereits am ersten Streiktag in diesem Sommer, am 9. Juni, observierten verdeckte Ermittler:innen den Protest am Lager „Checkpoint Charlie“. Der Verdi-Sekretär der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion (DJU), Jörg Reichel, identifizierte diese damals als Angehörige des Staatsschutzes des LKA und klagte auf Twitter die Observierung eines Streikes durch die Behörde an. Vergangenen Mittwoch beobachteten die MEK-Beamt:innen jedoch nicht nur die Proteste gegen die Massenentlassungen bei Gorillas: Einer der „szenekundigen Beamten“ gegen links führte am Rande der Kundgebung ein ausführliches Gespräch mit dem ehemaligen NPD-Kandidaten Böhlke.
Dieser Artikel erschien zuerst am 12. Oktober 2021 auf jungewelt.de