Kurdischer Widerstand gegen die Besatzung

26.12.2015, Lesezeit 9 Min.
1

Die Situation in Nordkurdistan eskaliert immer weiter: Die kurdischen Städte sind militärisch belagert. Der türkische Staat mordet, um die Kontrolle zu erlangen. Die kurdischen Jugendlichen leisten dagegen heroischen Widerstand. Was sind die Perspektiven des aktuellen Widerstands in Nordkurdistan?

„Die PKK wird Viertel um Viertel, Haus um Haus, Straße um Straße bekämpft und gesäubert“, sagt der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Eine offene Kriegserklärung.

In Farqîn, Girge Amo, Nisebîn, Cizîre, Sûr und Kerboran kämpft die kurdische Jugend seit Monaten militant gegen die militärische Offensive. Mit Panzern, Kampfhubschraubern und 10.000 Sondereinheiten von Soldaten und Polizei greift der türkische Staat das kurdische Volk brutal an. Seit dem 7. Juli 2015 – dem Wahltag, an dem Erdogans AKP vorerst keine Regierung bilden konnte – wurde in 18 Städten und Kreisen 54 Mal und 175 Tage lang der Ausnahmezustand ausgerufen. In den von dem Krieg am meisten betroffenen Gebieten wurden neben der Strom- und Wasserversorgung auch die Telefon- und Internetleitungen unterbrochen. Der türkische Staat terrorisiert gezielt kurdische Zivilist*innen, um die Unterstützung für die kurdische Bewegung zu schwächen. So wurden viele Häuser gewaltsam geräumt. Auch die öffentlichen Institutionen werden zerbombt. Des Weiteren wurden vom türkischen Staat ungefähr 3000 Lehrer*innen zurückgezogen, die Schulen geschlossen. Die türkischen Sondereinheiten nutzen die Schulen als Militärstellungen. Scharfschützen haben sich auf Dächern verschanzt. Menschen wird befohlen, die Region schnellstmöglich zu verlassen. Deshalb befinden sich zehntausende auf der Flucht. Hunderte Menschen, darunter auch Zivilist*innen, wurden in den letzten Monaten ermordet, die Zahl steigt.

Der hochrangige PKK-Anführer Murat Karayilan bezeichnet den jetzigen Zustand als einen Bürger*innenkrieg.

Die kurdische Frage in einer neuen Etappe

Erdogans Reaktion auf den Aufschwung der kurdischen Bewegung – besonders im türkischen Parlament und in Kobane – war eine aggressive nationalistische Militarisierung. Der Bombenanschlag in Suruç war der Wendepunkt in dieser Hinsicht. In vielen kurdischen Städten formierte sich dagegen Widerstand.

So rief Komalên Ciwan, der Jugendverband der PKK, am 27. Juni 2015 zum Aufstand (Serhildan) auf. Der Dachverband der kurdischen Bewegung, Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), erklärte am 12. August 2015, das Volk aus Kurdistan habe keine andere Wahl als Selbstverwaltung – unabhängig von den Institutionen des türkischen Staats. Die Demokratische Partei der Regionen (DBP), größte Strömung innerhalb der Demokratischen Partei der Völker (HDP), proklamierte in mehreren kurdischen Städten Selbstverwaltungen. Alle Staatsfunktionär*innen hätten dadurch ihre Legitimation verloren.

„Ab jetzt werden wir uns am Prinzip der Selbstverwaltung orientieren und unser Leben auf demokratischer Grundlage aufbauen. Bei Angriffen werden wir von unserem demokratischen Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machen.“

Die „Volksparlamente“ in der kurdischen Region seien die eigentlichen Verwaltungsorgane. Die Antwort der türkischen Regierung auf diese Proklamationen war die Verhaftung dutzender kurdische Lokalpolitiker*innen, darunter auch einiger Bürgermeister*innen.

Der militärische Angriffskurs des türkischen Staates gegen die kurdische Bewegung basierte in den 90ern darauf, die Dörfer in Brand zu setzen und sie zu entvölkern. Damit zielte er darauf ab, der PKK die materielle und politische Unterstützung zu entziehen. Nun überträgt er den Kurs auf die kurdischen Städte. Doch dem türkischen Staat ist es aufgrund des heroischen Widerstands der kurdischen Jugend bis heute nicht gelungen, in diversen Städten die endgültige Kontrolle zu erlangen. So übernahm die Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (YDGH), die beim Widerstand an vorderster Front kämpft, in diesem Prozess die Kontrolle über mehrere Stadtgebiete. Sie baut Gräben und Barrikaden auf, um in den städtischen Ortschaften unabhängig der türkischen Polizei, Sondereinheiten oder Staatsfunktionär*innen befreite Zonen zu erkämpfen. Die Gräben dienen als Selbstverteidigungstaktik zu Befestigung der proklamierten Selbstverwaltung.

Insofern unterscheidet sich dieser Widerstand von den bisherigen Versuchen eines militärischen Aufstands der PKK in der Türkei dadurch, dass zeitgleich Selbstverwaltungsorgane installiert werden sollen.

Die HDP in der Sackgasse

Die neue Etappe in der kurdischen Frage definiert sich durch den Bankrott der Vorstellung, der türkische kapitalistische Besatzungsstaat sei mittels Verhandlungen zu demokratisieren. Die militärische Belagerung der kurdischen Städte zeigt heute in schärfster Form den Widerspruch darin.

Der Krieg in Nordkurdistan überfordert vor allem die HDP, die einem parlamentarischen Reformismus folgt. Sie befindet sich in der Sackgasse, weil das Programm der HDP auf der Versöhnung zwischen Unterdrückenden und Unterdrückten basiert. Aufgrund ihrer strategischen Orientierung findet sie momentan keine Unterstützung bei den kämpfenden Jugendlichen. Sie hat heute keine Antwort auf die Militarisierung und Besatzung.

Die bürgerlichen Teile der HDP haben sich deutlich von dem Bau von Barrikaden distanziert, während der linksreformistische Flügel den Widerstand im Dienste der Wiederbelebung der Verhandlungen zu nutzen versucht. So sagte der Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas:

„Es geht um gesellschaftliche Forderungen des Volkes, die nicht akzeptiert werden. Das was ihr heute verächtlich „Gräben und Barrikaden“ nennt, stellt eigentlich den Widerstand gegen einen Putsch dar. Wenn sich der Staat heute von seiner Sicherheits-Politik verabschieden würde, wäre die Gesellschaft sofort zu einer Friedens-Politik bereit.“

Unter den Bedingungen des türkischen Staatsterrors dient diese Vorstellung nur zum Erwürgen des Widerstands der Kurd*innen. Da die HDP das Parlament als „Selbstzweck“ betrachtet, den kapitalistischen Staat „humanitär“ zu demokratisieren versucht, bedeuten diese Manöver und Zick-Zack-Kurse nichts anderes als die Distanzierung von den Forderungen der kämpfenden Massen.

Die Selbstverwaltungen in Kurdistan

Besonders die Erfolge in Rojava ermutigen die kurdische Bewegung, in Nordkurdistan dasselbe Modell zu etablieren. Im Laufe des Bürger*innenkriegs in Syrien hatten die Kurd*innen Selbstverwaltungs- und Selbstverteidigungsstrukturen etabliert, ohne sich vom syrischen Staat abtrennen zu beabsichtigen. Welche Rolle kommt aber der Selbstverwaltung in Nordkurdistan zu?

Die Vorstellung von einer Selbstverwaltung war auch in den zehn Punkten enthalten, über welche mit dem türkischen Staat verhandelt wurde. Der “10-Punkte-Plan” enthält im Wesentlichen die staatliche Anerkennung der kurdischen Nation und Sprache. Eine Generalamnestie, um die legale politische Beteiligung der kurdischen Kampfer*innen zu ermöglichen. Die gesetzliche Umwandlung des zentralisierten Nationalstaates durch Autonomien und demokratische Rechte für Minderheiten und Frauen. Recht auf Bildung in der Muttersprache. Eine neue demokratische Verfassung, um diese Forderungen gesetzlich zu sichern.

Die “Selbstverwaltung” in Kurdistan soll nach der “Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung” erreicht werden, welche ein fester Bestandteil der imperialistischen Demokratie ist. Besonders die kurdische Bewegung schürt Illussionen darin, die EU hätte eine demokratische Mission in der Türkei. Um die Ironie mit einigen Beispielen konkret zu zeigen: Die PKK steht momentan auf der Terrorliste der EU. Der türkische Staat, der heute Kurd*innen brutal ermordet, hat vor kurzem mit der EU paktiert, um die Menschen auf der Flucht von der Reise in die EU-Länder abzuhalten. Dafür wird die Türkei finanziell und militärisch (Waffenexporte) belohnt. Daher kommt das Budget des Kriegs in Nordkurdistan!

Die Selbstverwaltungsorgane, die den kapitalistischen Staat nicht in Frage stellen, bieten keine Lösung für die Besatzung. Demgegenüber müssen die Selbstverwaltungen unter Ausnahmezustand zunächst mit einem sozialen Programm etabliert und in den anderen Teilen Kurdistans und der Türkei ausdehnt werden. Der Widerstand kann sich nur dann behaupten, wenn soziale Fragen thematisiert werden, um die Unterstützung der Arbeiter*innen in der Türkei zu gewinnen. Forderungen wie kostenloses Wasser, kostenloser Nahverkehr, Landreformen unter Kontrolle der Bäuer*innen, staatlicher Wohnungsbau unter Arbeiter*innenkontrolle, Stopp der Privatisierungen, Wiederverstaatlichung der privatisierten Betriebe unter Arbeiter*innenkontrolle, das Ende der Straffreiheit für Militär und Polizei, Rückzug der türkischen Armee und Polizei aus Nordkurdistan – all diese Forderungen könnten den Selbstverwaltungsorganen viel Kraft verleihen. Mit einer solchen Politik kann der Widerstand in Kurdistan Millionen Arbeiter*innen und Arme in der Türkei von der eigenen Politik überzeugen und auf die eigene Seite ziehen.

Anti-Kriegs-Bewegung in der Türkei etablieren

In den türkischen Städten ist heute die Gründung einer Anti-Kriegs-Bewegung eine dringende Aufgabe, um der Bkarbarei des Krieges ein Ende zu setzen. Die Gewerkschaften DİSK, KESK, TMMOB und TTB werden am 29. Dezember 2015 landesweit streiken. Die Losung des Streiks ist: “Wir werden gegen den Krieg den Frieden verteidigen”. Doch die bisherigen sporadischen eintägigen Streiks sind alles andere als effektiv, um Erdogan unter Druck zu setzen. Angesichts der rassistischen Stimmung, die durch die türkische Bourgeoisie geschürt wird, werden die Friedensparolen an den Polizeischutzschilden abprallen und durch die Tränengas und Bomben übertönt. Dagegen müssen die Gewerkschaften einen unbefristeten Generalstreik mit sozialen Forderungen organisieren, der den Alltag eines kapitalistischen Landes lahmlegt. Wer heute die Türkei an ihrer Kriegsführung verhindern will, muss einen antikapitalistischen Weg einschlagen und beginnen, in den eigenen kurdischen Hochburgen unverzüglich Schritte in Richtung antikapitalistischer Maßnahmen zu unternehmen.

Es gibt Millionen Menschen in der Türkei, die sich tagtäglich Sorgen machen, was sie am Abend zu Essen haben oder ob sie in diesem Monat noch die Miete zahlen können. Diese Menschen können nur überzeugt werden, wenn die Selbstverwaltungsorgane diese Sorgen überwinden. Die militärische Verteidigung gegen den türkischen Staat ist notwendig, aber dafür zu wenig. Die Parole in Richtung der Massen kann daher nur lauten:

“Wo es Selbstverwaltung gibt, gibt es Brot, Arbeit und Wohnung für alle. Um das auch in der Türkei zu erreichen, lasst uns gemeinsam kämpfen. Das ist die einzige Grundlage des Friedens.”

Die Solidarität gilt dem kurdischen Widerstand gegen die Unterdrückung des türkischen Staates.

Mehr zum Thema